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"Die Summe unseres gutmütigen und großzügigen Handelns erkennen wir also an der Anzahl der Menschen, die später mal an unserem Grab stehen und um uns weinen?!
Das ist kompletter Schwachsinn!"

Ich war nicht nur verwirrt über die Aussage dieses scheinbar ungebildeten Menschen, sondern auch frustriert darüber, dass er diese Meinung auch noch mit solchem Nachdruck unter der Menge verteilte, wie Flugblätter eines Boulevardmagazins.
Dr. Professor Sowieso hatte in einer Vorstellung seines neuen Buches, dass sich ausschließlich um die Physiologie und Psychologie des Menschen und seinen wahren Hintergründen seines Handelns bemühte, in der Innenstadt in der Bibliothek an dem größten Tisch breit gemacht.
Er hatte sich ausdrücklich einen großen Tisch gewünscht, auf dem er seine bisher erschienenen, aber unbekannt gebliebenen Werke der Literatur, ausbreiten kann, damit keinem der Besucher auch nur eine seiner fundamentalen Theorien entgehen könnte. In fast jedem seiner bisher erschienenen Schriften über die die wahren Hintergründe des menschlichen Handelns, bemühte er sich sowohl um das soziale Engament, sowie um das finanzielle Einkommen seinerseits.
Seine Bücher waren nicht nur teuer, sondern ein Zusammenwurf sämtlicher und jemals geäußerten Aussagen aller Wissenschafter, Psychologen und Märtyrer dieser Welt.
Eine wirklich eigene Aussage schien er gar nicht zu machen, mehr eine Sammlung aller Dinge, die ihm logisch und richtig vorkamen, hatte er in seinen Büchern, die wiederum im größten Teil seine und anderer Biographien enthielten, zusammengefasst und stellte uns nun alle vor. Besonders sein Neuestes,
das er schlichtweg als die "Lösung" aller Probleme empfand.
Seiten voller hohler Phrasen durchzogen in einem monotonen Heruntergerassel den Raum und sollten uns zum Nachdenken und Handeln animieren. Der kleine Saal der Bibliothek hatte sich mit allen möglichen Menschen gefüllt, die begierig auf eine Antwort auf ihr Dasein wünschten - und vor allem eines wollten: ein gut durchdachtes, verfolgbares und einsehbares Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Eine neue und bessere Welt.
Und der einzige, der entweder noch nicht durch des Literaten monotones Gerede hypnotisiert oder eingeschlafen war, war anscheinend ich.

Der Professor schien mir nach einem kurzen Blick des Studierens meiner Person - zumindest, was sich durch mein äußeres Erscheinungsbild erschließen lässt - antworten zu wollen.

"Ja, so ist es. Wieso sollte etwas so offensichtliches falsch sein? Und ich glaube nicht, dass sie sich schon Jahre damit beschäftigen, um diese Frage und vor allem meine Aussage mit solchem Spott zu begegnen."

"Ich denke doch, dass mir Meinungsfreiheit und Kritikäußerungen zustehen - vor allem brauche ich nicht studieren, um zu erkennen, was absoluter Unfug ist. Davon abgesehen ist ihre oder wessen Theorie das auch ist, einfach nur blanker Hohn. Oder glauben sie, dass jeder, der sich noch so viel Mühe gibt, aber sein Ziel nicht erreicht, weil er es sich zu hoch gesteckt hat, weniger Menschen hat, die ihn lieben? Nur weil ich versuche jemandem zu helfen, aber nicht hundert Prozent des Wunsches erfüllen kann, dass er mich weniger gern hat? Was genau definieren sie als Summe? Welches Handeln? Und was ist als richtig und falsch anzukreiden?"

Professor Sowieso entschied sich für eine kurzes Räuspern.

"Lesen sie doch meine Bücher gründlich durch. Dann dürfte ein Großteil ihrer Fragen damit beantwortet sein. Danke."

Ich hatte dem Mann nichts mehr entgegen zu setzen. Bei so viel ungestrafter Dummheit konnte ich nur noch den Heimweg antreten. Es war mir einfach nicht begreiflich, dass man von so einem Schwachsinn überzeugt sein kann.
Vielleicht steigerte ich mich da auch einfach nur zu sehr hinein. Wenn der Herr Professor nicht so aufdringlich und profitgierig wäre, könnte ich es einfach als Meinungsverschiedenheit abtun, aber so...
So ärgerte mich einfach nur, dass er sein geistiges Erbrochenes besonders blumig umschreibt, es schön vepackt und für viel Geld an Menschen verkauft, die entweder einfach nur versuchen ein anständiges Leben zu führen - mit dem Gefühl, geliebt zu werden - oder zu naiv und faul sind, selbst nachzudenken.
Beides ärgerte mich gleichermaßen.
Ich war nie ein Kind von Traurigkeit und misanthropisch veranlagt bin ich erst recht nicht.
Doch das Gefühl, jemals richtig aufgeblüht zu sein und dieses Glück an mich binden zu können, blieb mir verwehrt. Ich fühlte ständig eine Leere, die mich mehr und mehr auszufüllen schien. Das Gefühl, allein durch's Leben zu gehen, verstärkte sich und Tag für Tag und ich erhoffte mir die Freiheit und endlich den Ort und die Zeit zu finden, die mich frei von dieser Beklemmung machte.
Das bedrückende Gefühl verstärkte sich jedoch zunehmender, wenn ich unter Menschen ging. Man sollte doch annehmen, dass es sich hierbei besserte, doch selbst bei Wein und Wärme einer schönen Bar, dem gedämpften Licht und der lockeren Atmosphäre, schien ich mich unausgefüllt zu fühlen.

Es hatte geregnet und die Luft war von der Feuchtigkeit geschwängert, was das Atmen in diesem bedrückend warmen Septemberabend noch schwerer machte. Mein Heimweg führte mich über die Innenstadt, dessen Marktplatz bereits für das morgige Stadtfest vorbereitet wurde. Die Leute schienen nur allzu geschäftig; jeder schien seine Funktion zu haben und ein Glied dieser scheinbar unaufhörlichen langen Kette von Produktion und Vorbereitung zu sein.
Und doch schien es mir, wie ein einziges Wirrwar von herumwuselnden Ameisen, die ihr Nest vorbereiteten, damit sie es schön warm und kuschelig haben.
In mir stieg plötzlich ein Greuel auf, als ich die fröhlichen Gesichter herumlaufen sah, von der Vorfreude auf das kommende Fest berauscht.
Ich schien mich mehr und mehr vom Strom zu lösen und der Wein, den ich unterwegs in einer kleinen Gaststätte getrunken hatte und dessen Wirkung nun einsetzte, verstärkte das Gefühl des Abkapselns und der Einsamkeit nur noch mehr. Freunde hatte ich keine, was ich mir wohl auch selbst zuzuschreiben hatte. Ausgehen oder gar feiern gehen, kam mir noch nie in den Sinn. Ich fühlte mich unter den Mengen von endorphinberauschten Menschen und Alkohol gelähmten Verständen nicht wirklich wohl. Ich bevorzugte ein gutes Buch, einen Wein und angenehm stilvolle Musik. Obwohl ich mir sicher war, dass mich andere Menschen nicht glücklich machen könnten, glaubte ich doch, dass mir ein Partner fehlte. Ein Freund, mit dem ich einfach nur reden konnte. Einen, der nicht das dumme Geschwätz, der breiten Masse nachredet. Jemanden, der selbst zu denken im Stande ist und sich nicht auf das Wissen anderer verlässt.
Doch manchmal glaube ich, dass ich an andere zu hohe Erwartungen setze. Wie sonst könnte ich mir erklären, dass ich noch nicht einen Menschen gefunden habe, der diese Erwartungen - oder Wünsche - erfüllte? Hatte ich die falschen Anforderungen gestellt? Kommt es in Wirklichkeit gar nicht auf diese Dinge an? Oder hatte ich bereits gefunden, was ich suchte und es nur nicht gesehen?
Grübelnd ging ich die nassen Straßen heimwärts.

Ich fand den Heimweg nur all zu schnell und neben meinem Bett lag noch das Buch, dass ich in der Nacht gelesen hatte, weil ich nicht schlafen konnte. Es war ein Buch von Günter Grass, dass ich schon Jahre im Regal stehen und doch nie gelesen hatte. Es erzählt vom Untergang der Wilhelm Gustloff, einem Schiff der Kriegsmarine, beladen mit Tausenden von Flüchtlingen, aber auch 1000 U-Boot Matrosen, über 370 Marinehelferinnen und Flakgeschütze. Das Geschehen kulminiert am 30. Januar 1945.
Günter Grass bedient sich zahlreicher raffinierter Tricks um die Novelle zu dramatisieren. Ich fand es ausgesprochen interessant; obwohl ich anfangs davon ausging, über solch ein Thema, wie bei "Titanic" schon alles Mögliche gelesen zu haben, hatte mich Günter Grass vom ersten Satz an gefesselt und die Dramaturgie nur all zu gut halten können.

Ich legte es wieder ins Regal und beschloss schlafen zu gehen.
In dieser Nacht wachte ich mehrmals auf; die verwirrendsten Gedankengänge schwirrten in meinen Träumen umher, in denen ich einmal als Autor in einem Wald junge Schafe belehrte und sie dann fraß, weil sie nicht verstanden, was ich ihnen mitteilte. In einer anderen Sequenz wiederum sah ich, wie mir jemand einen Wolfspelz umlegte und mir sagte, dass ich bei diesem Spiel nicht mitspielen könne, weil ich ständig die Regeln missachte. Und als mich dann ein Marinehelfer auf die Wilhelm Gustloff führte, damit ich dort die Schreibkünste von Günter Grass anprangere, und mich in genau dem Moment meiner Ansprache ein Kind darauf ansprach, warum ich immer so traurig bin, erwachte ich.
Ich war schweißgebadet. Im Badezimmer wusch ich mir mein Gesicht und während ich im Spiegel ansah, wie mir das kalte Wasser mein Gesicht herunterlief, hatte ich das Gefühl, im Spiegel den Wolfspelz zu sehen. Es gefiel mir. Ich lehnte mich nach vorn, um näher am Spiegel zu stehen, dann öffnete ich meinen Mund und überprüfte meine Zähne. Meine Zähne waren spitz und ich freute mich über die gut erhaltenen Beißer, die ich all die Jahre so gut zu verstecken versuchte. Niemand hatte erkannt, wer oder was ich wirklich bin. Eine Art Schnellmutation ließ mich in kürze wie ein Schaf aussehen. Und je länger ich in das dumme Gesicht des Schafes blickte, desto mehr versuchte ich, es loszuwerden. Dieses einheitliche, ungebildete Schaf. Ich fühlte mich plötzlich, wie in einem Eierkasten. Niemand würde mich hier erkennen; niemand würde mich wirklich sehen

. Plötzlich stieg ein ungeheures Angstgefühl in mir auf, und ich schrie in einer seltsamen Stimme, die nicht meine war, mein Spiegelbild an.

Ich war vom Bett gefallen. Das Wasserglas war von meinem Nachttisch gefallen und ich lag nun auf meinem nassen Bettvorleger. Meine Hand führte sich wie von allein zu meinem Mund und griff nach meinen Zähnen. Sie waren nicht spitz. Alles ganz normal. Ich hatte nur geträumt. Aber das Gefühl während meines Traums, nein alles

, schien so real wie sonst das Leben auch.
Ich musste an die frische Luft. Meine Wohnung schien mich zu erdrücken, die Luft wurde knapp und Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich schnappte mir meine Jeans und mein Shirt und flüchtete hinaus.
Als ich bereits zehn Minuten gelaufen war, ohne auch nur ein Ziel zu haben, bemerkte ich erst, dass ich gar keine Schuhe trug. Die Straßen waren noch nass vom Regen und meine Füße wurden kalt, doch wirklich gespürt habe ich nur noch das freie Atmen. Ich lief bis zur Stadtgrenze, die höchtens 30 Minuten von meiner Wohnung entfernt ist und plötzlich sah ich etwas. Genau am Bahnschienenübergang, der quasi die Grenze zwischen Wald und Stadt war, bemerkte ich die Bewegung. Ich nahm sie nur aus dem Augenwinkel auf und doch schienen sich alle Antennen in meinem Körper aufzurichten und Gefahr zu signalisieren.
Ein Wolf, ein einzelner grauhaariger Wolf. Er stand genau auf den Schienen und schnupperte am Boden herum. Der Vollmond dieser Nacht verlieh seinem Fell noch diesen gewissen Touch, der mich unweigerlich frieren ließ.
Wie kommt ein Wolf hier

her?!
Ich war nicht nur überrascht; irgendwie fesselte es mich, etwas so gefährliches noch in freier "Natur", dazu noch so nahe an mir, zu sehen. Der Nachthimmel war besonders klar und keine einzige Wolke trübte den Schein des Mondes. Wie festgenagelt stand ich still und unbeweglich am Stadtrand und wartete. Auf was genau ich wartete, wusste ich selbst nicht.

Dann, ganz langsam, drehte der Wolf seinen Kopf in meine Richtung. Er schien mich direkt anzusehen, zu fixieren. Ich glaubte, dass sich jeder Tropfen Schweiß auf meiner Haut in Eis verwandelt hatte. Ich starrte das Tier einfach nur an. Irgendwie kam mir der Gedanke, dass jede Bewegung, die ich machen würde, den Wolf anlocken könnte. Ich stand sicher nicht sehr lang dort, es waren höchstens ein paar Minuten, doch ein Zeitgefühl hatte ich nicht mehr.
Sehnlichst wünschte ich mir jetzt, dass es doch einen Menschen gibt, der drei Uhr morgens hier lang muss und mich entdeckt.
Doch niemand kam.
Der Wolf fixierte mich noch immer. Ich fragte mich, was er wohl denken wird. Ob er meinen angstgetränkten Schweiß riechen könnte und nur darauf wartete, dass ich einen unbedachten Schritt mache, den er als Aufforderung deuten und mich angreifen könnte. Nichts passierte. Er sah mich einfach nur an. Plötzlich drehte sich der Wolf um. Sein Blick wurde von etwas anderem angezogen. Als ich endlich erkannte, von was, glaubte ich, dass mein Herzschlag einen Moment aussetzte.
Drei junge Wölfe, sein Nachwuchs so glaubte ich, kam trottend mit der Wölfin auf die Schienen zu.
Die Kleinen liefen auf den Wolfsvater zu, doch dieser schubste sie umgehend zurück zur Mutter. Er signalisierte der Wölfin scheinbar, dass sie nicht allein sind und ich glaubte für einen kurzen Moment, dass der Wolf in meine Richtung nickte.
Noch immer hatte ich mich keinen Zentimeter gerührt. Doch mittlerweile fühlte ich nicht mehr nur Angst. Ein anderes Gefühl hatte sich in mir angefangen auszudehnen. Es dauerte eine Weile, bis mir bewusst wurde, was ich fühlte. So schlicht es auch war, so ärgerlich war es für mich.
Ich war neidisch. Und langsam begriff ich das Gefühl, dass mich überkam, wenn ich andere Menschen sah. Es war nicht der Greuel, den ich hegte, weil andere das Spiel des Lebens so artig mitspielten. Es war nicht der Ärger, der mich von anderen fern hielt, weil ich glaubte, dass jeder nur mitläuft, weil er sich ncht abheben wollte. Nein. Ich war neidisch. Neidisch auf alle, die gefunden hatten, was sie glücklich machte und ausfüllte. Die anderen schienen nicht mehr als ihre Familie zu brauchen. Sie wollten nicht krampfhaft den "Faust" spielen, so wie ich es versuchte.
Sie hatten ihre Antwort auf die Gretchenfrage. Und ich meine nun auch.


Ich stand vor meiner Kaffeemaschine und obwohl ich die Antwort auf meine kommende Frage bereits wusste, wollte ich sie immer wieder hören.
Sie.
Ihre Stimme.

"Kaffee?"

Aus meinem Schlafzimmer summend kam sie mir entgegen, küsste meine Stirn und ließ mich euphorisch wissen, dass sie ein ganze Kanne nur für sich möchte.

Eines Abends kam sie zu mir auf unsere Couch, setzte sich neben mich und überreichte mir ein in unendlich vielen Schleifchen eingepacktes, kleines Geschenk.
Ich öffnete den Karton und sah, dass es ein Buch war. Als ich es so herausnahm und auf den Titel des Buches starrte, fragte sie mich, warum ich eigentlich ein Bild von einem Wolf an meiner Schlafzimmerwand hängen habe.
Ich antwortete nicht. Das sollte sie ein anderes Mal erfahren.
Jetzt wollte ich erst mal mein Geschenk lesen. Ihr Geschenk an mich.

"Der Steppenwolf"...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

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