Zu früh auf dem Dach
Womöglich dachte ich gerade noch über das Mittagessen aus der Kantine nach, das mein Magen mit Schwierigkeiten versuchte zu verdauen oder ich freute mich einfach nur auf eine beruhigende Nachtisch-Zigarette. Was es auch war, ich bin mir sicher, dass es nichts mit dem Mann zu tun hatte, den ich auf der rutschigen, mit Blech überzogenen Dachkante vor mir stehen sah, als ich die Tür zum Flachdach des zwölfstöckigen Bürogebäudes aufstieß. Die meisten Angestellten, auch wenn sie das Gebäude schon unzählige Male von außen gesehen hatten, schienen nicht zu wissen, dass es dieses Dach überhaupt gab, auf dem man, den damaligen Tag ausgeschlossen, immer seine Ruhe haben konnte um eine Verdauungszigarette zu genießen. Das Klicken der Türklinke schien den blassen Anzugträger auf mich aufmerksam zu machen, sodass er seinen Blick von den viel befahrenen Straßen zu seinen Füßen abwandte und sich zu mir umdrehte.
Schweiß rann ihm von der Stirn und ich konnte sehen, wie seine Poren überfordert waren, die Flüssigkeit aus seiner Haut zu pumpen. Ich allerdings ließ mir nicht anmerken, dass meine Hände zitterten. Vermutlich sah er es wegen seiner zehnfach verglasten Brille nicht, die bei uns in der Firma standardmäßig getragen wurde. Ein starker Zug ließ das Ende des Glimmstängels aufleuchten und meine Hände aufhören zu zittern.
„Zum ersten Mal hier oben?“ fragte ich während ich den Qualm in die kalte Luft atmete.
Die Menschen sagen, dass meist alle schlimmen Ereignisse im Leben auf einmal auf einen einprasseln. Wenn es hart kommt, dann könne man sich darauf gefasst machen, dass es nur noch härter wird. Dieser Aussage kann ich wohl nur zustimmen. Allerdings hat das meiner Meinung nach nichts mit Schicksal zu tun. Vielmehr zieht einer dieser Alpträume den anderen hinter sich her.
„Wollen sie mich etwa aufhalten?“ fragt er, noch ganz benommen vom Adrenalin, das durch seine Adern schießt.
Ich würde sagen, dass man in den wenigsten Fällen, in denen man versucht einen Selbstmörder von seiner Idee abzubringen, auch wirklich Erfolg hat. In Filmen kamen mir solche Szenen immer sehr gekünstelt vor, wenn wieder einer dieser Super-Kommissare durch psychologische Kniffe ein Selbstmörderleben rettet.
„Sagen sie doch verdammt nochmal etwas.“ jammert er, den Tränen nahe.
Freunde sagen, ich solle über meine Frau hinweg kommen, sie sei nicht gut genug für mich gewesen. Nachdem mich mein Betrieb zusammen mit hundert weiteren Mitarbeitern gekündigt hatte, hinterließ sie mir nur eine Nachricht auf einem Zettel. Was mir immer ein Anker im Leben zu sein schien, löste sich in ein Vakuum auf, dass mich in seinen Klauen mit nach unten zog.
Ich sage: „Es gibt doch so viel Schönes auf der Welt.“ und belächle mich noch im selben Augenblick wegen meiner Worte.
Die Zigarette in meinem Mund haltend, renne ich auf meinen neuen Freund zu und springe an ihm vorbei, über die Brüstung in Richtung der Straße. Auf dem Weg nach unten lächle ich ihm entgegen und nehme den letzten Zug meiner Zigarette.
Texte: Constantin W.
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2012
Alle Rechte vorbehalten