Rosemarie, das schöne Kind, war Jochens Lehrmädchen und unsere liebste Freundin. Sie war das schönste Mädchen, das ich je zu sehen bekommen hatte. Ihr flächiges Gesicht war ebenmäßig und von rassigem Schnitt. Der runde Kopf schön geformt. Nur ihr Kinn wollte sich nicht so recht in diese Symphonie von Schönheit einordnen. Es war zu groß, nicht gut modelliert und wirkte daher ein wenig grob. Abgesehen von diesem Schönheitsfehler entsprach auch ihre Figur den allgemein gültigen Idealen. Sie war zwar klein von Wuchs, aber feingliedrig, und ihre Beine wirkten lang und waren schlank. Alles aber was rund zu sein hatte, war vorbildlich rund an ihr, betont durch die unglaublich schmale Taille.
Unvorstellbar, dass ein Mensch - ausgestattet mit solchen Vorzügen - unzufrieden sein kann. Rosemarie aber brachte dieses Kunststück fertig. Sie haderte mit ihren siebzehn Lenzen. So lange quengelte und zupfte sie an ihnen herum, bis es ihr tatsächlich gelang, den Backfisch los zu werden und die kleine Dame zu mimen. Etwas arrogant zwar, aber daran war wohl der Mangel an Übung schuld. Immerhin war jede ihrer Bewegungen haargenau auf ihre Reize abgestimmt. Wie sonst hätte sie so schmalspurig gehen, sich zwar dezent aber zugleich kokett in den weichen Hüften wiegen können, den schönen Kopf sehr hochtragend. Zu dieser Zeit beklagte sich Jochen eines Abends bitter über sie. Zerstreut wäre sie geworden und unzuverlässig. Wenn er sie zurecht wiese, sei sie schnippisch oder weine stundenlang. Dann sei erst recht nichts mehr mit ihr anzufangen. Das Schlimmste aber sei, dass sie anfinge, seinen Herren im Büro schöne Augen zu machen. Und ausgerechnet der Älteste von ihnen scheine bereits in ihrem Netz zu zappeln. „Geradezu lächerlich wie er um sie herumgockelt“, grollte Jochen, „dabei könnte er leicht ihr Vater sein. Ich frage mich wie das weiter gehen soll.“
Ich teilte Jochens Sorgen nicht, sondern hatte ihm amüsiert zugehört: Sieh da, fängt das Persönchen jetzt an, seine Wirkung auf Männer auszuprobieren. Vielleicht ist es doch besser, wenn ich mir Rosemarie bei nächster Gelegenheit einmal vornehme, als mütterliche Freundin sozusagen.
Dazu aber kam es nicht, und so vergingen die Wochen, bis ich Rosemarie plötzlich vermisste. Gewöhnlich stellte sie sich nämlich mindestens zweimal in der Woche zum Abendessen ein. Ist sie krank? Aber das hätte Jochen mir bestimmt gesagt. Sonderbar, dass sie sich schon so lange nicht mehr blicken ließ. Unbehagen beschlich mich.
An diesem Tag kam Jochen unerwartet früh heim. Kaum dass er mich wenigstens eines Blickes würdigte, ließ er sich in einer Ecke des Sofas nieder, und zwar auf die Kante, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben.
Ich wartete zunächst ab. Im Raum machte sich Spannung breit: „Hast du Sorgen?“ fragte ich schließlich beklommen.
Keine Antwort.
„Macht Rosemarie dir Kummer?“ drängte ich in ihn.
Keine Antwort.
„Überhaupt. Wie geht es ihr eigentlich?“ begehrte ich nun misstrauisch geworden auf.
Er wehrte resigniert ab: „Die ist gereizt, weil sie fast jeden Tag Laufmaschen im Höschen hat.“
„Na hör mal“, entfuhr es mir, „wieso weißt du das?“
Er murmelte was in seine Hände. Ich war nicht gewillt, ihn und mich zu schonen: „Sag mal, du hast doch nicht etwa ...?“
Er nickte stumm. Also doch. In meinen Schläfen hämmerte es. Hatte ich doch heute Nachmittag schon so etwas geahnt.
Wut packte mich. Ich stürzte zu meinem Mantel, zerrte ihn vom Nagel und warf ihn mir hastig über die Schulter.
„Wo willst du hin?“ fragte Jochen ruhig.
„Zu Rosemarie natürlich“, fauchte ich bissig.
Er hob den Kopf und wirkte aufreizend gelassen: „Zu was?“ fragte er verwundert. „Es war ja nur zweimal. Und ich habe es überhaupt nur wegen dieses alten Dattels getan. Der ist ja schon lange verrückt nach Rosemarie, wie du weißt. Aber er hatte sich nicht getraut, als Erster. Und ich war ihm gefällig. Das ist alles.“
„Jetzt reicht’s aber“, schrie ich wütend und drehte mich auf dem Absatz um.
„Warte!“ entschlossen stand er auf, „ich komme mit.“
Rosemarie wohnte zur Untermiete. Ihre Wirtin ließ uns ein. Mein Klopfen an des Mädchens Tür blieb unbeantwortet. Ich drückte die Klinke herunter.
Das Zimmer war notdürftig von einer kleinen Lampe erleuchtet, über die ein dunkles Tuch geworfen war. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dunkel im Raum. Als erstes erkannte ich links neben der Tür ein Gitterbettchen. Neugierig ging ich auf das Kinderbett zu und entdeckte darinnen ein Baby, das - mit den Händen sich an den Stäben festhaltend - aufgeregt am Gitter hin und her tappte. Die winzigen Füßchen stampften dabei ungeduldig die Matratze. Nun hob das Baby mit sichtlicher Anstrengung den zu groß geratenen Kopf und schaute mich an.
„Rosemaries Baby!“ ich war fassungslos und starrte in das gnomenhaft anmutende Babygesicht, das gleichwohl unverkennbar Rosemaries Züge trug. Entgeistert wandte ich mich ab. Da fiel mein Blick auf einen Mann. Sein weißes Haupt hielt er tief gesenkt. Ich wusste augenblicklich wer er war, obwohl ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Jochen hockte in sich zusammengesunken an dem Gitterbettchen.
Auf einmal passierte es. Ich musste lachen, lachen, lachen und konnte nicht mehr damit aufhören.
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2009
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