Wanda im Puppenland
Längst nach Mitternacht verließen wir in aufgeräumter Stimmung die fidele Gesellschaft und nahmen noch Gäste zur weit entlegenen Autobushaltestelle mit, soviel wie eben ins Auto hinein passten. Der Lichterglanz der Stadt lag längst hinter uns, als wir an der dürftig beleuchteten Haltestelle anhielten.
Die Gäste stiegen aus und wie hypnotisiert auch ich, was aber keineswegs selbstverständlich war, wie mir bald klar wurde. Gerade rollte der Bus heran, nahm die Gäste auf und ich stand mutterselenallein da. Ohne Florian, ohne Auto, nachts am Feldrain, um mich herum fast undurchdringliche Finsternis und Totenstille, nur ein dumpfes Rauschen in meinen Ohren, das immer dröhnender wurde. Sollte ich zurück zu Fuß gehen, fragte ich mich? Zu weit. Ich hätte mich ohnehin in dieser Finsternis nicht zurecht gefunden. Orientierungslos und irritiert schaute ich mich um. Mich fröstelte. Beklommen schlug ich, um überhaupt was zu unternehmen, gleich rechts neben mir in den schmalen Feldweg ein, der mehr zu erraten als wirklich zu sehen war. Er führte schnurgerade durch Wiesen zu einem Tümpel, rabenschwarz und er schien - soweit überhaupt erkennbar - von Morast umgeben. Der Boden unter meinen Schritten gab widerlich nach. Vorsichtig wich ich zurück, bis ich wieder festen Grund gewann und wanderte um den Tümpel herum, dann immer geradeaus weiter. Einen anderen Weg gab es nicht.
Mit einem Mal tauchten aus der Dunkelheit Gestalten auf, die ich zuerst nur vage wahrnahm. Sie bewegten sich schemenhaft, gespenstisch muteten sie mich an, lautlos und wie von Geisterhand geführt. Plötzlich blitzten nicht weit entfernt Lichter auf, und ich konnte nun die wallenden und prachtvollen, farbigen Gewänder der Gestalten bestaunen, die immer noch stumm jetzt an mir vorbeischritten. Dann aber steuerte ich auf die Lichter zu und erkannte bald ein Haus, das blendend hell getüncht war. Alle Fenster waren erleuchtet. Ich ging um das langgestreckte Gebäude herum, suchte den Eingang.
Erst jetzt bemerkte ich, dass mir jemand folgte. In geziemen Abstand und gemessenen Schrittes. Ich drehte mich um und fragte beklommen:
"Verfolgen Sie mich?" und versuchte nicht ängstlich zu erscheinen.
Der Mann trat näher und blickte mich milde an. Er sah gütig aus, zeitlos wie ein Weiser. Seine beschwichtigende Stimme klang geheimnisvoll:
"Sie sind ein guter Mensch!" Ich war irritiert und zu verlegen, um etwas darauf zu erwidern. Aber beeindruckt war ich auch.
Nachdenklich ging ich um das Haus herum bis zur Eingangstür und trat zögerlich ein. Ein großer quadratischer Raum umfing mich, schmucklos und grell beleuchtet. Ich durchquerte ihn. Ein Durchgang gewährte den Zugang zu einem ebenfalls quadratischen, aber kleineren, nur dürftig beleuchteten Raum, in dem quer ein Bett stand, das als eine Art Krankenlager zu erkennen war. Auf einer grauen Matratze ruhte eine Gestalt, die mich an eine, in tonfarbenes Trikot genähte Käte-Kruse-Puppe erinnerte. Ihre Stimme klang müde, farblos.
"Schön, dass Sie gekommen sind“, sagte sie tonlos. „Vielleicht gelingt mir noch einmal eine Metamorphose. Diese aber wird dann unwiderruflich meine letzte sein." Sie versuchte auf die Beine zu kommen, ihre Gliedmaßen schlenkerten in ihrem hautknappen Trikot wie willenlos in alle möglichen Richtungen. Wer war sie nur? Sie mutete mich irgendwie vertraut an.
Noch bevor sie sich richtig aufgerappelt hatte, betrat eine Nonne den Raum und musterte mich von der Seite her schräg abschätzend von Kopf bis Fuß, wandte sich mir dann voll zu:
"Was wollen Sie hier?" fragte sie in geringschätzendem, schnippischem Tonfall.
"Ich bin Schauspielerin und mir scheint, ich habe hier eine ehemalige Kollegin getroffen", versuchte ich zu erklären.
"Sie haben hier nichts zu suchen", erwiderte sie barsch, wandte sich brüsk von mir ab und bewegte sich mehr ruckartig in Richtung Bett. Offensichtlich war auch sie der Beherrschung ihrer Gliedmaßen nicht ganz mächtig.
"Das kam mir gleich so vor, Schauspielerin!" zischelte sie spitzig. Stehenden Fußes drehte sie sich dann ungelenk um und verließ zielstrebig, wenn auch unsicheren Schritts, den Raum.
Ich beeilte mich wieder ins Freie zu gelangen, momentan selbst nicht mehr so ganz sicher auf den Beinen, warf ich keinen Blick mehr auf das undefinierbare Wesen auf der armseligen Matratze, das ich gerade noch geneigt war, für meine einstige Kollegin zu halten.
Im Morgendämmern blickte ich misstrauisch nach links und rechts, ohne ausmachen zu können, aus welcher Richtung ich überhaupt gekommen war, hoffte nur noch inständig den Weg zurück zu finden, etwa wieder an jenem Tümpel vorbei und ging schnurstracks los.
Nach einer Weile begegnete mir eine Gestalt, die ich für einen Knaben hielt, aber genau ließ sich das nicht bestimmen. Er trug lange Locken und eine mittelalterlich anmutende Kleidung, jedenfalls kam er mir ebenfalls wie nicht von dieser Welt vor.
"Kannst du mir sagen, wie ich zur Stadt komme?" fragte ich aufs Geratewohl.
"Genau entgegengesetzt. Sie müssen umkehren", klang es klar und fest, fast wie Glockengeläut. Der Knabe deutete mit einer Kopfbewegung in die umgekehrte Richtung, dann war er verschwunden, wie in Luft aufgelöst.
Mein unfreiwilliges Abenteuer kam mir wie ein übler Spuk vor. In der würzig nach Erde duftenden Morgenluft, die ich tief einatmete, gewann ich allmählich mein Selbstvertrauen zurück.
© Katja Kortin
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2009
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