Wandas Weg in das Tal des schwarzen Flusses
Zwielicht. Dämmerung. Der Abstieg wird mit jedem Schritt beschwerlicher. Die tastenden Füße gewinnen im Geröll kaum festen Stand. Dabei ist der Weg nach unten bestimmt noch weit und die Dämmerung vertieft sich. Die Versuchung, lieber doch umzukehren, wird von Augenblick zu Augenblick drängender. Aber umzukehren kommt für mich nicht in Frage; es ist nicht meine Art aufzugeben, wenn ich mir etwas vorgenommen habe. Endlich ist die Talsohle erreicht. Die ausgestandene Angst steckt mir noch in den Knien. Ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit überkommt mich. Mein Herz hämmert in die Stille. Trotz der nun fast undurchdringlichen Dunkelheit erkenne ich, das Tal ist ein enger Kessel.
Schroffe Gipfel bilden - hoch aufgereckt - einen scharf gezackten Kranz. Fremd ist mir dieses Land. Rätselhaft, wohin man von hier aus gelangt, egal welche Richtung man einschlägt. Halb betäubt von den Anstrengungen, den rasenden Pulsen, die das Blut brausend in den Kopf jagen, nehme ich vage die schwarze Silhouette eines Menschen wahr, der sich direkt auf mich zu bewegt. Ein greises, tief zerfurchtes Männerantlitz schiebt sich milchig schimmernd vor die Dunkelheit. Bevor er an mir vorübergleiten kann, frage ich:
"Wo bin ich?"
Langsam wendet der Uralte mir sein Gesicht zu. Wie aus weiter Ferne scheint seine Antwort zu kommen, aber doch durchdringend klar:
"Wenn Sie immer geradeaus gehen, sechs oder sieben Täler durchwandern, immer auf diesem Weg, es gibt nur diesen, kommen Sie in das Tal des schwarzen Flusses."
Er schaut mich aus tiefliegenden Augen unverwandt an. Sein Gesicht bleibt mir - bis ich mich zum Weitergehen anschicke - voll zugewandt. Die Finsternis empfinde ich nun nicht mehr als so finster, die Felsen als weniger schroff. Was mich bedrückte, ist durch seine Worte wie auf geheime Formel hin gebannt. Ich trete entschlossen die Wanderung an. Auf sanften Hügeln ragen hohe dunkle Büsche, schwarze Bäume, hin und wieder neigt sich trauernd eine Weide. Links und rechts vom schmalen weich begehbarem Pfad erstrecken sich ausgedehnte Wiesen, die fett wirken und bei Tageslicht vermutlich von sattem Grün sind.
Tal auf Tal, sich seltsam ähnelnd, folgen mehr oder weniger dicht aufeinander. Aber nirgendwo sehe ich ein Haus, begegne keinem Lebewesen. Dieses Land ist unbewohnt. Ich frage mich allmählich, was ich im Tal des schwarzen Flusses eigentlich soll. Bis jetzt habe ich einsame Wanderin meinen Weg mehr schlafwandlerisch zurückgelegt. Nun aber spüre ich mich instinktiv meinem Ziel näher, beschleunige die Schritte. Und als ich unerwartet matt glänzendes Kopfsteinpflaster betrete, kann ich nicht sogleich erkennen, ob anbrechendes Tageslicht oder Laternenschein das Mondlicht ablösen. Eine weibliche Gestalt im schwarzen Habit, den Kopf schleierumwallt huscht an mir vorüber, mustert mich flink aus den Augenwinkeln, um sich sogleich wieder abzuwenden. Aber die Art wie sie dabei den Kopf hebt, verrät, dass sie sich ihres Vorteils der Fremden gegenüber wohl bewusst ist.
Wie vom Himmel gefallen kommen nach und nach aus allen Richtungen unzählige schwarzgekleidete, von Schleiern umwallte weibliche Gestalten herbei, die sich zu einem langen Zug formieren, der sich lautlos und stumm in Bewegung setzt. Keine von ihnen unterscheidet sich wahrnehmbar von den anderen. Auch die Gesichter von unwahrscheinlicher Helligkeit gleichen sich. Sie machen auf mich einen ebenso weltabgewandten Eindruck wie der Greis, der mir den Weg hierher gewiesen hatte. Andererseits wirken sie irgendwie gefallsüchtig, wie eifrig bemüht, ihre Demut zur Schau zu stellen.
Nach einer Straßenbiegung überrascht mich der Anblick eines hell beleuchteten Hauses, einladend steht es da in seinem festlichen Glanz. Ich lasse den Zug der Frauen dorthinein an mir vorbei passieren, trete dann ebenfalls ein und bin von dem Glanz, der mir entgegenschlägt, geblendet wie von gleißendem Gold. Ich komme mir fehl am Platze vor und mache mich unbemerkt davon. Eine verspätete Schwarze eilt auf den Eingang zu. Ich halte sie auf:
"Bin ich hier im Tal des Flusses?"
"Ja!"
"Wo ist der Fluss?"
"Am Ende des Tals."
Das Tal ist rasch durchschritten und an seinem Ende glitzert Wasser. Schaukelten nicht Kähne darauf herum, würde man es für unbewegt halten. Die Lichter spiegeln sich nur noch kläglich. Der Tag ist da. Nach und nach erscheint das Wasser als graue Flut, weder hell noch schwarz, ohne Farbnuancen. Jetzt weiß ich, wieso der Alte mich hierher verwiesen hatte. Nur von hier aus ist es möglich, dieses Land zu verlassen. Wie von einem Druck befreit, eile ich auf die Kähne zu. Einer von ihnen ist am Ufer festgemacht, die andern schlingern weiter draußen.
Ich entdecke einen Steg, setze den Fuß darauf, das schwärzliche Brett neigt sich sofort tief ins Wasser. Der Steg, er ist morsch, erweist sich nicht gerade als trittsicher. Ich schätze seine Länge und erschrecke: An seinem Ende ist er so schmal, dass nicht einmal zwei Füße nebeneinander Platz haben. Das Wasser gluckst unter den wippenden Kähnen, ganz nahe und doch unerreichbar.
Ich will weg, nur weg von hier. Aber wie.
"Hallo!" rufe ich über den Fluss. Keine Antwort. In wachsender Verzweiflung schleudere ich mein "Hallo" immer wieder gegen die schaukelnden Kähne.
"Was ist?" ruft eine heiser und behäbig klingende Männerstimme zurück. Ich sehe jetzt einen Mann vierschrötig in seinem Kahn stehen, nach der Ruferin Ausschau haltend. Im roten, breiten Gesicht glitzern in der Morgensonne rötliche Bartstoppeln. Die Pfeife hängt tief im herabgezogenen Mundwinkel.
"Ich will weg! Setzen Sie mich über", flehe ich ihn an.
"Geht nicht", antwortet er gleichmütig. "Sie sehen ja selber, dass Sie nicht einmal über den Steg kommen. Außerdem haben wir Transportverbot."
"Sie müssen mir helfen!" beschwöre ich ihn, "ich weiß, dass Sie es können."
Da wird sein breites Gesicht wie von unvermitteltem Wohlwollen noch breiter. Bedächtig nimmt er die erkaltete Pfeife aus dem Mund:
"Geh jetzt. Komm in zwei Stunden wieder", beschwichtigt er mich beinahe väterlich.
Erschöpft stolpere ich den Weg zurück, vielleicht finde ich ein Haus in diesem Tal, um auszuruhen. Gleich am Taleingang gibt es eines, ein hohes Gebäude mit unzähligen Fenstern. Wieder sehe ich eine von diesen Schwarzumhüllten mit eben diesem hellen ausdruckslosen Gesicht. Sie steht hinter der riesengroßen Pforte und lässt mich eintreten. Schweigend geht sie mir voran, zwei Stockwerke hoch. Vor uns liegt ein unübersehbar langer Gang mit verwirrend vielen Türen. Gezielt öffnet sie eine von diesen und führt mich in einen quadratischen, grell getünchten Raum.
An den Wänden einander gegenüber stehen zwei blendend weißbezogene Betten. Neben dem Fenster befindet sich wie unverrückbar ein quadratischer Tisch: ein Tuch von unbarmherzigem Weiß bedeckt ihn, überflutet von kalter Morgensonne. Darüber ein schweres Kreuz mit lebensgroßem Christus, der den Raum beherrscht. Überwältigt schließe ich die Augen.
Texte: Das Umschlagaquarell hat Katja Kortin gemalt
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2008
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