Bote
Wenn im Traum dein Bote
mir die Nachricht bringt,
dass du auf mich wartest,
such ich dich in den Hotels der Stadt,
suche oft dich lange und vergeblich,
manchmal erhaschte ich einen Duft von dir
und das Echo deiner Worte,
wieder einmal hattest du die Geduld verloren
und warst abgereist
mit Koffern und Zofe.
Immerzu verfehl ich dich,
hoffe immerzu auf deinen Boten.
Die Philosophin
wir wussten nicht
dass sie ein Fenster war
ein Fenster hinaus in die Welt
wir hörten es erst
als das Fenster
klirrend zersprang
und sie im Krankenhaus
bleiben musste
in der Dunkelheit
damit der Sprung
wieder heilt
da tat sie uns leid
wir trugen das Fenster
hinaus aufs Feld
in den Sonnenschein
hier reflektiert sie ihre Welt
die zu Prismen zerschellt
Kurze Interpretation
Aus der Verschränkung der Metaphern ergeben sich die verschiedenen Bedeutungsebenen. Man darf so ein Gedicht nicht mit dem "gesunden Menschenverstand" lesen. Ein paar Punkte kann ich nennen.
Erst einmal Philosophie als Mutter aller Wissenschaft ist weiblich. Ursprünglich hatte ich das Gedicht "der Philosoph" genannt. Das "Auge als Fenster zur Seele" ist auch eine Metapher bei der man nicht gleich an den Glaser denkt. Hier soll das Fenster die große Schau eines einheitlichen Weltbildes vergegenwärtigen. Das wird klar durch den Sprung. Vorbei ist es mit der Sicherheit bietenden Einheit, es ist ein Dualismus, eine Paradoxie aufgetreten. Etwas für den Denker Unerträgliches, das ihn krank macht. In der Dunkelheit, also der Abstinenz, dem Verzicht auf Philosophieren, auf Denken überhaupt, soll dieser "Sprung" ausheilen, die Paradoxie in Vergessenheit geraten. Aber das funktioniert nicht. Was gemeint ist, lässt sich nicht leicht formulieren, man muss es "erfühlen". Plötzlich aber die Erkenntnis, das einheitliche philosophische Weltbild kann nicht wiederhergestellt werden, ist es einmal verloren gegangen. Raus aufs Feld heißt soviel wie, stelle dich der Welt in ihrer ganzen Vielfalt. Das Fenster zersplittert zwar, aus der ursprünglich einheitlichen Philosophie werden viele Spezialgebiete, aber die Philosophie geht wieder ihrer ursprünglichen Aufgabe nach, sie reflektiert, sie betreibt für die einzelnen Wissenschaften philosophische Grundlagenforschung. Das wäre also (pro domo gesagt) eine Bedeutungsebene dieses Gedichts.
Mohn
Ich schaute oft und bang,
so wie mein Vater schon,
das Bild dort an der Wand
mit Klatschmohn in der Vase an,
bis ich den Sinn verstand,
warum, was sonst so schnell verweht,
noch immer in der Vase steht:
Kurz ist der Lebensweg,
die Kunst währt lang.
Aufgetaucht
ein Fisch bin ich
ein Meerestier
ich spüre eine Kraft in mir
sie treibt mich
durch die grüne Gischt
als gäbe es ein Ziel für mich
als zöge es mich hin
zu einem fernen Kontinent
jenseits der Flut
von einem Gestern
einem Morgen
weiß ich nichts
weiß nichts
von einem andern Tag
es gibt nur dies
die klare Sicht
es sprüht die Gischt
es braust die Flut
was aber regt sich da in mir
als ob ich Atem holen soll
in einem andern Element
ich tauche auf
sitz bei dir
in der Runde hier
ein Fisch war ich
ein Meerestier
Expedition
wir sind durch Sümpfe gewatet
wir haben uns im Dickicht verirrt
wir wurden von Mücken zerstochen
und von Gifthauch betäubt
wir sind oft daran gestorben
haben nie kapituliert
Verlangen
Dein Mann bewacht dich Tag und Nacht
und sieht mich an mit scheelem Blick,
weil ich dir folg auf Schritt und Tritt,
obwohl er von der Nacht,
in der wir uns liebten wild und heiß,
nichts weiß.
Ich spür seither
in mir die Gier
nach solchen Nächten
mit dir.
Apokalypse
immer öfter kreuzen meine Wege
die ich einsam gehe
finstere Gestalten
die ich für Boten
düsterer Zeiten halte
auch wenn ich meine Freunde
noch nicht überzeugte
bald wird es keiner mehr bestreiten
wenn Todesengel
durch die Städte schreiten
Ikarus
gefangene Liebkosung nistet im Haar
am Ohr
dem unenträtselten Labyrinth
Ikarus kennt den Weg
mit zerstörtem Verstand
mit verbrannten Flügeln
stürzt er
in die Tiefe dieser Augen
Hunger
seit er verheiratet ist
schaut er öfter mal bei mir vorbei
und brät sich in meiner Pfanne
ein Ei
seine Frau hockt derweil
mit verschränkten Beinen
auf dem Boden ihrer Küche
meditiert darüber
was sie kochen soll
er behauptet
nicht die Erleuchtung
sondern der Hunger sei es
der sie nach drei Tagen
aufspringen läßt
sie kocht dann
was Vegetarisches
Asylsuche
Unsere flugbereiten Seelen
zieht es zu den Sternen,
zu den fernen Attraktoren,
dort wo Götter und Heroen
immerwährend Feste feiern.
Abschied nahmen sie von ihren Lieben.
Und statt ihre Schwingen auszubreiten,
harren manche ängstlich aus
am Rand der Welt,
festgekrallt am hohen Horst.
Denn die Paradiese unserer Galaxis
sind seit abertausend Jahren überfüllt,
ausgebucht bis auf den letzten Winkel.
Einsam müssen fremde Seelen
durch die Nächte,
durch die leeren Räume schweifen
und durch schwarze Löcher tunneln,
ständig auf der Hut vor Turbulenzen,
vor dem Feuerregen der Kometen
und der Engel scheucht sie von den Pforten.
Die Statistiker und Astronomen
warnen schon seit langem:
Wer die große Reise antritt,
muss mit neun Millionen Flugzeit rechnen.
Bis in einer anderen Galaxis
freundlicher gesinnte Götter
ihm Asyl gewähren.
Doch das steht in den Sternen.
Alchemie
Wer ging nicht schon
durch viele Feuer,
wer wurde nicht schon
oft verbrannt,
und wessen Asche
wurde nicht schon
von Priesterhand
gestreut in den Wind.
Mögen die Elemente
zueinander finden,
Kupfer zu Kupfer,
Eisen zu Eisen,
Sand zu Sand
TM
Kam an in Düsseldorf,
total erledigt, todmüde.
Arme taten mir weh vom Fliegen.
Mein Freund von den Transmeditalen,
soeben Gouverneur geworden
im Reich ruhevollen Bewusstseins,
raubte mir die Ruhe mit seiner Ruhe.
Am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe
hinbestellt vom Tower zum Flugplatz.
Himmelblaulackierte Flugzeuge standen
in Halb-Acht-Stellung für das Schaufliegen.
Die Propeller zeigten sieben Uhr morgens.
Kann darüber nur mitleidig lächeln:
Mit solchen Chronometern stürzen sie
spätestens vorgestern ab
trotz des Sekundenzeigers.
Schaulustige lauerten mir auf,
hätten mich gern als seltenen Vogel erlebt,
fühlte mich an dem Tag erdenschwer,
lasse mich nicht einfach hochscheuchen,
sollen froh sein, wenn ich heute
auf einen Baum klettere.
Belehrte sie von oben herab:
Solche Dinge zwischen Himmel und Erde
sind zu hoch für die Wissenschaft.
Mein transmeditaler Freund
hielt eine lange Rede
über die transzendentale Flugmeditation
Ausstand
Dieses Glas erhebe ich
auf euer Wohl
dann muss ich gehen
"Alltag Ade"
meine Frau hält Ausschau
nach mir
ich kann sie sehen
meine Frau, die Fee
in unserem Haus am See
das liegt hundert
Kilometer von hier
sie steht am Fenster
und ruft nach mir:
"Liebling, Liebling"
hört ihr sie auch
Blickfang
Frauenbeine
ihre Beine
tanzen nachts
durch seine Träume
sie umschlingen ihn
wie Schwanenhälse
und aus diesen Beinen
werden wieder Frauen
und aus deren Beinen
wieder andre Frauen
immer rascher wirbeln Beine
bis er beglücktJo
für den nächsten Traum
aus diesem Reigen
eine auswählt
stets die gleiche
stets die Seine
Scheibenkleister
Seit John Dee Fenster putzt,
weil er durchschauen möchte,
muß er sich alle naselang die Nase putzen.
Es zieht durch die Ritzen
und schon hat John einen Schnupfen.
Bisher hat er leider nichts gesehen:
eben nur das Nichts,
keineswegs einen Cherubim,
obwohl er eigens Henochisch gelernt hat,
die Sprache der Cherubim.
Der Durchzug verschlimmert sich
Tag für Tag und Zug um Zug,
besonders am Westfenster;
die Leute bekommen einen Schnupfen:
sicheres Indiz für das Nahen des Weltendes.
John kann höchstens versuchen
es hinauszuzögern.
Gottseidank existiert wenigstens Gott;
er ist prima Materie und der beste Kitt,
der überall ausreichend herumliegt.
John hebt eine Handvoll davon auf
und schmiert die Ritzen zu.
Aber es nützt nicht viel.
Denn Gott ist es leid,
lediglich Materie zu sein.
Er macht sich als der schöne Er-Ich
an die Töchter des Landes heran
und schert sich den Teufel
um den unerträglichen Dualismus,
der seinetwegen überall auseinanderklafft,
besonders an den Fenstern.
John, der Fensterputzer,
hat längst die Nase voll, ihm ist,
als müsse er ersticken.
Er zerschlägt die westliche Fensterscheibe
und springt ins Jenseits.
Anmerkungen:
Dr. John Dee
(* 13. Juli 1527 in London; † 1608 in Mortlake-Surrey) war ein bekannter englischer Mathematiker, Astronom, Astrologe, Geograph, Mystiker und Berater der Königin Elisabeth I.. Er widmete einen Großteil seines Lebens auch der Alchemie, Wahrsagung und hermetischen Philosophie.
Westliches Fenster
Gustav Meyrink spürte dem Leben des John Dee in seinem esoterischen Schlüsselroman „Der Engel vom westlichen Fenster“ auf ungewöhnliche Weise nach.
Henochisch
ist eine magische Sprache. John Dee notierte sie genau nach dem Diktat des Mediums Edward Kelley, solange es sich in Trance befand. Sie soll der Kommunikation Gottes mit seinen Engeln dienen.
prima Materie
Die materia prima (erste Materie), die auch 'Urstoff' genannt wird, ist ein philosophischer Begriff, der auf Aristoteles zurückgeht und in der Folge insbesondere in der Scholastik eine große Bedeutung hat.
Im Rahmen der Naturphilosophie versteht man unter der materia prima das erste Substrat aller Naturkörper, die der Ermöglichungsgrund ihrer Umwandlung in andere Körper ist.
Schnupfen und Weltende
bezieht sich auf ein Gedicht von
Jakob van Hoddis (Geburtsname Hans Davidsohn * 16. Mai 1887 in Berlin; † 1942 in Sobibór) war ein deutscher Dichter des literarischen Expressionismus. Berühmt wurde er vor allem durch das Gedicht Weltende.
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Ich kenne das Gedicht aus der Anthologie Menschheitsdämmerung, erschienen 1920.
Die Menschheitsdämmerung gilt als Standardwerk des literarischen Expressionismus.
Der Dualismus
ist in der Philosophie die These von der Existenz von zwei einander ausschließenden Arten von Entitäten, also ein weites Feld
Die Deutung
ist selbstverständlich jedes Lesers
eigene Angelegenheit, ob ihm der Text nun zusagt oder ob er ihn ablehnt.
Meine Hauptgedanke dazu:
John fühlt sich eingesperrt in einen Raum der Koventionen, überkommenen Glaubensvorstellungen und philosophischen Deutungen. Sosehr er auch die Fenster putzt, er sieht jenseits dieses Raums nur das Nichts. Schließlich wagt er den "Sprung ins Leere" und landet in der "eigentlichen" Welt unter Helgas blühenden Apfelbaum. Dazu siehe auch Platons Höhlengleichnis.
Das hohe Lied
Wer den Dichter liebt
muss hoch hinauf steigen
er ist ausgewandert aus den Städten
nur in zerklüfteter Bergwelt
tritt er noch auf
dort sah ich einen
er lag im Bach
ich erkannte ihn an der roten Mähne
die bis zu seinen Hüften wallte
es war gerade die gute Stunde
zu der das Dichterwort
aus ihm herauswollte
er korrigierte
das Oberteil seines Bikinis
schüttelte seine Mähne
holte tief Luft
und jodelte zum letzten Mal
den Reim vom Wendelstein:
das hohe Lied.
Oktober
als Kind des Herbstes
wurdest du geboren
durch Nebel schwarzer Schwaden
erblicktest du ein trübes Licht
du tapptest durch die Jugendtage
wie ein Blinder
und kommst zu spät zu den Gelagen
wo nur die Aschenstätte übrig blieb
und folgtest immer
einer inneren Geraden
als ob dich eine Stimme
aus der Ferne riefe
Der Stein des Weisen
nachdem er begriffen hatte
dass alles aus dem Meer stammt
legte er sich nicht mehr an
mit den Dingen der Welt
und setzte sich auf einen Stein
eine lange Zeit verstrich
geduldig saß er auf dem Stein
weder der Spott noch
die Besorgnis der Leute
brachten ihn davon ab
da rauschte das Meer heran
es kam von weit her
eine Woge erfasste ihn
hob ihn hoch
er fühlte sich mit ihr eins werden
sein Ich zerfloss im Ozean
seitdem spürt er
selbst noch in einer plätschernden Welle
am Strand einer Südseeinsel
dass er überall ist
der Weise und der Stein
fern ist das Meer
aus dem du stammst
einmal rauscht die große Woge
über dich her
spült dich fort von diesem Stein
auf dem du sitzt
gedankenschwer
bringt dich zurück
ins ferne Meer
Texte: Bilder von Britta Ahrens und Hans Ley
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2011
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