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Indianerland
Ich liebte ausgedehnte Spaziergänge im Englischen Garten. Wenn ich zwischendrin auf einer Bank saß, blieb ich nie lange allein; nach einer Weile griff eine Hand nach meiner Hand und drückte sie. Wer wird das schon sein, dachte ich, bestimmt ein Mütterchen und scherte mich nicht drum und schaute nicht hin. Irgendwann wollte ich dann doch wissen, wer sich da immer neben mich setzte und mir so sehr anhing.Ich sah nach links und blickte in die braunen Augen einer hübschen jungen Frau. Sie drückte meine Hand noch fester und presste sie an ihren Busen und ich umfasste ihre Taille. Die junge Frau war ein wenig mollig und hatte schwarze Haare. Ich nahm sie zur Frau und ging mit ihr dorthin, wohin es mich schon lange hingezogen hatte, ins Indianerland. Es war ein weites Land, über das die Pferde trabten, ich selbst ritt auf einem Apfelschimmel. Wir kleideten uns wie die Indianer und wohnten anfangs in einem Zelt. Später bauten wir ein festes Haus in der Art der Farmerhäuser des Wilden Westens. Einmal wurden wir von den Eltern meiner Frau besucht, Stadtleute, die nicht lange blieben. Der Schwiegersohn missfiel ihnen, meine Lebensweise war ihnen zutiefst zuwider. Die Indianer aber wollten die Schwiegereltern ihres Freundes ehren und feierten ein Fest, wobei sie ein großes Freudengeheul anstimmten. Da fürchteten die Schwiegereltern um ihr Leben und reisten ab.
Ich liebe das Indianerland, habe oft die starken, jungen Indianer bei der Büffeljagd bewundert, wie sie schnell und gewandt mit bloßen Händen den Büffel bei den Hörnern packten. Und einmal sah ich einen Indianerjungen, der einem Büffel hinterherlief, und ihn mit seinem Speer erlegte. Er versuchte ihn wegzutragen, musste ihn aber dann doch absetzen. Mit fünfzehn sei er noch nicht stark genug, gestand der Knabe, aber er habe schon das Herz eines Sechzehnjährigen.
Die Weißen missachten meist die religiösen Gefühle der Indianer und treiben ihren Spott mit deren Heiligtümern. Ich war selber einmal Zeuge eines solchen Frevels.
Damals ragte eine große indianische Muttergottheit auf einem Felsvorsprung weithin sichtbar über die Ebene. Die Indianer verschiedener Stämme versammelten sich jedes Jahr Anfang Oktober auf dem großen Platz zu Füßen der Göttin; das Fest, die Tänze, die Gesänge dauerten eine ganze Woche, zum letzten Mal vor drei Jahren.
Der Schamane hatte einige Weiße als Gäste eingeladen. Unter ihnen eine blonde Frau, die als Tierärztin im Reservat tätig war. Sie hielt nichts von der Naturreligion der Indianer und hatte sich vorgenommen, die Ohnmacht der Göttin vorzuführen. Zu diesem Zweck hatte sie ein tierärztliches Befruchtungsinstrument aus ihrer Praxis mitgebracht. Auf dem Höhepunkt der Zeremonie erhob sie sich von ihrem Platz neben dem Schamanen und stieg die Stufen zur Muttergottheit hinauf. Mit den Worten
"Ihr werdet sehen, eure Göttin ist frigide und unfruchtbar!" holte sie das Instrument aus ihrem Ärztekoffer hervor und machte davon Gebrauch.
Durch die Muttergottheit erging ein Zittern, worauf sie in sich zusammensank, Felsbrocken fielen herunter und rollten vor die Füße der Indianer. Da die Göttin genau genommen aus vier Göttinnen bestand, die in alle vier Richtungen schauten und eine Einheit bildeten, brachen nach und nach alle vier zusammen. Auf dem Sockel schwankten lediglich die Türme ihrer Beine, und dann polterten auch diese herunter.
Vor den Trümmern versammelten sich vierhundert Frauen, die auf den Knien lagen und beteten. Sie riefen die nunmehr unsichtbare Muttergottheit um Rat und Hilfe an gegen das große, durch den Frevel an der Göttin ausgelöste Verhängnis, das über sie kommen würde. Sie zogen die weiße Ärztin in ihren Kreis und zwangen sie auf die Knie.
Von diesem Tag an wurde es nicht mehr hell im ganzen Land. Die Leute von der Regierung, unter ihnen kein einziger Indianer, fürchteten einen Aufstand der indianischen Bevölkerung. Sie berieten pausenlos und kamen auf mancherlei Ideen die allesamt wirkungslos blieben, die Klagen und Unruhen im Lande verstärkten sich.
Was dann einem Religionsforscher als Teilnehmer der Beratungen einfiel, half zwar nicht endgültig die Indianer zu beruhigen, jedoch muckten sie immerhin ein paar Wochen nicht auf. Die Weißen „pflanzten“ auf der Anhöhe der zerfallenen Göttin eine riesige Glühbirne in das Wurzelwerk. So erweckte dies den Eindruck, als speise das Wurzelwerk die Glühbirne mit elektrischem Strom. Die grell leuchtende Glühbirne vertrieb ein wenig die Finsternis über dem Land. Die Weisen im Lande verkündeten, nun sei endlich die Mutter Erde versöhnt mit der Technik der Weißen. In dem Hügel steckte natürlich ein heimlich installierter Generator. Der Betrug kam auf durch einen kleinen Jungen, der vor diesem Pseudoheiligtums stand, den Kopf schüttelte, und sagte, da stimmt was nicht. Einige beherzte Männer aus dem Stamm der Irokesen gruben nach, und entdeckten den Generator. Die Stämme waren nun nahe daran, die Weißen aus dem Land zu verjagen.
Dass dies nicht geschah, verdankten sie einer Künstlerin. Über Nacht malte die Malerin S. an die glatte Felswand einen Indianerkopf. Zugegeben, der Kopf war imposant, obwohl sie ihn nur schwarzweiß malte. Und überdies war der Kopf keine Schönheit, niedere Stirn, trotz des sehr weit nach hinten gerückten Haaransatzes. Genau genommen war der Kopf sogar abgrundtief hässlich. Wie machte sie das bloß, dass man es trotzdem als großes Kunstwerk empfand. Es kommt auf solche Dinge an, erklärt sie uns, wie den Wind. Weht er von links oder von rechts. Man muss sich auf ihn einstellen, er malt mit. Und dann achte man auf die Bäume. Winken sich die Wipfel zu, ist das ein gutes Zeichen. Zeigen aber die Wurzeln aufeinander, hat es eine schlechte Vorbedeutung. Sie selbst fühlte sich nach der Arbeit an dem Bild nicht mehr wohlauf, ihre Hände schmertzen. Sie konnte sie kaum mehr bewegen. Es dauerte ein halbes Jahr, bis zum Sommer, dann verschwand der Schmerz. Um so unbegreiflicher ist uns ihre Kunst, und um so mehr bewundern wir sie.



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Tag der Veröffentlichung: 09.11.2011

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