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Mein Leben verlief die letzten acht Jahre ereignislos, stets in den gleichen Bahnen. So wollte ich es auch; mir blieb viel Zeit für erträumte Abenteuer. Nie hatte ich das Gefühl, etwas zu versäumen.

Eines Morgens schreckte mich Telefongeklingel aus meiner Träumerei, in der ich mir gerade eine Karriere als Modearzt ausmalte. Am Apparat war eine Frau. Sie bat mich, ihr mein Leben zu erzählen. Zuerst war ich drauf und dran einfach einzuhängen. Sie versicherte mir indessen, sie sei nicht von der Presse, wolle mir auch nichts verkaufen, sie rufe aus rein privaten Gründen an. Mir fiel zum Glück gleich eine Geschichte ein, die ich vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen hatte. Warum sollte ich nicht so tun, als habe ich sie selbst erlebt.

Die Geschichte handelt von einem Mann, den eines Tages eine ihm unbekannte Frau anrief. Sie bat ihn darum, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen. Der Mann konnte herrliche Lügenmärchen erfinden. Eine davon tischte er dieser Frau auf.

Ich flunkerte also der Anruferin die Geschichte aus der Zeitung vor:

Ich sei in Indien als Sohn eines Diplomatenehepaars geboren. Meine Eltern seien bei Aufständen ums Leben gekommen. Mir selbst sei es - im Alter von erst zehn Jahren – gelungen, zu fliehen und mich als blinder Passagier auf einem Schiff nach Europa durchzuschlagen. In Paris habe man mich schließlich aufgegriffen und mich in ein Waisenhaus gesteckt. Mein größter Wunsch aber sei es immer gewesen, einmal Arzt zu werden. Zehn Jahre sei ich jetzt als Pfleger in einer Nervenklinik tätig. Die Hoffnung, dass sich mein Wunsch doch noch erfüllen könnte, habe ich aufgegeben. Mir fehlten die finanziellen Mittel für ein Studium.

Wie die Geschichte ausging, konnte ich der Dame nicht mehr berichten, ich hörte Kindergeschrei im Hintergrund, sie legte auf.

Auch in der Geschichte aus der Zeitung hatte der Mann im Hintergrund Kindergeschrei gehört und die Dame hatte abrupt das Gespräch beendet. Drei Tage danach erhielt er indessen von einer amerikanischen Stiftung einen Scheck über eine Million Dollar, konnte studieren und wurde ein berühmter Arzt.

Mein Leben verläuft seit diesem Anruf weiterhin ereignislos. So will ich es auch; mir bleibt viel Zeit für erträumte Abenteuer. Und ich habe nie das Gefühl, etwas zu versäumen. Jedoch erkundige ich mich seither täglich bei meiner Bank nach meinem Kontostand.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.09.2010

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Widmung:
eine potentielle Autobiografie

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