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Der Riese

Der Riese hatte in seiner Märchenwelt große Taten vollbracht, doch das war lange her, längst scherte sich keiner mehr um ihn. Weshalb er allmählich an sich selbst zu zweifeln begann. War er denn wirklich ein Riese oder bildete er es sich bloß ein. Diese Ungewissheit vergällte ihm die ganze schöne Märchenwelt.

Eines Tages hielt er es nicht mehr in seinem Märchen aus; er tat einen mächtigen Schritt über den Abgrund zwischen Märchenwelt und Wirklichkeit und gelangte mitten auf den Marktplatz der aufstrebenden kleinen Stadt Bookrix. Er ging zwischen den Buden umher und erzählte von seinen Taten. Die Leute staunten und beteuerten, er sei in der Tat ein Riese, sogar ein riesiger Riese.

Der Riese aber glaubte ihren Worten nicht, er hielt sie für Schmeicheleien und so zog er sich bald wieder in sein Märchen zurück. Aber der Zweifel bohrte weiter in ihm, er beschloss, die Gegenprobe zu machen und nochmals unter einem anderen Namen auf die Welt zu kommen. Bei seiner erneuten Ankunft unterlief ihm allerdings ein Missgeschick; er setzte versehentlich ein kreideweißes Gesicht auf, das melancholisch dreinschaute.

Die Leute nannten ihn Pierrot und lachten. Einige jedoch hatten von seinem ersten Auftritt gehört und trösteten ihn: Sicher werde er im Laufe der Zeit wieder wie einstmals aussehen. Der Riese vertraute ihren Worten und fasste sich in Geduld.

Im Laufe der Jahre wurde sein Gesicht tatsächlich fröhlicher und fröhlicher, längst war seine Schüchternheit von ihm abgefallen und er wurde allseits geliebt, und sogar verehrt.

Eines Tages zeigte ihm sein Spiegelbild, dass er bald ein vollkommener Riese sein würde, ein Hermaphrodit. Er würde es verheimlichen oder die schöne Bookrix-Welt verlassen müssen; denn das Vollkommene ist des Schrecklichen Anfang.

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Tag der Veröffentlichung: 12.06.2010

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Widmung:
WB Gruppe Kurzgeschichten Juni

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