Bewertung. Ein Versuch
Um für das Thema „Bewertung“ eine Basis zu schaffen, soll zuerst das Feld möglicher Bewertungsobjekte abgesteckt werden.
Somit sind zuerst erkenntnistheoretische Überlegungen erforderlich. Es soll die Rede sein von unserer Wahrnehmungswelt, vom Wahrgenommenen, den Objekten, den Phänomenen.
Letztlich lässt sich diese Wahrnehmungswelt in drei „Welten“ unterteilen:
In Gegenstände (die des Sehens, Hörens, Riechens, usw.), in Begriffe und in Gefühle.
Sie alle sind vielfältig miteinander vernetzt. Jeder wahrgenommene Gegenstand enthält auch Gefühlskomponenten, wird als schön oder hässlich, anziehend oder abstoßend empfunden.
Ebenso ist die Gegenstandswelt durch Begriffe strukturiert, durch Erinnerungen, durch das, was wir von ihr wissen.
Eine Sonderstellung nimmt die Sprache ein. Worte sind assoziiert mit den Objekten, das Zeichen mit dem Bezeichneten, die Phänomenologie mit den Phänomenen.
Worte sind im übrigen ebenso optische oder akustische Gegenstände, und als Begriffe sind sie Wortbegriffe.
Es gibt zahllose Theorien und Philosophien über die
Sprache. Aber darauf einzugehen, würde den Rahmen sprengen.
Aber wo bleibt das Subjekt. Wo bleibt derjenige der Gefühle erlebt, Gegenstände wahrnimmt, mit Begriffen umgeht.
Das Subjekt steht polar dem Objekt gegenüber. Das Erlebende dem Erlebten, das Wahrnehmende dem Wahrgenommenen usw. Es handelt sich dabei um eine essentielle Polarität. Im Unterschied zu den Polaritäten unserer Erlebniswelt, wie männlich – weiblich, rund – gerade, minus - plus etc..
Das Subjekt ist mit den Mitteln der Sprache nicht erfassbar. Da die Sprache der Objektwelt angehört. .
Definieren lässt sich der Subjektpol nicht. Man könnte ihn hilfsweise benennen als das Nichts oder auch die Seele.
Nun zurück zum Thema. Wie schon gesagt, die gesamte Erlebniswelt also Gefühle. Gegenstände und Begriffe sind miteinander vernetzt, assoziiert, die jeweilige aktuelle Wahrnehmung enthält als Symbolkomponenten somit den gesamten „Kosmos“ des Individuums.
Die Gefühlskomponenten bei der Wahrnehmung eines Kunstwerks machen dessen Wert für den Wahrnehmenden aus.. Insofern hat jeder Mensch „immer schon“ seinen eigenen, seinen individualspezifischen Wertekosmos..
Es gibt die verschiedensten Typologien, die dem individuellen Wertekosmos Gruppen zuordnen. Z.B. spricht Spranger von den Lebensformen. Er unterscheidet religiöse, ästhetische, soziale, politische, theoretische und ökonomische Typen beim Menschen. Anders wieder die pädagogische Typenlehre von Pfahler. Lediglich die Ausdruckskunde von Ludwig Klages orientiert sich ausschließlich am Individuum.
Damit haben wir nun eine Basis für das Thema „Bewerten“. Das Wort „Bewerten“ hat schon von seinem Wortlaut her zu tun mit dem Wert, den etwas für einen hat, was einem etwas wert ist. Was einem nahe oder ferner liegt, macht den Wert aus.
Von dem hier behandelten Thema „Bewerten“ auszugliedern sind demnach Methoden, die auf objektiven Messgrößen basieren, wie zum Beispiel die Häufigkeit von Rechtschreibfehlern oder die Fehler die ein Maler bei der Darstellung der Perspektive macht. Wobei allerdings „Fehler“ vom Künstler auch gewollt sein können, wenn sie zur Steigerung der künstlerischen Aussage dienen. Objektiv feststellen lassen sich jedenfalls eine Reihe von „Fehlern“, wie mangelhafte Beherrschung des Handwerklichen, die Ausdruck und Gestaltung einschränken.
„Natürlich ist Bewerten eine subjektive Angelegenheit.“ So lautet die häufige Meinung. Für die „naive“ Form des Bewertens, für die unmittelbare Reaktion mit Aussagen wie „Es gefällt mir“ oder „Es gefällt mir nicht“ bzw. „Her damit“ oder „Weg von mir“ trifft das auch zu. Wenn man „subjektiv“ nennen möchte, was der Betrachter eine Kunstwerkes als durchaus objektiv erlebt.
Voraussetzung bei dem bei der Beurteilung eines Kunstwerks ist weiterhin, dass der Betrachter es überhaupt wahrnimmt. Zum Beispiel fiele die Farbwahrnehmung aus, so könnte zum Farberlebnis „Rot“ nichts gesagt werden. Wohl aber könnte der Farbenblinde feststellen, dass es unterschiedliche Wellenlängen des Lichts gibt, von denen eine mit dem Wort Rot in Verbindung gebracht wird.
Da man bei der Beurteilung eines Kunstwerks oder eines literarischen Produkts über keine Messgrößen verfügt, und sich auch nicht mit simplen Worten wie „gefällt“ oder „gefällt nicht“ begnügen, und vielleicht Rangordnungen festlegen möchte, stellt sich die Frage, wie kommt man zu einem gesicherten Ergebnis.
Die Kriterien dazu sind erarbeitet worden in der Ausdruckswissenschaft oder auch Erscheinungswissenschaft. Ihr Forschungsgebiet ist nicht das Messbare, sondern u.a. das Phänomen als ganzheitliches Erlebnis, seine Eindrucksqualitäten.
Daraus ergibt sich schon, es sind bestimmte Begabungen nötig, will man ein Kunstwerk mit Sachverstand beschreiben oder gar bewerten. Dazu gehören Empathie, Eindrucksempfänglichkeit, Sensitivität, die Fähigkeit sich in Worten auszudrücken, eigene Vorlieben beiseite zu lassen. und „Nebengeräusche“ wahrzunehmen.
Ein paar Stichpunkte hier zu den ganzheitlichen Eindrucksqualitäten oder Ganzheitsqualitäten. Es handelt sich also um Merkmale, die das gesamte Kunstwerk bzw. einen literarischen Text prägen wie Lebendigkeit, Eigenart, Originalität, Rhythmus, Lebensfülle, demgegenüber stehen Monotonie, Überladen, Unlebendig.
Die vielen Begriffe hierzu aufzuzählen, erübrigt sich. Am besten ist es, man lässt sich von seinem Eindruck inspirieren und findet selbst eine anschauliche Formulierung wie
„Der Text ist monoton wie ein Dauerregen“, oder „Der Dichter hat seinen Text geschmiedet wie ein schmiedeeisernes Tor“ usw.
Bei Dichtung geht es im Unterschied zu einem Sachtext um die hinweisende Funktion der Sprache, um Bedeuten im Unterschied zum Bezeichnen, um Mythos statt Logos. Ein Zitat dazu aus einem bookrix-Kommentar.
"Zwischen Erleben und Dichtung ist keine Spalt, diese Gedichte beschreiben nicht, nichts liegt ferner als eine sachliche Aufzählung von Fakten, sondern sie sind geboren aus der Verschmelzung von Sprache mit einem pathischen Lebensgefühl, also einer Art von Welthingabe. Daher ist es auch nicht die heile Welt in der die Dichtern zu Hause ist, sie wohnt nahe am Abgrund."
Neben den Ganzheitsqualitäten geht es beim Bewerten auch um die Kenntnisse über den Gegenstand, die Stilrichtung, die handwerklichen Voraussetzungen, vielleicht auch um den aktuellen Trend usw. Also um Kenntnisse alles dessen was zu dem Umfeld des Kunstwerks gehört. Bei Ezra Pound braucht man bei vielen seiner Cantos umfangreiche Informationen, will man den vollem Lesegenuss haben.
Einem Teppichfachmann würde man vertrauen, wenn er seine Bewertung über einen Teppich abgibt, weil er die Kenntnisse über seine Materie besitzt, einem Laien oder einem Teppichhändler dagegen keinesfalls. Ein Förster, der durch den Wald geht, sieht mehr als ein Spaziergänger, dem das Erkennen von Mustern, die selektive Wahrnehmung eines Försters fehlt.
Zur Lyrik noch ein paar Worte und dazu die Empfehlung für das Buch von Walter Urbanek „lyrische signaturen“.
Der Autor zitiert darin Goethes Satz: "Gemüt hat man, Naturell manche, Kunstbegriffe sind selten."
Ein schlechtes Gedicht ist dann gegeben, wenn es dem Verfasser nicht an Gemüt aber an echten Gefühlen fehlt, mit anderen Worten an der Fähigkeit seine Seele sprechen zu lassen.
Die Poetik des modernen Gedichts fasst er in 21 Punkten zusammen.
Das moderne Gedicht verzichtet auf das unmittelbare Aussprechen des Gefühls.
Ein Gedicht soll der Zusammenbruch des Intellekts sein (André Breton)
Es besitzt mehrere einander übersteigende Bedeutungsschichten, deren letzte sich oft der Sinndeutung entzieht.
Es bleibt nahe am Gegenstand, verzichtet auf richtungweisende Stellungnahme (Deklamation, Rhetorik usw.)
Es verknappt. Je knapper ein Gedichttext desto bedeutunschwerer wiegt das einzelne Wort.
Es liebt den Wechsel der Perspektive.
Es verfremdet die realen Elemente, um einer höheren Realität habhaft zu werden.
Es verwendet Synästhesien, um Verbindungen zwischen verschiedenen Eindrücken zu entdecken.
Es hebt zeit-räumliche Perspektive auf (Ursprung ist Gegenwart)
Es liebt Symbolverschränkungen mit disparaten Elementen
Es liebt Dissonanz (sinnliche Bilder für Unsinnliches und umgekehrt.
Es verwandelt Metaphern zu Chiffren.
Es verwendet das Understatement als moderne Form der Ironie
Es verzichtet auf geläufige Wörter für Transzendenz
Es lockert das logisch-syntaktische Gefüge
Es verzichtet auf metrisches Regelmaß und überkommene Strophen- und Reimformen.
Es ist häufig ein offenes Gedicht, überlässt dem Leser, den Schluss selbst zu finden.
Es will provozieren und faszinieren.
Texte: Umschlag von Britta Ahrens
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2010
Alle Rechte vorbehalten