Scheibenkleister
Seit John Dee Fenster putzt,
weil er durchschauen möchte,
muß er sich alle naselang die Nase putzen.
Es zieht durch die Ritzen
und schon hat John einen Schnupfen.
Bisher hat er leider nichts gesehen:
eben nur das Nichts,
keineswegs einen Cherubim,
obwohl er eigens Henochisch gelernt hat,
die Sprache der Cherubim.
Der Durchzug verschlimmert sich
Tag für Tag und Zug um Zug,
besonders am Westfenster;
die Leute bekommen einen Schnupfen:
sicheres Indiz für das Nahen des Weltendes.
John kann höchstens versuchen
es hinauszuzögern.
Gottseidank existiert wenigstens Gott;
er ist prima Materie und der beste Kitt,
der überall ausreichend herumliegt.
John hebt eine Handvoll davon auf
und schmiert die Ritzen zu.
Aber es nützt nicht viel.
Denn Gott ist es leid,
lediglich Materie zu sein.
Er macht sich als der schöne Er-Ich
an die Töchter des Landes heran
und schert sich den Teufel
um den unerträglichen Dualismus,
der seinetwegen überall auseinanderklafft,
besonders an den Fenstern.
John, der Fensterputzer,
hat längst die Nase voll, ihm ist,
als müsse er ersticken.
Er zerschlägt die westliche Fensterscheibe
und springt ins Jenseits.
Anmerkungen:
Einiges aus Wikipedia, der Text entstand aber zu einer Zeit, als ich Wikipedia noch nicht kannte
Dr. John Dee
(* 13. Juli 1527 in London; † 1608 in Mortlake-Surrey) war ein bekannter englischer Mathematiker, Astronom, Astrologe, Geograph, Mystiker und Berater der Königin Elisabeth I.. Er widmete einen Großteil seines Lebens auch der Alchemie, Wahrsagung und hermetischen Philosophie.
Westliches Fenster
Gustav Meyrink spürte dem Leben des John Dee in seinem esoterischen Schlüsselroman „Der Engel vom westlichen Fenster“ auf ungewöhnliche Weise nach.
Henochisch
ist eine magische Sprache. John Dee notierte sie genau nach dem Diktat des Mediums Edward Kelley, solange es sich in Trance befand. Sie soll der Kommunikation Gottes mit seinen Engeln dienen.
prima Materie
Die materia prima (erste Materie), die auch 'Urstoff' genannt wird, ist ein philosophischer Begriff, der auf Aristoteles zurückgeht und in der Folge insbesondere in der Scholastik eine große Bedeutung hat.
Im Rahmen der Naturphilosophie versteht man unter der materia prima das erste Substrat aller Naturkörper, die der Ermöglichungsgrund ihrer Umwandlung in andere Körper ist.
Schnupfen und Weltende
bezieht sich auf ein Gedicht von
Jakob van Hoddis (Geburtsname Hans Davidsohn * 16. Mai 1887 in Berlin; † 1942 in Sobibór) war ein deutscher Dichter des literarischen Expressionismus. Berühmt wurde er vor allem durch das Gedicht Weltende.
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Ich kenne das Gedicht aus der Anthologie Menschheitsdämmerung
, erschienen 1920.
Die Menschheitsdämmerung gilt als Standardwerk des literarischen Expressionismus.
Der Dualismus
ist in der Philosophie die These von der Existenz von zwei einander ausschließenden Arten von Entitäten, also ein weites Feld
Die Deutung
ist selbstverständlich jedes Lesers
eigene Angelegenheit, ob ihm der Text nun zusagt oder ob er ihn ablehnt.
Meine Hauptgedanke dazu:
John fühlt sich eingesperrt in einen Raum der Koventionen, überkommenen Glaubensvorstellungen und philosophischen Deutungen. Sosehr er auch die Fenster putzt, er sieht jenseits dieses Raums nur das Nichts. Schließlich wagt er den "Sprung ins Leere" und landet in der "eigentlichen" Welt unter Helgas blühenden Apfelbaum. Dazu siehe auch Platons Höhlengleichnis.
Texte: Text zum Hörbuch mit Anmerkungen
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2009
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