Cover


Früheste Erinnerung
Ich bin in der Urwelt aufgewachsen. Das Zentrum dieser Welt war eine hohe, kuppelförmige Felsenhöhle. Hier beteten wir zu den Göttern. Ich habe mir die Gebete leider nicht merken können und auch nicht wie die Götter geheißen haben. Aber innerlich höre ich noch heute das monotone dumpfe Gemurmel, das wie zu fernem Donner anschwellen konnte, und ich sehe die Götter von den Wänden der Höhle ringsum herabschauen, mächtige Reliefs, rotbraune Gewänder im Schein des heiligen Feuers, das bis zu ihnen hinauf flammt. Dies war die Stätte, die die Erwachsenen bei feierlichen Anlässen aufsuchten, dort holten sie den Ratschluß der Götter ein. Aber wir Kinder konnten mit den Göttern nicht reden. Wir konnten nur erschauern. Dieser heilige Schauer überkommt mich gelegentlich noch heute, obwohl diese Welt längst für mich versunken ist.
Wenn wir Kinder Sorgen hatten und Rat brauchten, waren für uns die Mütter da. Wir lebten mit ihnen unten am Fluß, in dicht aneinandergedrängten, strohgedeckten Hütten, in einem Gewirr von Gassen, geheimen Winkeln und Verschlägen. Es gab viele versteckte Orte, wo wir uns trafen und beratschlagten. Denn die Mütter wußten nicht alles von uns, und so geborgen, wie sie glaubten, waren wir nicht. Wir hatten Feinde. Das waren unsere Väter. Damals kannten wir allerdings das Wort Vater nicht. Wilde Gesellen waren das, die da auf den weiten Ebenen droben über unserem Flußtal umherschweiften. Sie hausten draußen in der Steppe und überfielen bisweilen aus heiterem Himmel unsere Siedlung und schleppten auf ihren flinken, kleinwüchsigen Pferden alles fort, was diese nur tragen konnten. Und raubten uns sogar die Geschenke, die wir von unseren Müttern erhalten hatten.
Aber leichtes Spiel hatten sie mit uns Kindern nicht. Wir versteckten uns vor ihnen in den geheimen Winkeln und tauschten verschlüsselte Botschaften untereinander aus und führten unsere Verfolger in die Irre. Aber warum uns von Zeit zu Zeit einer unserer Brüder verriet und von einem Tag auf den andern zu den Vätern überlief, das haben wir nie herausgefunden. Die Mütter trauerten um den verlorenen Sohn und für uns gehörte er von da an zu unseren Feinden.





Briefe
Die Großmutter hütete die Frontbriefe des Großvaters wie einen Schatz; er war gefallen und die Briefe waren das einzige, was ihr von ihm geblieben war, und er konnte wunderbare Briefe schreiben. Sie las sie immer wieder und hatte dadurch, trotz allem, ein erfülltes Leben.

Karls Bruder hat die Begabung zum Briefeschreiben vom Großvater geerbt. Karl kannte einige Briefe des Bruders. Sie waren an die Mutter gerichtet und kamen aus allen möglichen Erdteilen, wohin Abenteuerlust den Bruder verschlagen hatte. Die Mutter lechzte geradezu nach diesen Briefen.
Karl überkommt oft ein unwiderstehlicher Drang danach, Briefe zu schreiben. Meist gerade dann, wenn er keine Hand frei hat. Zum Beispiel auf der Kellertreppe. Dann stellt er den Kohleneimer zur Seite, sucht in seiner Brieftasche nach einem Zettel, hat immer bloß einen bereits beschriebenen einstecken, hält diesen an die Kellertür und verfaßt im Halbdunkel einen Brief an sich selbst, den er hinterher bestenfalls bruchstückhaft entziffern kann, was ihm aber nichts ausmacht, weil er den Inhalt ja kennt.





Im Labor
als ich zuletzt mit den Breitschädeln zusammentreffe
werde ich wie hoher Besuch behandelt
ich traue ihnen nicht
sie schauen nicht wie Märchenfiguren aus
das steinerne Herz schlägt nicht mehr
hoffentlich behalten sie mich nicht hier
in Reagenzgläsern stecken menschliche Mobiles
es sind Kybernetiker
heißt es
das Leben spielt noch einmal
seine Pantomime mit ihnen durch
ohne ihr Zutun - ohne Einspruch
schon sind sie lemurisch
schon embryonal
Homunculi
auf der Rückkehr zu den Müttern
Schleimtröpfchen die verdunsten
ihr Schädel hat sich zugespitzt
sie leiden an Gehirnschwund
heißt es





Nasebohren
der Professor für Kinderpsychiatrie
erklärt einer jungen Mutter:
hindern Sie Ihr Kind nicht am Nasebohren
die Gehirnentwicklung beim Kind
ist nämlich abhängig vom Nasebohren
Nasebohren übt einen Wachstumsreiz
auf das Gehirn aus
denn Menschen
die als Kinder häufig nasebohren
haben später ein größeres Gehirn
die Mutter aber fragte
wie wiegt man das Gehirn
ohne den Körper





Konfusiologie
Keiner der Experten des Kolloquiums bemerkte, daß ich nicht in ihren Kreis gehörte, nichtsahnend weihten sie mich in die psychobiologische Bedeutung der Fußsohlen ein.

Ich lernte inzwischen die Grundregeln der Fußiologie kennen, darf sie aber nicht weitersagen. Aus Sicherheitsgründen sollen sie geheim bleiben, da die fußiologische Forschung noch in den Kinderschuhen steckt. Die Risikofaktoren sind nicht bekannt. Deshalb beschränke ich mich vorläufig auf Eigenexperimente. Seitdem ich die fünf Grundregeln anwende, haben sich meine Fußsohlen zusehends verändert, sie haben ein Gesicht bekommen.

Ich möchte die beiden gerne miteinander bekannt machen, ziehe öfter die Strümpfe aus, konfrontiere Sohle mit Sohle.

Aber noch wollen sie nichts voneinander wissen. Sie schauen aneinander vorbei, am großen Zeh.





Erwünschte Nebenwirkung
Die neue Regierung läßt Zigaretten kostenlos verteilen. Die Nebenwirkungen passen ihnen ins Konzept. Wer diese Zigaretten raucht, wird dumm. Ich habe Professoren erlebt, die mitten im Satz stockten, weil ihnen ganz einfache Begriffe entfallen waren.

Auf die Dauer wird der Raucher der Gratiszigaretten zum Zombie. Ein Freund von mir, der eigentlich einen sanften, friedlichen Charakter besitzt, hämmert - sobald er den ersten Zug getan hat - von einer Sekunde auf die andere mit bloßen Fäusten auf Wände ein und attackiert Frauen mit roter Bluse. Wenn der Anfall vorbei ist, kann er sich an nichts mehr erinnern.

Überhaupt fällt einem die Veränderung an sich selbst nicht auf, nur an anderen. Zum Glück bin ich bis jetzt stets mit vorzüglicher Hochachtung

immer der Eure, immer der Gleiche.





Kennkarte
Seitdem man die maschinenlesbaren Kennkarten eingeführt hat, ist jeder von uns für die Behörden ein offenes Buch. Die Charaktereigenschaften sind unsichtbar auf der Kennkarte codiert. Sie wissen alles über einen, sie kennen einen mehr als man sich selbst. Spätestens alle fünf Jahre muß man sich einem psychologischen Test unterziehen, dann werden die Daten auf den neuesten Stand gebracht. Als schlimmster Makel gilt Antriebslosigkeit. Und diesen Vermerk wird man sein Leben lang nicht mehr los. Die Antriebslosen, die Faulen, die Bequemen, die Trägen passen nicht ins Bild, sie unterscheiden sich gravierend von all den dynamischen Persönlichkeiten in den Büros. Ihre Redeweise ist schleppend und stockend. Sie können noch so sehr stillhalten, sich an ihrem Schreibtisch festklammern, je langsamer sie sich bewegen, um so mehr kennt man sie aus der allgemeinen Hektik heraus.

Schon während der Schulzeit werden sie auffällig, besonders in der Turnstunde, da sie nur im Schneckentempo vorwärts kriechen und sich wie die Faultiere an die Turnstange klammern. Als Erwachsene blättern sie in Journalen, statt in Akten zu wühlen, kosen am liebsten mit Katzen und schlafen wie Katzen 16 Stunden. Selbst der Pfarrer verzichtet auf solche Schäfchen, da sie während der Sonntagspredigt pennen. Anscheinend ist kein Kraut gegen diese ihre Eigenheit gewachsen. Selbst probate Hausmittel, die sonst gegen alles gut sind, versagen. Lediglich wenn Mutter Krapfen bäckt, leuchten die Augen des Antriebslosen auf und er stimmt ein Freudengeheul an. Aber der Temperamentsausbruch ist schnell verpufft. Mit einem zufriedenen Lächeln, das auf seinem Gesicht stehengeblieben ist, sackt er in sich zusammen und überläßt sich wieder seinem Müßiggang. Ob es sich um eine Krankheit handelt oder um eine innere Einstellung, das ist wissenschaftlich noch nicht abgesichert. Vermutlich gibt es aber einen Erreger. Der Umgang mit den Betroffenen ist jedenfalls riskant. Man geht ihnen besser aus dem Weg, abgesehen davon, daß man leicht über sie stolpern könnte, da sie überall herumlümmeln. Mancher Sozialhelfer wollte ihnen auf die Sprünge helfen, sie aufrütteln, machte sich für sie stark, und wurde am Ende selber schwach.

Auch manche Demonstranten, die einen Antriebslosen am Wege lagern sahen, wurden angesteckt. Mitten während der schönsten Demonstration hielten sie inne. Transparente glitten ihnen aus den Händen. Sie vergaßen, worüber sie aufbegehrten, schlugen sich in die Büsche, schlenderten zum Bachufer rüber und verträumen von da an die Tage.




Das magische Auge
Hawk, Physiker und Astronom, ist nicht zu fassen. Im Schrank hat er sich nicht versteckt, nicht unterm Bett und nicht in der Kommode. Er ist hier und zugleich dort, ist im Zimmer und zugleich fort. Wenn ich meine Augen unwegsam verdrehe, meinen Montagepunkt bewege, und auf diese Weise in ein anderes Universum der Wahrnehmung überwechsle, grinst mich sein Schalksgesicht aus den Mustern der Tapete an, und zugleich schillert er seltsam charmant in zehn Dimensionen - in der Spiegelwelt, in der Spiegel im Spiegel Spiegelwelt, in der Spiegel im Spiegel im Spiegel Spiegelwelt......
Mal lacht er mich an als Frau, verspottet mich als Mann, mal winzig klein, mal riesengroß, mal Mann im Mond, mal zwanzig Jahre jung, mal Greis.
Hawk ist in allen Wirklichkeiten daheim: im Unterbewußten, im Überbewußten, im transzendental Unbewußten, im transzendental Überbewußten, in der hierseitigen Wirklichkeit, in der hierseitigen Traumwirklichkeit, in der jenseitigen Wirklichkeit und in der jenseitigen Traumwirklichkeit.
Fast wäre es mir geglückt, und ich hätte ihn erwischt, da zersplittert er zu Fraktalen und entschlüpft durch ein Wurmloch in ein Babyuniversum.





Medikus
Seit sechs Monaten leidet Karl an diversen Wehwehchen. Kaum hat er eines überstanden, sucht ihn das nächste heim. Momentan quälen ihn unerträgliche Zahnschmerzen.

Karl ist in einem Labor beschäftigt. Sein Kollege, der seit sechs Monaten irgendwelche Experimente durchführt, erkundigt sich täglich nach seinem Befinden. Über sich selbst und darüber, was das für Experimente sind, schweigt er sich aus.

Eines Tages eröffnet der Kollege, Karls Leidenszeit sei nun bald zu Ende. Karl wundert sich und will wissen, was er damit meine. Endlich könne er es ihm sagen, erklärt der Kollege. Er und seine Frau hätten sich seit einigen Monaten Sorgen um die Gesundheit ihrer Tochter gemacht. Karl dagegen habe ihn damit beeindruckt, daß er früher nie krank gewesen sei und anscheinend über eine Bärennatur verfüge. Deshalb habe er ihm mit Hilfe der Alchimie und Magie die Krankheiten der Tochter angehext, damit er sie ausheile. Und so seien der Tochter Schmerzen und Medizinen erspart geblieben. Bis auf ein Geschwür am linken hinteren Backenzahn sei die Tochter nun gesund. In ein Paar Tagen werde Karl auch davon erlöst sein. Sicherlich läge Karl daran, die Tochter nun auch persönlich kennenzulernen. Karl ist aber der Meinung, er habe schon genug durch diese Tochter durchgemacht.

Eine Woche nach diesem Gespräch steht er in der Mittagspause gerade vor der Kantinenkasse der Firma. Da steuern zwei Frauen auf ihn zu. Die eine erkennt er sofort. Sie wirkt unbeschwert und schmerzfrei. Die dickliche Blondine an ihrer Seite scheint sie unsichtbar zu gängeln. Man verkennt anscheinend seine Absichten. Er interessiert sich ja, wenn überhaupt, nur für den Gesundheitszustand der Dame. Genau genommen, könnte sie ihm fast gefallen - ohne diese Pickel im Gesicht. Die müssen noch weg, entscheidet er innerlich. Obgleich er eigentlich genug hat von all diesen Frauenleiden.

Impressum

Texte: Aquarelle zu den Texten sind von Britta Ahrens
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /