Ekkehard
sie hatte sich daran gewöhnt
dass sie stets seine Nähe spürte
wie einen Hauch
obwohl sie sich genierte
weil er ihrem Freund
über die Schulter blickte
wenn dieser sie küsste
aber dass er ihr
aus der vierten Dimension
ins Lenkrad fasste
verdross sie
Die großen Persönlichkeiten
Ich bewundere sie ja und gratuliere ihnen zu ihren runden Geburts- und Todestagen. Erst vorgestern habe ich einem von ihnen zum 400. Geburtstag die Hand geschüttelt und meinen Spruch aufgesagt. Er beugte sich freundlich zu mir herab und sagte etwas Bedeutendes, das ich leider nicht verstehen konnte. Aber seine sonore Stimme brachte mich innerlich zum Vibrieren, ich fühlte mich gekrault wie eine Katze.
Nur eines stört mich an den großen Persönlichkeiten: dieses Aufschauenmüssen.
In memoriam
Der da vorn - das kann doch nur Herr Hubertus sein. Auf sein Fahrrad gestützt steht er vor dem Schaufenster der Goethebuchhandlung. Groß und hager wie sonst niemand, den ich kenne, man muss zu ihm aufschauen, aber nicht nur aus diesem Grund.
„Hallo Herr Hubertus, wir haben uns lange nicht mehr gesehen!"
Herr Hubertus will sich in der Buchhandlung die Neuübersetzung eines russischen Lyrikers anschauen und möchte, dass ich mit hinein gehe.
„Eigentlich bin ich in Eile, Herr Hubertus, aber wer weiß, wann ich Sie wieder mal treffe."
„Kommen Sie doch einfach in das türkische Café am Ring, da bin ich fast jeden Nachmittag", schlägt er vor. Wo sich das Café genau befindet, kann er mir allerdings nicht sagen. In der Buchhandlung kramt er hinten im Fach für Stadtpläne herum. Ich unterhalte mich inzwischen mit der Buchhändlerin. Mit einemmal fixiert sie mich und sagt:
„Sie wissen, ich mag Sie, aber gerade eben hatten Sie wieder so einen seltsamen Blick. Schon vorhin habe ich das bei Ihnen beobachtet. Was ist mit Ihnen, geht es Ihnen nicht gut."
„Mir fehlt nichts", entgegne ich.
„Jetzt wieder", unterbricht sie mich.
„Das liegt daran", setze ich hinzu, „dass ich Herrn Hubertus ansehe, der direkt hinter Ihnen steht. Herr Hubertus, ich muss jetzt wirklich los!"
Ich versuche der Buchhändlerin die Situation zu erklären:
„Man wird einsamer, je älter man wird. Vor vier Wochen ist Herr Hubertus gestorben. Natürlich können Sie ihn nicht sehen. Ich habe einen guten Gesprächspartner an ihm verloren, zum Glück allerdings nicht ganz. Gelegentlich trifft er sich immer noch mit mir."
Die Buchhändlerin schaut mich an, als sei ich soeben verrückt geworden.
„Jetzt fasst er sie gerade an", sage ich. Die Buchhändlerin erbleicht.
Der Pensionär
Sie also auch hier. Wir kommen wohl beide von der Firma nicht los, verbringen unseren Achtstundentag im Büro - und das ohne Bezahlung, als seien wir nicht schon seit drei Jahren pensioniert. Ab Oktober ist für mich endgültig Schluss. Dann lasse ich mich hier nicht mehr blicken, wie man zu sagen pflegt. Es geht ihnen wie mir, lieber Beer, Sie sind geistig immer noch in der Firma - unsichtbar für die Kollegen.
Identität
Max, Poet und Philosoph in einem, kann reden was er will, die Gespräche laufen weiter, als sei er unsichtbar. Dabei hätte Max zu jedem Thema Tiefsinniges beizutragen und würde nicht bloß daher plappern wie die jungen Leute hier in der Runde. Bis vorhin hatte er sich selber für jung gehalten. Doch plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Er ist nicht der, für den er sich gerade noch gehalten. In Wirklichkeit ist er ein Mann und eine Frau aus dem 18. Jahrhundert, und die brauchen dringend seine Hilfe. Wenn er sich nicht umgehend um sie kümmert, verhungern sie. Schade, dass er die beiden jetzt erst kennen lernt. Er wendet sich an den Kreis, ausnahmsweise hört man ihm zu: Tut mir leid, vorläufig werde ich keine Zeit mehr für junge Leute haben.
der Lehrling
galt bei den Kollegen so wenig
dass er eines Tages Luft für sie war
und keiner ihn sah
von da an stand er allen im Weg
und sie stolperten
über dieses unsichtbare Hindernis
da sperrten sie die Türen zu
und machten Jagd auf ihn
durchs Großraumbüro
aber der Lehrling spielte mit ihnen
Blinde Kuh
der dicke Direktor mit der Zigarre
der kannte einen Trick
er setzte sein bestes Lächeln auf
und streckte die Hand hin ins Leere
der Lehrling nahm den Köder an
und wurde zum Schrecken der Belegschaft
wieder sichtbar
Die Frage
Rolf, ein hübscher junger Mann, schlank, gut gekleidet, geht rechts neben mir. Wir sind auf dem Weg zum Kasino. Ich unterhalte mich gern mit Rolf. Wir sprechen zuerst über einen neuen Kollegen aus England, plötzlich beginne ich mich zu wundern und ich sage zu ihm: „Ich hätte da eine Frage. Sind Sie nicht vorige Woche gestorben?"
Kaum habe ich das ausgesprochen, ist Rolf wie weggezaubert. Und ich kann ihn mit all meiner Einbildungskraft und Konzentration nicht an meine Seite zurückholen. Es gäbe noch so viele Fragen, die mir auf der Zunge lägen. Aber gerade diese eine Frage hätte ich nicht stellen sollen.
Der Unfall.
Es war für mich ein Schock, als ich gestern von dem Unfall in der Zeitung las bei dem mein Kollege Schindler und seine Frau umgekommen waren. Die Kollegen können es nicht fassen, sie sprechen über Schindler. Alle möchten wissen, wie der Unfall geschehen konnte. Ich sehe Schindler an seinem Schreibtisch, als sei das alles nicht wahr. Gut sieht er aus, nicht mehr so mager wie noch vor ein paar Tagen. Fleisch hat er auf den Rippen, und seine Finger gleichen nicht mehr Spinnenbeinen. Aber er wirkt abwesend, ist nicht mehr so liebenswürdig und entgegenkommend wie ich ihn kenne. "Ach, diese Zeitungsschmierer", sagt er schließlich, "erstens war ich an dem Tag nicht nach Griesbach unterwegs, sondern nach Garmisch, zweitens saß ich alleine im Auto, also ohne meine Frau, drittens ist überhaupt kein Unfall passiert."
Aber er täuscht sich, ich weiß es, er hat es selber bloß noch nicht begriffen. Schindler ist tot.
Gäste
In ihrer großen Wohnung empfingen Lothar und seine Frau häufig Gäste. Vorige Woche erlag der Gastgeber einem plötzlichen Herzversagen. Der große Freundeskreis, zu dem auch ich gehörte, versammelte sich nach der Bestattung in der Wohnung des Verstorbenen. Wir wollten uns gemeinsam von Lothar verabschieden. Ich hatte als Abschiedsgeschenk einen Stapel Unterhaltungsliteratur für Lothars weite Reise mitgebracht. Lothars Frau stellte die Bücher ins Regal. Während des Abends sah ich Lothar mal bei dieser mal bei jener Gruppe stehen. Er beteiligte sich allerdings nicht an den Gesprächen. So zurückhaltend hatte ich ihn bisher nie erlebt; er wurde sonst durch seinen Witz immer sehr schnell zum Mittelpunkt. Mir gegenüber fand er, als ich ihn ansprach, gleichwohl ein paar, wenn auch belanglose Worte. Er kam mir insgesamt verändert vor. Eine stille Heiterkeit leuchtete aus seinen Zügen, als wäre er in ein Geheimnis eingeweiht worden, das keinen von uns was anging, so dass es für mich geradezu undenkbar war, ihn danach zu fragen. Vielleicht aber hatte er sich seiner Frau offenbart. Ich wartete ab, bis alle Gäste gegangen waren und versuchte sie auszuforschen. "Über den Lothar habe ich mich heute ein wenig gewundert, er wirkte nicht im mindesten bedrückt, er schien sich eher auf etwas zu freuen." Sie fing an zu weinen, und ließ sich nicht beschwichtigen, obwohl ich mich bemühte, sie zu trösten und meinen Arm um sie legte. Da wurde mir klar, dass außer mir keiner der Anwesenden Lothar gesehen hatte.
Mumie
Ich bin ein Mumifizierer, genau genommen noch kein richtiger, ich bin erst in der Ausbildung. Durch Mumifizieren kann man den Geist eines Verstorbenen daran hindern, sich vollständig vom Irdischen zu trennen. Dadurch hat dieser die Möglichkeit, sich weiterhin in der Welt umzuschauen und sich seine Gedanken zu machen. Und man kann ihn ansprechen, und ihm Fragen stellen. Das hat natürlich nur bei einer bedeutenden Persönlichkeit Sinn.
Wir haben gerade so eine in Arbeit, ob es sich um einen Theologen, einen Bundespräsidenten oder einen Philosophen handelt, weiß ich nicht.
Meine Kollegin und ich sollen unsere Arbeit erledigen und zwar ordentlich, und uns um sonst nichts kümmern, darauf legt unsere Meisterin Wert. Dabei lerne ich diesen Beruf doch nur deswegen, weil ich mit großen Geistern in Kontakt kommen möchte. Sie reden ja nicht mit jedem, aber mit denen, die sie mumifizieren schon.
Meine Kollegin, die mich einweist, ist eine leichtfertige Person. Wir haben die Mumie eingesalbt und bandagiert, dann ist uns aber der Bindfaden ausgegangen. Sie hätte welchen besorgen sollen, stattdessen ist sie ins Kino gegangen. Die Mumie ist sehr groß und hager, da braucht man viel Bindfaden.
Um auszuprobieren, ob die Mumie stabil ist, richten wir sie auf und lehnen sie an die Wand. Denn eine Mumie spricht nur, wenn sie steht. Doch da fällt
ihr das Haupt nach vorn auf die Brust, wie bei einem Gekreuzigten, was an und für sich durch den Bindfaden verhindert werden sollte.
Die Mumie beklagt sich, sie habe Kopfweh. Wenn wir sie nicht korrekt behandeln würden, sollten wir sie lieber gleich einäschern.
Dabei ist es doch eine Ehre für einen Verstorbenen, wenn man ihn mumifiziert.
Götterwelt
Ich bin mit Göttern umgegangen, dort drüben in ihrer mythischen Welt, in der jedes Ding ein Symbol ist, so dass man sich als Besucher in einer Welt voller Bedeutungen bewegt, ungefähr wie in einem Museum, das angefüllt ist mit erhabenen Kunstwerken, und über jedes Objekt gibt es einen Kanon von Interpretationen.
Die Götter und die Göttinnen sind mehr als sie selbst und können so nie ganz sie selbst sein. Darein müssen sich auch die ganz jungen schicken, und Rituale und Zeremonien einhalten, selbst wenn sie spüren sollten, dass es jenseits davon noch ein anderes, ein wirkliches Leben gibt. Das ist der Preis, den sie für ihre Unsterblichkeit zahlen.
Aber eine von ihnen, Tochter des Fischerkönigs, eine junge Frau, vollkommen an Gestalt und Gesicht, wie Göttinnen eben so sind, gab sich nicht mit ihrem Los zufrieden. Sie wandte sich an mich. Ich solle ihr zur Flucht verhelfen. Sie wolle das echte Leben kennen lernen und würde dafür gerne auf die Privilegien der Götterwelt verzichten.
Wanda und ich wohnten damals in einer Altbauwohnung. Da es mir schwer fällt „nein“ zu sagen, erst recht bei einer Göttin, versprach ich ihr, sie in unserem Gästezimmer unterzubringen. Kaum hatte Wanda ihr das Zimmer gezeigt, tauchte der Vetter der Göttin auf, der ihr heimlich gefolgt war.
Einerseits sah er aus wie ein junger Gott, vollkommen an Gestalt und Gesicht, wie Götter halt so sind, und er verlangte, sie solle mit ihm nach Hause kommen. Andererseits war er sich uneins mit seiner Götternatur. Er stand sich selbst in unserem Flur gegenüber: An der einen Wand die Menschengestalt des Gottes, mit einem Menjou-Bärtchen, stöckchenschwingend, an der anderen die Gottgestalt des Menschen. Die beiden schauten sich erstaunt an. Der mit dem Bärtchen meinte locker zu seinem vis-a-vis: „Mach du was du willst. Ich bleibe hier, ich liebe mein Kusinchen.“
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2009
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Widmung:
einer Anregung zu verdanken von Hannah Hanszen (Die Unsichtbare)