Der Fisch
ein Fisch bin ich
ein Meerestier
ich spüre eine Kraft in mir
sie treibt mich durch die
grüne Gischt
als gäbe es ein Ziel für mich
als zöge es mich hin
zu einem fernen Kontinent
jenseits der Flut
von einem Gestern
einem Morgen
weiß ich nichts
weiß nichts von einem
andern Tag
es gibt nur dies
die klare Sicht
es sprüht die Gischt
es braust die Flut
was aber regt sich da in mir
als ob ich Atem holen soll
in einem andern Element
ich tauche auf
und sitze in der Runde hier
ein Fisch war ich
ein Meerestier
Die Reise
Während ihrer ersten gemeinsamen Reise geriet ein junges Paar an den Rand des Urwalds. Die beiden wagten indessen nicht, diesen zu betreten, da sie mit den Riten und Gebräuchen der Dschungelbewohner nicht vertraut waren. Doch das unentwegte monotone Trommeln, der süße, verlockende Duft, der nachts aus dem Urwald wehte, erregten ihre Neugier.
Eine Woche nach ihrer Ankunft erstanden sie auf dem Marktplatz vor ihrem Hotel ein schmetterlingsförmiges Amulett von einem dunkelhäutigen Eingeborenen und erkundigten sich bei dem Mann nach der Bedeutung des Anhängers. Er tat geheimnisvoll. Wenn sie ernsthaft in die Mysterien des Urwalds eingeweiht werden wollten, müssten sie dem Geheimbund der „Nachtschwärmer" beitreten und sich verpflichten von nun an mindestens zweimal in der Woche ein bestimmtes, kompliziertes Ritual einzuhalten. Er legte ihnen eine Beitrittsurkunde vor. Sie überlegten nicht lange und unterschrieben mit ihrem Blut.
Eine Woche verging. Sie vermieden es über den Pakt, auf den sie sich eingelassen hatten, miteinander zu reden. Da aber nichts Bemerkenswertes geschah, legte sich ihre anfängliche innere Unruhe. Sie lasen in einer kleinen Broschüre, die ihnen der Medizinmann zusammen mit der Urkunde überreicht hatte, über das Ritual nach und machten sich darüber lustig.
Eines Morgens, sie saßen eben bei hellem Sonnenschein in ihrem Hotelzimmer beim Frühstück, beobachteten sie am Fußboden einige schwarzweißgestreifte Raupen, die tranig umherkrochen, und sich wie Paragraphen krümmten.
Im Laufe der nächsten Tage vermehrten sich die kleinen Ungeheuer rapide, bis der ganze Boden des Hotelzimmers übersät war. Die beiden jungen Leute konnten sich kaum mehr frei in ihrem Appartement bewegen. Um diesen winzigen Monstern auszuweichen, waren sie zu umständlicher Choreographie ihrer Schritte genötigt. Angewidert verzichteten sie auf die versprochenen Enthüllungen über die Geheimnisse des Urwalds und reisten ab.
In der Kölner Wohnung, die sie gemeinsam beziehen wollten, waren die kleinen Ungeheuer zu ihrem Entsetzen schon da, als wären sie ihnen hierher vorausgeeilt, und hatten nun die Stühle, das Sofa, das Bett und das Büffet erklommen, gleichsam die nächste Etage des Lebensraums der jungen Leute, die sich nun nicht nur jeden ihrer Schritte überlegen mussten, das Ausweichmanöver hatte sich auf ihr gesamtes Verhalten ausgedehnt; es hatte etwas Rituelles, Zwanghaftes bekommen. Sie konnten nicht mehr unbefangen miteinander reden. Vor allem nicht über die Zeit, bevor sie sich kennengelernt hatten; statt sich liebevoll in die Augen zu schauen, starrten sie auf ihre Schuhspitzen. Innerhalb der nächsten Tage drangen die Raupen Zentimeter für Zentimeter in Kopfhöhe vor.
Die Spannung zwischen dem Paar wurde unerträglich. Sie gingen sich aus dem Weg. Der Mann resignierte und zog sich in sein Studierzimmer zurück. Die junge Frau aber wollte nicht kapitulieren; sie suchte nach einem Ausweg und wandte sich um Hilfe an einen Nachbarn, einen Junggesellen, der auf dem selben Flur wohnte und als freundlich und gefällig galt. Sie flehte ihn an: Er möge ihr und ihrem Mann um Gotteswillen helfen.
Dieser Nachbar also, der war ich. „Natürlich verstehe ich genug von Tiefenpsychologie, um die Symbolik dieser Geschichte deuten zu können. Die schwarzweißgestreiften Raupen sind nichts anderes als die Indikatoren einer tiefsitzenden Persönlichkeitsspaltung infolge unerlöster Libido. Allmählich verpuppt sich, je weiter sich diese Minidrachen nach oben bewegen, von der Basis her die gesamte Persönlichkeit der Beziehungspartner, bis sie sich nur noch wie an Schnüren gezogen bewegen können. Liebe Frau, ich würde euch beiden ja gerne helfen und die Biester zertreten. Aber ich bringe es nicht fertig, mich ekelt, mich ekelt."
Die Echse
Trude wohnt im Souterrain zusammen mit einer Echse. Die Echse ist ein liebes Tier, sieht ein bisschen aus wie Krokodil, ist ungefähr so groß wie Dackel, geht brav an Leine und kann sprechen. Sie redet jedoch nur mit Trude und nur dann, wenn sie mit ihr allein ist. Einmal habe ich beide belauscht. Sie machten sich lustig über meinen rechten Schuh. Wenn ich abends ausgehen möchte, leihe ich mir die Echse aus. Sie ist nämlich zugleich mein linker Schuh. Mein rechter Schuh hingegen ist unkompliziert. Er flackt genau da, wo ich ihn trittlings hinbefördert habe und rührt sich erst von der Stelle, wenn ich ihn anziehe.
Elefant
Wir bewohnen die 37. Etage. Tiere dürfen in unserem Hochhaus nicht gehalten werden. Unsere Tochter aber ist ein Elefant. Man sieht es ihr nicht an. Man hält sie für ein ganz normales zehnjähriges Mädchen. Das täuscht leider. Ein chinesischer Astrologe hat ausgerechnet, dass sie in Wahrheit ein Elefant ist. Unsere Tochter haben wir natürlich inzwischen darüber aufgeklärt, worauf sie uns wehmütig gebeten hat: „Wenn es soweit ist, dass ich mich wandle, erschießt mich und verkauft die wertvollen Stoßzähne." Das brächten wir natürlich nicht übers Herz. Zudem stehen Elefanten doch unter Naturschutz. Leider habe ich Herrn Ka von der 38. Etage gegenüber meinen Mund nicht halten können. Er muss uns denunziert haben. Wie könnte sonst die Zollfahndung auf uns aufmerksam geworden sein. Sie wenden heutzutage raffinierte Tricks an, auf die man nicht gefasst ist. Der Zollinspektor liest der Tochter zuerst zwanzig Sätze vor, sie soll diese wortwörtlich wiederholen. Die Tochter übersetzt die Sätze innerlich ins Indische, weil sie ja ein indischer Elefant ist. Sie merkt sie sich und sagt sie nach einer Weile auf. Zuerst auf Indisch. Beim Rückübersetzen ins Deutsche passieren ihr ein paar kleine Ungenauigkeiten in der Wortwahl, indes: Mit diesem typischen Elefantengedächtnis hat sie sich verraten. Der Inspektor will trotzdem ein Auge zudrücken. Solange das Wachstum der Stoßzähne bei unserer Tochter nicht einsetzt, darf sie bei uns wohnen bleiben.
Texte: aus Magische Tier und Geisterseher (Magie Verlag)
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2009
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