Asylsuche
Unsere flugbereiten Seelen zieht es zu den Sternen, zu den fernen Attraktoren, dort wo Götter und Heroen immerwährend Feste feiern. Abschied nahmen sie von ihren Lieben. Und statt ihre Schwingen auszubreiten, harren manche ängstlich aus am Rand der Welt, festgekrallt am hohen Horst. Denn die Paradiese unserer Galaxis sind seit abertausend Jahren überfüllt, ausgebucht bis auf den letzten Winkel. Einsam müssen fremde Seelen durch die Nächte, durch die leeren Räume schweifen und durch schwarze Löcher tunneln, ständig auf der Hut vor Turbulenzen, vor dem Feuerregen der Kometen, und der Engel scheucht sie von den Pforten. Astronomen warnen schon seit langem: Wer die große Reise antritt, muss mit neun Millionen Jahren Flugzeit rechnen. Bis in einer anderen Galaxis freundlicher gesinnte Götter ihm Asyl gewähren. Doch das steht in den Sternen.
Das magische Auge
Hawk, Physiker und Astronom, ist nicht zu fassen. Im Schrank hat er sich nicht versteckt, nicht unter dem Bett und nicht in der Kommode. Er ist hier und zugleich dort, ist im Zimmer und zugleich fort. Wenn ich meine Augen unwegsam verdrehe, meinen Montagepunkt bewege, und auf diese Weise in ein anderes Universum der Wahrnehmung überwechsle, grinst mich sein Schalksgesicht aus den Mustern der Tapete an, und zugleich schillert er seltsam charmant in zehn Dimensionen - in der Spiegelwelt, in der Spiegel im Spiegel Spiegelwelt, in der Spiegel im Spiegel im Spiegel Spiegelwelt...... Mal lacht er mich an als Frau, verspottet mich als Mann, mal winzig klein, mal riesengroß, mal Mann im Mond, mal zwanzig Jahre jung, mal Greis. Hawk ist in allen Wirklichkeiten daheim: im Unterbewussten, im Überbewussten, im transzendental Unbewussten, im transzendental Überbewussten, in der hierseitigen Wirklichkeit, in der hierseitigen Traumwirklichkeit, in der jenseitigen Wirklichkeit und in der jenseitigen Traumwirklichkeit. Fast wäre es mir geglückt, und ich hätte ihn erwischt, da zersplittert er zu Fraktalen und entschlüpft durch ein Wurmloch in ein Babyuniversum.
Die Krämersleute erzählen
Dieses Haus hat noch die Oma aus Sibirien gebaut, inzwischen ist vieles drum- und dran gebaut worden, aber das Herzstück, der große quadratische Raum, ist noch gut zu erkennen. Rechterhand waren die Schweine untergebracht, an der Wand entlang zieht sich eine Schräge. Das war der Abfluss, ein Stück der kniehohen Trennmauer zwischen Stall und Wohnraum ist noch erhalten. An der Rückwand schlüpften die Hühner durch eine Maueröffnung rein und raus. Sie wurde zugemauert, als die Eierpreise sanken. In der Mitte des Raumes gab es die Feuerstelle, sie wurde von der Oma gehütet. Durch eine Dachluke zog der Rauch ab. Hier rückte abends die Sippe zusammen. Sie erzählten sich Schnurren und Gruselgeschichten in der ausgestorbenen Sprache, zechten Met und lachten aus vollem Halse. Aus den flackernden Flammen holten sie sich fette Brocken und heiße Fladen. Später schliefen sie in Felle gehüllt auf dem nackten Boden ein.
Zeitreise
Römischer Marktplatz. Ein Händler preist seine Waren an: 'Frauenhaar, Bernstein, Gänsefedern, Pelze aus Germanien.' Von weit hinten brüllt einer über den Platz: 'Telefon für Caesar!' Was für ein Stilbruch, mich alten Römer ans Telefon zu rufen; abgesehen davon, befinde ich mich mitten in heftigem Wortwechsel mit Claudius, der vor kurzem mit reicher Wagenladung wohlbehalten von einer Reise zurückgekehrt ist. Angeblich aus Indien. Ob man ihm das glauben kann. Wo liegt Indien? Sind die Längen- und die Breitengrade bekannt? Ich bin selber nie aus Rom hinausgekommen. Claudius, der Weltreisende, hält eine kleine Weltkugel in der Hand, spielt damit und erhebt seine Stimme: 'Wer kauft Drogen aus Indien.' 'So weit ich weiß, kannten die alten Römer den Globus noch gar nicht, abgesehen von Längen- und Breitengraden.' 'Du unterschätzt die alten Römer', trumpft Claudius auf. 'Du hättest an einem Seminar bei Strabon teilnehmen sollen!' Was kann man dem entgegenhalten. Gut, dass man mich ans Telefon ruft.
Maskerade
Jeden Samstagabend verkleidet sich unsere Pfarrersfrau; sie wirft sich eine Mönchskutte über, klebt sich einen Rübezahlbart mit nach vorn gedrehter Spitze ans Kinn und setzt eine große Brille mit breitem Rand und dunklen Gläsern auf. Unsere Pfarrersfrau ist nicht gerade eine Schönheit, aber so gefällt sie mir eigentlich ganz gut. Doch dann schwingt sie sich aufs Fahrrad und radelt in die Stadt. Dort besucht sie Bars und wettert gegen das Saufen. Ich habe inzwischen schon mit ein paar Quartalssäufern gesprochen. Sie sollen sich bloß von so einer Naturapostelirren nicht irre machen lassen.
Urwelt
Ich bin in der Urwelt aufgewachsen. Das Zentrum dieser Welt war eine hohe, kuppelförmige Felsenhöhle. Hier beteten wir zu den Göttern. Ich habe mir die Gebete leider nicht merken können und auch nicht wie die Götter geheißen haben. Aber innerlich höre ich noch heute das monotone dumpfe Gemurmel, das wie zu fernem Donner anschwellen konnte. Und ich sehe die Götter von den Wänden der Höhle ringsum herabschauen, mächtige Reliefs, rotbraune Gewänder im Schein des heiligen Feuers, das bis zu ihnen hinauf flammt. Dies war die Stätte, welche die Erwachsenen bei feierlichen Anlässen aufsuchten, dort holten sie den Ratschluss der Götter ein. Aber wir Kinder konnten mit den Göttern nicht reden. Wir konnten nur erschauern. Dieser heilige Schauer überkommt mich gelegentlich noch heute, obwohl diese Welt längst für mich versunken ist.
Wenn wir Kinder Sorgen hatten und Rat brauchten, waren für uns die Mütter da. Wir lebten mit ihnen unten am Fluss, in dicht aneinandergedrängten, strohgedeckten Hütten, in einem Gewirr von Gassen, geheimen Winkeln und Verschlägen. Es gab viele versteckte Orte, wo wir uns trafen und beratschlagten. Denn die Mütter wussten nicht alles von uns, und so geborgen, wie sie glaubten, waren wir nicht. Wir hatten Feinde. Das waren unsere Väter. Damals kannten wir allerdings das Wort Vater nicht. Wilde Gesellen waren das, die da auf den weiten Ebenen droben über unserem Flusstal umherschweiften. Sie hausten draußen in der Steppe und überfielen bisweilen aus heiterem Himmel unsere Siedlung und schleppten auf ihren flinken, kleinwüchsigen Pferden alles fort, was diese nur tragen konnten. Und raubten uns sogar die Geschenke, die wir von unseren Müttern erhalten hatten.
Der richtige Ton
"Und fände ich den richtigen Ton, so flöge ich davon."
Fünf Jahren war ich in russischer Gefangenschaft. Fünf Jahre probierte ich systematisch alle Töne durch, zu denen meine Stimme fähig war. Und endlich war mir, als habe ich den richtigen Ton getroffen, und ich sei steil wie eine Lerche aufgestiegen und davongeflogen. Doch ich hatte leider nur geträumt und erwachte in der Baracke hinter Stacheldraht. Aber den Ton hatte ich mir genau gemerkt, und ich intonierte ihn bis ich ihn nach einem halben Jahr unbegrenzt anhalten konnte, was eine Technik erfordert, wie sie die Didscheriduspieler beherrschen, die gleichzeitig aus- und einatmen können.
So glückte mir schließlich die Flucht. Solange ich mich über russischem Gebiet befand, blieb ich in der Luft. Der Ostwind trug mich fort über die Wälder und Steppen Sibiriens. Ein paar Tage schloss ich mich einem Zug von Wildgänsen an, bemerkte aber dann, dass sie nicht in meine Richtung flogen. Über dem Uralgebirge kam ich ins Trudeln und wäre fast abgestürzt. Nach langem Umherschweifen und einer Zwischenlandung in Kiew, erfasste mich ein Sturm und ließ mich erst über dem Schwarzen Meer aus den Fängen. Von da an hielt ich mich an den Ariadnefaden Donau und gelangte endlich nach Hause.
Es war Ostern und die Eltern hatten Verwandte zu Besuch. Keiner erkannte mich. Sie stießen sich an meinem verwilderten Aussehen, meinen schulterlangen Haaren und meinem struppigen Bart und wiesen mir die Tür, was mich kränkte. Wütend forderte ich sie auf, sie sollten ihr Geschwätz beenden und sich gefälligst um den verlorenen Sohn kümmern. Sie waren nahe daran über mich herzufallen, da erkannte mich endlich die Großmutter.
Nachdem ich mich einige Tage von meinen Strapazen erholt hatte, bat man mich, ich solle ihnen erzählen, was ich in den letzten fünf Jahren erlebt hatte. Doch mein Kopf war wie leergefegt, als habe ich alles nur geträumt, als habe der Ton alle Erinnerung verdrängt, sozusagen übertönt. Und auch die Landschaften, über die ich geflogen war, konnte ich mir nur mehr schattenhaft vergegenwärtigen.
Sehr bald sah ich ein, dass ich mich in die Gemeinschaft, in der er aufgewachsen war, nicht mehr einordnen konnte und auch nicht wollte. Mein Vater forderte mich auf, mich von seinen langen Haaren zu trennen. Aber gerade die liebte ich besonders an mir. Im übrigen legte ich keinen Wert auf meine äußere Erscheinung. In Russland war es um anderes gegangen, nämlich ums nackte Überleben. Wo immer ich in dem kleinen Vorort, in dem meine Familie wohnte, aufkreuzte, erregte ich Missfallen. Und so wurde ich bald zum allgemeinen Gesprächsthema. Man hielt mich für verrückt, zumindest aber für verschroben, und man machte sich bestenfalls über mich lustig, wenn ich nicht gar fürchten musste, dass irgendwelche Schlägertypen über mich herfallen. Wenn ich mich hier nicht aus dem Staub mache, werde ich wirklich noch verrückt, sagte ich mir, und lande am Ende im Irrenhaus. Da hätte ich genau so gut in Russland bleiben können. Ich packte meinen Koffer und reiste nach Frankfurt. Nach einer Woche, als der Wirt mir die Hotelrechnung präsentierte, stellte ich fest, dass ich kein Geld mehr auf meinem Konto hatte. Die Familie hatte anscheinend während meiner Abwesenheit in Russland meine Ersparnisse aufgebraucht. Zum Glück wohnte ihn Frankfurt ein Kamerad, den ich aus der Gefangenschaft kannte, und der mir nun aus der Klemme half und mich außerdem bei sich aufnahm.
Seit ich mich in Frankfurt aufhielt, bemerkte ich, dass sich stets ein Humphrey Bogarttyp mit Schlapphut in meiner Nähe aufhielt, mich anscheinend beschattete. Mein Kamerad hatte Kontakte zum Verfassungsschutz und er erfuhr, dass man mich für einen russischen Spion hielt. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass ich infolge meines langen Russlandaufenthalts einen leichten russischen Akzent angenommen hatte, obwohl ich - bis auf wenige Brocken - kein Wort Russisch verstand. Ich ging nun öfter zu Großveranstaltungen, dort gelang es mir meist meine Verfolger abzuhängen.
Einmal geriet ich auf diese Weise in eine Versammlung der Zeugen Jehovas, die zu ihrem Weltkongress in einem riesigen Zelt zusammengekommen waren. Zu meiner eigenen Verwunderung, fühlte ich mich in ihrem Kreis geborgen und erlebte ein nie gekanntes Gemeinschaftsgefühl.
Halleluja!
Texte: Umschlagbild von Katja Kortin
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
gewidmet der Zeitreisegefährtin Katja