Das gelbe Zimmer
Mir gehört seit ein paar Tagen ein Zimmer mitten in Schwabing. Zuerst war ich froh so ein Zimmer zu haben, wegen seiner günstigen Lage direkt am Englischen Garten, bin gleich hingefahren, wollte den Sommer über dort wohnen. Doch kaum hatte ich das Zimmer betreten, fühlte ich mich beklommen, als habe eine Faust mich in das Zimmer gestoßen, und ich sei zwischen diesen knallgelb gestrichenen Wänden gefangen, und die Wände kämen auf mich zu und es würde immer enger; zwei Schritte noch zum gelben Stuhl und gelben Tisch in der Mitte, kaum mehr Platz als in einer Badekabine, durch ein Fenster droben, drei Meter über dem Boden, sah ich ein Stück blauen Himmels. Rückwärts schreitend wollte ich das Zimmer wieder verlassen. Doch ich kam nur in ein ebenso knallgelb gestrichenes Zimmer durch die Tür, durch die ich gekommen; vielleicht führte jede Tür nur in dies eine Zimmer, das gleiche. Ich bin immer schneller durch die Türen gegangen, und konnte nicht entkommen, habe nicht gezählt, wie viele es waren. Es vergingen Stunden oder auch Tage, da bin ich in Panik geraten, und glaubte, ich müsse mein Leben in dem Zimmer beenden, legte mich erschöpft auf den Boden, versuchte das Zimmer zu vergessen, träumte mich hinauf zu dem Stückchen Himmel droben. Irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich erwachte, fand ich mich wieder am Isarstrand. Der Trick, wie das gelungen, ist mir ein Rätsel geblieben. Inzwischen habe ich erfahren, die Japaner haben das Zimmer erfunden. Ich kann jedem nur raten, machen Sie einen großen Bogen um dies Zimmer in Schwabing.
Das Nagual
"Ich werde dir die Therapie bei diesem Psychofritzen in Laim nicht länger finanzieren. Er weiß es schon, ich habe ihn angerufen und deine Termine abgesagt." Jochen will gerade nach Laim aufbrechen. Sechs Monate hat seine Ausbildung in der Kunst der Traumdeutung bis jetzt gedauert und Jochen hängt an dem alten Indianer in Laim. Aber der Vater lässt sich, wenn er sich mal entschieden hat, nicht mehr umstimmen. Jochen zieht sich in sein Zimmer zurück und legt sich betrübt auf sein Bett. Plötzlich zuckt er zusammen. Es ist ihm, als würden seine Fußsohlen berührt, ganz leicht, wie von einer Feder. Er sieht aber niemanden am Fußende des Bettes. Trotzdem geht von dort eine Kraft aus. Jochen spürt wie sich diese unter ihn schiebt und ihn hochhebt; er will sich an seinem Lager festhalten, greift jedoch ins Leere. Jochen schwebt einen Meter über seinem Bett und blickt in ein verzerrtes, dämonisches Gesicht, dicht über dem seinen, das ihn böse anstarrt. Das Gesicht wird allmählich größer und nebelhaft, verliert seine Konturen und löst sich in Nichts auf. Jochen sinkt erschöpft auf sein Bett zurück. Am gleichen Tag noch verlässt er endgültig sein Elternhaus.
Großmutter
Meine Großmutter wird seit fünfzig Jahren von der Polizei verfolgt. Bis heute konnten sie ihrer nicht habhaft werden. Schon mancher erfolglose Fahnder verdankt ihr einen Karriereknick. Und sie jagen sie immer erbitterter. Angeblich ist sie eine gefährliche Terroristin. Meine Großmutter eine Terroristin! Ich kann mir das nicht vorstellen. Für Terrorakte hätte sie überhaupt keine Zeit, da sie ständig auf der Flucht ist, sich dauernd um eine andere Unterkunft, und um Ausweispapiere mit neuem Namen kümmert, wobei ihr meine Frau und ich in den letzten Jahren häufig behilflich waren. Vor einigen Monaten wurde die Polizei auch auf uns aufmerksam, seither nimmt sie uns ins Visier. Großmutters letzte Wohnung war in der Wilderich-Lang-Straße. Wir haben den Umzug nach Kolbermoor übernommen und schauen gerade nach, ob wir nichts von Großmutters Sachen vergessen haben mitzunehmmen. Da stürmen drei Polizisten zur offenen Wohnungstür herein. Die Großmutter ist vor einer Stunde weggegangen. Sie macht mit ihrer Schwester einen Spaziergang im Englischen Garten.
Die Polizisten durchsuchen uns und die Wohnung. Sie finden aber keinen Anhaltspunkt auf Großmutters momentanen Aufenthalt. Dabei stecken ihre neuesten Ausweispapiere in einer Geheimtasche meines Jacketts. Ich bewahre nur mit Mühe meine Fassung. Lasst doch endlich Großmutter in Ruhe.
Fahnder
60 Jahre danach. Ein schmächtiger, dunkelhaariger Mann steht an der Gartentür.
"Wohnen die Müllers hier?"
"Müllers sind vor einigen Wochen ausgezogen."
Der Mann wendet sich zum Gehen, kehrt dann aber um und erklärt:
"Früher hießen die Müllers Meier. Sie verübten zur Zeit der Diktatur die schlimmsten Gräueltaten. Nach dem Umsturz haben sie ihren Familiennamen geändert und sind untergetaucht. Die Leute allerdings, die bei Ihnen wohnten, gehören zur dritten Generation danach und sind harmlos. Wir von der Kripo sind nicht hinter denen, sondern hinter deren Urgroßeltern her."
Dann sagt der junge Mann noch, er gäbe nicht auf, und schwingt sich auf sein Fahrrad.
Abgeschoben
Vor ein paar Jahren hatte Johannes noch gut verdient, dann schickte man ihn in die Wüste. Dort hat er sich vergraben, ein Stück Wüste unterkellert und sich unterirdisch eingerichtet, was seine gesamten Ersparnisse verschlang. Unter Tage fühlt er sich sogar recht wohl, aber er ist ja anspruchslos. Was sollte er in der Wüste auch unternehmen. Sand nichts als Sand. Und dann diese Hitze. Er kann nirgends auftreten, der Boden ist ihm zu heíß. Deswegen kommt er höchst selten hervor und wenn, dann nur nachts. Ich möchte nicht mit ihm tauschen, aber schon morgen kann es mir wie ihm ergehen.
Traum von der Diktatur
Vor Kontrollen ist man nie sicher. Plötzlich stehen Uniformierte vor der Wohnungstür. Sieben bis acht Ausweise besitzt heutzutage jeder... und dazu eine Handvoll entwerteter Fahrscheine. Man sollte sie rasch aussortierten und nicht versehentlich vorzeigen. Gerade hatte man sich über die Schwierigkeiten beim Telefonieren beklagt... Es knackt ständig in der Leitung und man ist sich fast sicher, dass jemand mithört. Auf irgendeine Weise ist jeder - und sei es auch nur aus Gefälligkeit gegenüber Freunden - in was Illegales verwickelt. Jeder traf sich schon mal an geheimen Orten mit einem Unbekannten und übergab diesem etwas Dubioses, vielleicht einen Umschlag, dessen Inhalt und Bedeutung er nicht kannte. Zivilisten sind von vornherein für Uniformierte verdächtig. Man sollte stets seine Ausweise bereit halten, und bei Kontrollen auf keinen Fall provozieren.
Lauschangriff
Es gibt geheime Verbindungen beim Telefonieren. Wenn du zufällig in ein solches Netz gerätst, wirst du plötzlich mit "Heil Hitler" angebrüllt und alles was du dann in die Muschel hinein sprichst, wird aufgezeichnet. Aber keine Angst. Es sitzt keiner am anderen Ende. Es existiert nur noch die leere Maschinerie. Bisher ist es leider nicht gelungen, die komplexen Netze, die sich bis ins Unterbewusstsein hinein verzweigen vollständig zu überblicken, und diese geheimen Anschlüsse zu kappen.
Legionär
Die Psychologin verlässt das Institut für Wehrpsychologie. Leo hat auf sie gewartet und geht ihr nach. Erst als sie sich weit genug vom Institutsgebäude entfernt haben, wagt er es, sich ihr zu nähern. Leo kämpft gegen eine schwere Sprachhemmung an und sein Haarwirbel sträubt sich entgegen dem Uhrzeigersinn: "Laufen Sie nicht weg, hören Sie mich an, ich will mit Ihnen reden." Seine Gesichtsmuskulatur ist verspannt und er stößt mit der Zunge an. Stammelnd beklagt er sein Schicksal. Vierzig Jahre habe er vergeudet, vierzig Jahre in denen nichts geschehen sei. Seine Kindheit habe er vergessen. Er erinnere sich nur noch an seinen besten Freund. Der war ein Nilpferd und planschte in einem kleinen Teich im Garten der Eltern. Eines Morgens lag das Nilpferd tot im Teich. Böse Nachbarn hatten es vergiftet. Seither habe ihn das Leben nicht mehr gefreut. Da er sich fremd in der Welt fühlte, sei er noch vor seinem achtzehnten Lebensjahr, zur Fremdenlegion gegangen, wo er ein stumpfes, durch Vorschriften geregeltes Leben geführt und nichts zu sagen gehabt habe. Der einzige Mensch, in dessen Gegenwart er sich wohl fühle, sei Mister Becker. Und er halte sich deshalb möglichst in seiner Nähe auf. Aber nun wolle er endlich eigene Wege gehen und er flehe sie an, er schaffe es nicht alleine, sie solle ihm helfen.
Erwünschte Nebenwirkung
Die neue Regierung lässt Zigaretten kostenlos verteilen. Die Nebenwirkungen passen ihnen ins Konzept. Wer diese Zigaretten raucht, wird dumm. Ich habe Professoren erlebt, die mitten im Satz stockten, weil ihnen ganz einfache Begriffe entfallen waren. Auf die Dauer wird der Raucher der Gratiszigaretten zum Zombie. Ein Freund von mir, der eigentlich einen sanften, friedlichen Charakter besitzt, hämmert - sobald er den ersten Zug getan hat - von einer Sekunde auf die andere mit bloßen Fäusten auf Wände ein und attackiert Frauen mit roter Bluse. Wenn der Anfall vorbei ist, kann er sich an nichts mehr erinnern. Überhaupt fällt einem die Veränderung an sich selbst nicht auf, nur an anderen. Zum Glück bin ich bis jetzt stets mit vorzüglicher Hochachtung - immer der Eure, immer der Gleiche.
Tremendum
Ich weiß jetzt was das ist, das Tremendum. Heute nacht gegen Vier spürte ich einen kalten Hauch. Ich stand auf und drehte mich rasch nach links hinten um. Da erblickte ich es für einen Augenblick, vielleicht war es auch nur sein Schatten, gründunkle Wand, blitzschnell weggezogen. Das Grauen steckt mir jetzt noch in den Gliedern. Ich möchte dem Tremendum nie mehr begegnen. Vorsichtshalber gehe ich künftig allem aus dem Weg, was mir nicht brav und solide vorkommt. Selbst wenn ich auf diese Weise auf das Fascinosum verzichten muss.
Aus den Augen
Von Katja Kortin
Dorothea hat den Gang zum Krematorium lange vor sich hergeschoben, aber es muss sein. So selbstverständlich sie es eigentlich findet, dass Jakob sie dorthin begleitet, so unbehaglich ist ihr dabei zumute. Die blasse Hagere an der Schreibmaschine fertigt das Dokument aus. "36 Euro", sagt die Beamtin, als sie es ihr zur Unterschrift über die Theke schiebt, und fragt: "Mit oder ohne Ermordung?" Dorothea ist platt. Was hat denn Ermordung damit zu tun. "Ohne natürlich!" entscheidet sie entrüstet. "Dann", erklärt die Beamtin in gleichgültigem Ton, "kann ich Ihnen das Dokument nicht aushändigen. Ohne Ermordung hat das Dokument nur drei Monate Gültigkeit." "Und wenn ich die Frist einhalte", erwidert Dorothea aufgebracht; insgeheim einen wenigstens etwas wärmeren Ton erwartend. Die Beamtin aber ist bereits mit anderem befasst. Dorothea wendet sich ab, begreift nicht wie bar jeglicher Anteilnahme eine so heikle Sache abgehandelt wird. Der Weg ins Freie führt durch einen unabsehbar langen Flur, vorüber an einer weit offenstehenden Tür. Sie blickt in die weite Halle, die voll besetzt mit schwarz gewandeten Leuten ist. "A u s d e n A u g e n a u s d e m S i n n", echot die Stimme des Predigers vielstimmig von den Wänden des Gewölbes zurück. Im Freien angelangt bemerkt Dorothea gleich nebenan das Herren-Krematorium. "Bei mir war das mit der Ermordung nicht", grübelt Jakob deutlich vernehmbar vor sich hin. Dorothea wartet darauf, dass er weiterredet; zum Beispiel: Unsinn. Das mit der Ermordung machen wir natürlich nicht! Aber er sagt nichts mehr. Sie zieht ihren Umhang fester um sich und geht unwillkürlich schneller. Ihr ist kalt. Plötzlich beginnt ihr Herz zu flattern.
Texte: Umschlagzeichnung von CC
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2008
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