Good Morning, Teacher! (Thailand) 3
Höllenfahrt nach Angkor (Kambodscha) 13
Ein Außerirdischer in Seoul (Südkorea) 24
Treffen mit Onkel Ho (Vietnam) 32
Houston, wir haben ein Problem (Malaysia) 41
Andere Länder, andere Sitten (Kambodscha) 49
Reisen – Made in Taiwan (Taiwan) 55
Same same, but different (Vietnam) 61
Das Auge des Tigers (Thailand) 69
Unterwegs in Sachen Kultur (Kambodscha) 74
Die größten Maulwurfshügel der Welt (Südkorea) 79
Die Sintflut (Vietnam) 102
Auf nach KL (Malaysien) 107
Tuk Tuk, Sir? (Kambodscha) 119
Ausflug nach Sapa (Vietnam) 125
Immer rechts halten (Laos) 135
Archäologie aus erster Hand (Kambodscha) 146
Versammlung der Glatzköpfe (Vietnam) 153
Zufall oder Schicksal? (Kambodscha) 159
Ungefähr hundert Kinder in Schuluniformen sitzen in Reih und Glied. Die Aufregung ist förmlich greifbar. Leise tuscheln sie mit ihren Sitznachbarn und schauen uns mit großen Augen an. Es ist ein besonderer Tag heute. Selten kommen Fremde in diesen abgelegenen Teil Thailands. Der Schuldirektor steht am Mikrofon und hält eine Rede. Zuerst in der Landessprache, dann in gebrochenem Englisch, als er sich der internationalen Freiwilligengruppe zuwendet. Er stellt sich und sein Lehrerkollegium vor und bittet anschließend auch die Gäste, es ihm gleichzutun. Als ich an der Reihe bin, schlucke ich kurz und ergreife das Mikrofon.
Drei Monate vorher. Ich sitze in einem kleinen Büro in der Wiener Innenstadt und bespreche mit einem Mitarbeiter der internationalen Freiwilligenorganisation SCI die anstehenden Details. SCI steht für »Service Civil International«, was auf Deutsch soviel wie internationaler Freiwilligendienst bedeutet. Der SCI ist eine internationale Vereinigung, die sich die weltweite Förderung interkulturellen Austausches zum Ziel setzt. Sie ermöglicht interessierten Personen im Zuge sogenannter Workcamps, mit Gleichgesinnten aus aller Welt an gemeinnützigen Projekten zusammenzuarbeiten. Das Unterrichten von Englisch an zumeist ländlichen Schulen in abgelegenen Landesteilen, das Arbeiten mit Kindern aus sozial unterprivilegierten Schichten, oder das Mitwirken an Aufklärungskampagnen über AIDS oder Mülltrennung – all dies kann Inhalt eines solchen Projektes sein.
Ich melde mich für ein zweiwöchiges Unterrichtsprojekt in Thailand. Insgesamt will ich einen Monat dort verbringen. Da es meine erste Reise nach Asien ist, verbringe ich die Wochen vor dem Abflug in teils freudiger, teils angespannter Erwartung. Dann ist der lang ersehnte Augenblick gekommen, und der bis auf den letzten Sitz gefüllte Airbus hebt ab. Es folgen endlose Stunden, die nur äußerst zäh vergehen. Essen, einen Film ansehen, ein bisschen schlafen, sich noch einen Film reinziehen, Immigrations-Formulare ausfüllen, und wieder essen. Als ich in Bangkok lande, fühle ich mich ziemlich gerädert. Doch Bangkok ist noch nicht die Endstation. Mein Anschlussflug führt mich weiter in den tiefen Süden Thailands, genauer gesagt nach Hat Yai.
Um neun Uhr abends komme ich endlich in Hat Yai an, und nach Abholung meines Gepäcks stehe ich in der Empfangshalle, wo ich von einer Mitarbeiterin von Greenway Thailand abgeholt werden soll. Jedoch, es ist niemand zu sehen. Nervös laufe ich im Eingangsbereich auf und ab, doch niemand kommt auf mich zu, um die erlösenden Worte »Sind Sie Mr. Karsai? Willkommen in Thailand« zu sprechen. Was man mich fragt ist, »Brauchen Sie ein Taxi?« oder »Tuk-Tuk, Sir«? Nach einer Wartezeit von einer Stunde wird die Vermutung, dass man auf mich vergessen hat, allmählich zur Gewissheit. Was soll ich tun? Im Büro erreiche ich niemanden mehr, und der eigentliche Ort des Geschehens ist so abgelegen, dass ihn vermutlich nicht einmal ein Taxifahrer findet. Glücklicherweise kenne ich Zeit und Ort des morgigen Treffpunkts, an dem alle Neuankömmlinge abgeholt werden, und daher erscheint es mir am klügsten in die Stadt zu fahren, um dort zu übernachten.
Hat Yai ist die drittgrößte Stadt Thailands, aber nicht unbedingt ein Touristenmagnet. Als ich kurz nach zehn auf der Suche nach einem Restaurant durch die Straßen wandere, ist nur mehr wenig los und es ist vergleichsweise dunkel. Ein paar überdimensionierte Kakerlaken tummeln sich auf dem Gehsteig, und Klischees von mit Kakerlaken verseuchten Zimmern steigen in mir hoch. In einem Straßenlokal esse ich mein erstes Mahl in Thailand. Es ist einfach, beinhaltet aber alles, worauf ich mich schon so lange gefreut habe. Neugierig lasse ich meine Augen durch die ungewohnte Umgebung wandern. Müdigkeit, Zufriedenheit und Aufregung vermischen sich zu einem benebelnden Cocktail, der mich alsbald mein Bett aufsuchen lässt. Unter dem Rauschen des großen Deckenventilators sinke ich einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Tag gehe ich zum Bahnhof, wo bereits ein paar Leute mit Rucksack warten. Unsicher blicke ich sie an, drehe dann eine Runde durch den Bahnhof, und kehre wieder zum Ausgang zurück. Die Gruppe ist mittlerweile größer geworden, und eine junge thailändische Frau löst sich aus ihrer Mitte. »Hallo, bist du wegen dem SCI-Camp gekommen?« Sie spricht mich natürlich nicht auf Deutsch an, sondern auf Thai. »Khun chew arai (Wie heißt du)?«. »Pom chew Albert (Ich heiße Albert)«, antworte ich darauf ohne mit der Wimper zu zucken. In Wirklichkeit findet die Konversation natürlich auf Englisch statt. Nachdem sich alle untereinander bekanntgemacht haben, schlichten wir uns zusammen mit unserem Gepäck auf den bereit stehenden Pickup-LKW, und los geht die Fahrt. Das Abenteuer kann beginnen.
Die Gruppe ist bunt gemischt, sowohl was das Alter, als auch die Nationalitäten angeht. Sharon, eine 38 Jahre alte Volksschullehrerin aus den USA, ist die älteste, gefolgt von David aus Spanien, 37 Jahre. Dann komme schon ich, 35 Jahre, ebenfalls Lehrer und aus dem Lande der Mozartkugel. Desweiteren Farida, 28 Jahre, Französin mit algerischer Abstammung, Yuni und Sunny, Anfang Zwanzig und aus Südkorea, Charlotte, 25, aus den Niederlanden, eine weitere Koreanerin und zwei Franzosen. Oil, unsere Campleiterin, und ihre männlichen Kollegen Uan und Tar bilden den thailändischen Kern der Gruppe. Womit die Familie komplett wäre.
Nach einer längeren Fahrt befinden wir uns inmitten der Wildnis, mit einigen kleineren Dörfern und wilden Hunden und Hühnern entlang des Wegs. Von der asphaltierten Straße biegen wir in eine Sandpiste ein und stehen kurze Zeit später in unserem Camp, welches zugleich das Hauptquartier der thailändischen Non-Profit - Organisation Greenway ist. Groß ist die Spannung, als wir unsere Habseligkeiten schultern und auf unsere Zimmer geführt werden.
Hat wer etwas von Zimmern gesagt? Geschlafen wird auf einer überdachten hölzernen Plattform, auf Matratzen, die von einem Moskitonetz umgeben sind. Die Duschen sind ebenerdig, mit kaltem Wasser und warmer Luft. Ein Waschplatz zum Waschen unserer Klamotten und viele Meter Wäscheleine. Ein überdachter, offener Essbereich - unser »Restaurant« - mit angeschlossener Feldküche inklusive grantiger, aber ungemein begabter Köchin. Sie brächte alles mit, um in der Wiener Gastronomie Karriere zu machen. Ein Hauptgebäude mit den Büros der Angestellten, und viel Grün auf dem liebevoll gestalteten Gelände. Eine einfache, aber gemütliche Ferienanlage. Unser Zuhause für die nächsten zwei Wochen.
Essenszeit. Das ausschließlich vegetarische Essen wird als Buffet angerichtet und schmeckt ausgezeichnet. Sofern man Reis mag. Anhand der Zusammenstellung der Speisen lässt sich nämlich nicht ableiten, um welche Tageszeit es sich handelt. Frühstück, Mittag- und Abendessen lassen sich unbemerkt gegeneinander austauschen. Ab und an schaut die Köchin, eine kleine, ältere Frau vorbei, um mit uns zu schimpfen. So hört es sich jedenfalls an. Vielleicht will sie auch nur, dass wir auch ja alles aufessen. Vielleicht sollen wir gerade das nicht. Vielleicht erzählt sie uns von der bevorstehenden Hochzeit ihrer Tochter. Alleine die Götter wissen es.
Unsere erste Einsatzbesprechung. Oil gibt uns eine kurze Einführung und bespricht mit uns das Programm für die Dauer unseres Aufenthaltes. Auch ein kurzer Abriss der thailändischen Sprache darf nicht fehlen. Universelle Phrasen wie »Guten Tag«, »Auf Wiedersehen«, »Entschuldigung« und »Verzeihung, ich bin Ausländer und völlig ahnungslos«. Besonders interessant finde ich ein kleines Frage- bzw. auch Höflichkeits-Wort, das sich im Wortlaut zwischen Männern und Frauen unterscheidet. Männer sagen ein kurzes, energisches »Krap«, Frauen ein langgezogenes, sehr feminin gehauchtes »Ka«. Ein wunderbares Werkzeug, um Männlein und Weiblein zu unterscheiden. »Wozu?«, werden Sie vielleicht denken. »Ist das nicht offensichtlich?« Antwort von Radio Eriwan: »Im Prinzip, ja. Aber haben Sie noch nichts von Thailands berühmten Ladyboys gehört?«
Die thailändischen Ladyboys sind ein faszinierendes gesellschaftliches Phänomen. Sie sind dermaßen häufig anzutreffen, dass sie so etwas wie ein drittes Geschlecht darstellen. Unter Ladyboys werden alle Männer zusammengefasst, die sich nicht so ganz in die gängigen Geschlechtertypen einordnen lassen. Transvestiten und schrille Drag Queens gehören ebenso dazu wie biologische Männer, die sich wie Frauen kleiden und sich auch als solche fühlen, oder die eine Geschlechtsumwandlung hinter sich haben und damit biologisch irgendwo in der Mitte stehen. Was mich aber wirklich beeindruckt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie von ihren Mitmenschen akzeptiert werden. Ich habe Ladyboys in Schulen gesehen, Burschen mit einer ungemein femininen Ausstrahlung und einem Verhalten, dass man in unseren Breitengraden allgemein hin als tuntenhaft bezeichnen würde. Einer dieser Schüler legte eine Tanzperformance hin, die ihn zum umjubelten Star machte. Auch an Gästehaus-Rezeptionen bin ich Ladyboys begegnet. Die Identifikation ist dabei oftmals ausgesprochen schwierig, da die Thais generell sehr weiche Gesichtszüge haben, und die Unterschiede im Aussehen und Verhalten der Ladyboys fließend sind. Und im schummrigen Licht einer Bar oder eines Cafés wird die Angelegenheit noch viel schwieriger. Da kann die Sprache ein wertvolles Instrument darstellen, denn wenn man sich seiner Sache nicht sicher ist, grüßt man einfach, und die Antwort sagt viel über die (gefühlte) Geschlechterzugehörigkeit der betreffenden Person aus. Es sei denn, man wird absichtlich in die Irre geführt. Dann bleibt nur mehr Crocodile Dundees berühmter Griff in den Schritt, aber das sollte wirklich nur als allerletzte Maßnahme verstanden werden. Nicht, dass Sie mir wahllos Ihre Umgebung begrapschen!
Unser erster Arbeitstag bricht an. Nach einer kalten Dusche bekommen wir ein warmes Frühstück serviert. Wozu ich geduscht habe, ist mir ein Rätsel, denn schon nach den ersten Bissen rinnt mir der Schweiß in Strömen über den Körper. Ich beschließe, fortan abends zu duschen, da es in der Nacht angenehm abkühlt. Der dünne Hüttenschlafsack, den ich mitgenommen habe, ist zum Schlafen mehr als ausreichend. Da wir de facto im Freien schlafen, sind die Moskitonetze ein Segen. In dieser Gegend ist keine unmittelbare Malaria-Gefahr gegeben, aber am Abend schwirrt und surrt es um uns herum, und es besteht kein Zweifel daran, dass die Insekten die zahlenmäßig größte Gruppe im Tierreich darstellen. Deshalb besteht der erste Schritt vor dem Schlafengehen auch darin, zuerst die Matratze von allem, was krabbelt, zu befreien, und anschließend das Moskitonetz herunterzulassen.
Nach dem Frühstück klettern wir auf den Wagen und brechen zu unserem ersten Arbeitseinsatz auf. Der Fahrtwind ist erfrischend und trocknet Haut und Gewänder. Wir sitzen auf der Bordwand und müssen höllisch aufpassen, auf der manchmal holprigen Straße nicht den Halt zu verlieren und vom Wagen zu fallen. Wir gelangen in ein Dorf und halten auf dem Gelände einer kleinen Dorfschule an. Unter einem offenen Zelt sitzen etwa einhundert Schülerinnen und Schüler in Reih' und Glied auf ihren Plastiksesseln und sehen uns mit großen Augen an. Sie tragen Schuluniformen, und ihre Haartracht ist ebenfalls standardisiert. Die Mädchen tragen ihr Haar nicht länger als schulterlang, die Burschen vorne einen Haarschopf, während der Hinterkopf kurz geschoren ist. Die Kinder sind in etwa zwölf Jahre alt und haben zu diesem Zeitpunkt eigentlich Ferien, aber für dieses Englisch-Sommercamp haben sie sich trotzdem hier versammelt. Fremde sind in dieser Gegend eine Seltenheit, und daher eine willkommene Attraktion.
Der Direktor begrüßt uns und bittet uns Platz zu nehmen. Er trägt eine dunkle Hose und ein luftiges Hemd mit Blumenmuster. Ein Teil des Lehrerkollegiums ist ebenfalls anwesend. Er ergreift das Mikrofon und eröffnet die Veranstaltung. Nach einer kurzen Ansprache in Thai reicht er uns das Mikrofon mit der Bitte, uns einer nach dem anderen den Schülern vorzustellen. Als ich an der Reihe bin, schlucke ich kurz und ergreife das Mikrofon.
»Hello, my name is Albert, and I am 35 years old. I am from Austria. No, not Australia, AUSTRIA! I am happy to be with you«. So oder ähnlich geht es weiter. Ich bin mir nicht sicher, ob die Schüler uns verstehen, aber der Direktor übersetzt ihnen das Gesagte sicherheitshalber. Immerhin haben sie nicht nur mit der englischen Sprache als solches zu kämpfen, sondern auch mit den sehr unterschiedlichen Akzenten der einzelnen Teilnehmer. Besonders bei Franzosen weiß man nie so recht, ob sie nun Englisch oder Französisch sprechen. Am verständlichsten ist für sie wahrscheinlich das Englisch unserer thailändischen Kollegen, denn das sind sie von ihren Lehrern gewohnt. Dafür verstehen wir es kaum. Unglaublich, dass es sich dabei immer um die gleiche Sprache handelt.
Die Lehrer teilen die Schüler in Gruppen und weisen jedem von uns eine zu. Meine besteht aus fünfzehn Kindern. Hier sitze ich also mit meinem Rudel, und was ich nicht habe und schmerzlich vermisse, ist ein Konzept, denn die Vorgaben sind offen gesagt vage. Die Schüler haben schriftliche Unterlagen ausgeteilt bekommen, und ein solches Exemplar halte ich auch in meinen Händen. »Ihr könnt mit den Schülern tun, was immer euch einfällt«, lautet die Devise. Super. Wenigstens habe ich die Hälfte der Zeit jemanden bei mir sitzen, der halbwegs der englischen Sprache mächtig ist. Ich schlage das Handbuch auf und inspiziere den Inhalt. Das Benennen von Körperteilen, einzelnen Familienmitgliedern, Früchten und Tieren macht den Löwenanteil aus. Daneben einfachste Konversation nach dem Motto »Wie geht es dir?«, »Wie alt bist du?«, und »Was zum Kuckuck willst du von mir?«.
Thailändische Namen sind für den durchschnittlichen Europäer eine Herausforderung. Normalerweise erwidert man auf das Nennen des Namens »Angenehm« oder »Nice to meet you«, oder nennt den eigenen Namen. Hier reduziert sich meine verbale Reaktion jedoch auf »Häh?«. Gott sei Dank haben alle Thailänder Kurznamen, die wesentlich einfacher zu merken sind. Unsere Schüler tragen sie auf Namenskärtchen um den Hals, und dies ermöglicht es mir, sie mit ihrem Namen anzusprechen. Es ist auch weitaus höflicher als »Hey, du da, mit dem Riesenloch in deiner Socke« zu rufen, und auch zielführender, da die überwiegende Mehrzahl aller Sockenträger diese Form der Fußbelüftung gewählt hat. Ein vollkommen anderes Konzept von atmungsaktiver Bekleidung.
Der Vormittag vergeht und die Mittagspause bricht an. Unsere Sprösslinge stellen sich mit einem Tablett vor der Essensausgabe an, während wir in einen Raum mit Buffet gebeten werden. Hoffentlich gibt es Reis. Meine besondere Aufmerksamkeit gilt den merkwürdig geformten, gebratenen Fischen, die aussehen, als wären sie gehängt worden. Ihre Köpfe stehen rechtwinklig zum übrigen Körper ab. Vielleicht haben sie zu Lebzeiten auch an Osteoporose gelitten. Wie auch immer, das Essen ist ein Gedicht, doch die nächste Herausforderung wartet schon in Form der Nachspeise. Rambutans sind runde, Golfball-große Früchte von rotgrüner Farbe, mit stachelartigen, aber weichen Fortsätzen auf ihrer Schale. Bei uns kosten sie ein Vermögen, hier fast nichts. Das Öffnen der Frucht ist ein Fall von »Gewusst wie«, und nichts in meinem bisherigen Leben hat mich auf diese Aufgabe vorbereitet. Am besten, man reißt die Schale auf. Mit ein wenig Übung gelingt das auch ohne ein Messer. Zum Vorschein kommt eine Frucht, die im Aussehen an eine Litschi erinnert und auch so ähnlich schmeckt. Mit der Zeit entwickele ich mich zu einem begnadeten Aufreißer.
Nachdem wir unser Essen beendet haben, lernen wir, wie man in Thailand Reissuppe herstellt. Zum Waschen des schmutzigen Geschirrs werden vier flache Wasserschüsseln aufgestellt, mit denen man wie folgt verfährt. Die groben Essensreste werden in einen Mülleimer entleert, mitunter auch auf den Boden, worüber sich besonders die Hunde und Hühner freuen. Dann taucht man den Teller in die erste Schüssel und verschmiert darauf die Essensreste der Vorderleute mit einem Schwamm. Zur stufenweisen Reinigung wird er nun durch alle weiteren Schüsseln gezogen, worauf er nach Beendigung dieser Prozedur ansatzweise sauber sein sollte. Auf die ersten Benutzer mag das wohl zutreffen, aber als wir an der Reihe sind, haben bereits hundert Schüler ihren Abwasch gemacht, und was wir in den Schüsseln vorfinden, ist ein bunter Streifzug durch das Menü. Mahlzeit! Das gereinigte (?) Geschirr lassen wir abtropfen, und was dann damit passiert, will ich gar nicht so genau wissen.
Am Nachmittag steht eine weitere Runde Unterricht auf dem Programm. Mir ist mittlerweile klar geworden, dass ich schleunigst (innerhalb der nächsten dreißig Minuten) Thai lernen muss, denn sonst wird das eine zähe Angelegenheit. Wenigstens habe ich Tuk an meiner Seite, der zwar auch nicht gerade mit Cambridge-Englisch brilliert, den Schülern aber zumindest die Aufgaben erklären kann, die ich ihnen stelle. Gelegentlich schauen auch Oil oder Tar vorbei, dann kann ich mein Glück gar nicht fassen. Englischkenntnisse hin oder her, Thailands Schüler bringen dem Lehrer mehr Respekt entgegen als ihre europäischen Leidensgenossen. Was nicht heißt, dass sie deswegen disziplinierter sind. »Good morning, Teacher!«, schallt es mir morgens unisono entgegen, und »Thank you, Teacher!«, wenn wir den Unterricht beenden. Dazwischen zeigen sie ganz normales Schülerverhalten. Einige glänzen durch Interesse und Strebsamkeit, andere wiederum geben mir durch ihren Blick zu verstehen, dass sie keinen blassen Schimmer haben, worum es geht. Mühsam nährt sich das Eichhörnchen.
Über volle drei Tage ist das Englisch-Camp angesetzt, und sowohl die Schüler, als auch wir, werden für diese Zeit auf dem Schulgelände kaserniert. Auf dem Land geht man zeitig schlafen, denn das angebotene Nachtleben ist sehr überschaubar. Etwas, das man in Asien allerdings fast überall vorfindet, ist eine Karaoke-Ausrüstung. Speziell der Direktor stellt sich als wahrer Karaoke-Freak heraus, denn selbst Stunden, nachdem die Hühner schlafen gegangen sind, und sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« gesagt haben, erklingen thailändische Lieder durch die ansonsten stille Nacht. Am Anfang mischen wir noch mit. Einige englischsprachige Pop-Hits sind rasch gefunden, und so geben wir eine höchst interessante, um nicht zu sagen eigenwillige Version von Hotel California zum Besten. Doch irgendwann müssen wir dem anstrengenden Tag Tribut zollen, und suchen unsere Schlafräume auf, um Kraft für den nächsten Tag zu tanken. Dummerweise stellt eine dünne Unterlage auf einem harten Fußboden keine ausgesprochen günstige Tankstelle dar, speziell dann nicht, wenn Mr. Karaoke und Kollegen bis nach Mitternacht durch die Gegend plärren. Und um die ganze Situation noch zu verschärfen, ist mir zu Ohren gekommen, dass um sechs Uhr morgens Musikgymnastik auf dem Programm steht. Die Botschaft höre ich wohl, allein, es fehlt der Glaube. Und sollte es sich um einen Scherz handeln, dann um einen ganz miserablen.
Glaubensfragen entbehren ohnehin jedweder rationalen Logik. Zumindest kann ich keinen triftigen Grund erkennen, um sechs Uhr früh aufzustehen, um sich wie ein Zombie über den Schulhof zu schleppen, und das alles der Gesundheit zuliebe. Wer um meine Gesundheit aufrichtig besorgt ist, der lässt mich in der Früh am besten schlafen. Den Spruch »Morgenstund hat Gold im Mund« habe ich noch nie verstanden. Im Gegensatz dazu lautet meine persönliche Version: »Morgenstund ist richtig nett, verbringt man sie in einem Bett«.
Tagwache. Ich werde nicht aufstehen. Nein, ich stehe ganz bestimmt noch nicht auf. Keine zehn Pferde bringen mich jetzt in die Höhe. Ich bin doch nicht wahnsinnig. Was, die anderen gehen auch? Verräter! Aber ich sicher nicht. Na gut, wo sind meine Sachen? Und wer zieht mich an?
Als ich aus dem Mannschaftsquartier auf den Schulhof wanke, schallt mir laute Techno-Musik entgegen. Die Schüler haben sich schon versammelt und sind mehr oder weniger begeistert bei der Sache. Mr. Karaoke hat sich über Nacht in Turnvater Jahn verwandelt und strotzt nur so vor Elan. Wie macht der Mann das bloß? Oder ist das ein Doppelgänger, während der Abendklon noch im Lehrerzimmer schläft? Ich nehme meinen Platz in den hinteren Reihen ein und mache halbherzig mit. Der Morgen ist die einzige Tageszeit, in der ich nicht schwitze, daher erscheint es mir ein wenig grotesk, meine Schweißdrüsen mutwillig zu reizen. Ich weiß, dass ich ein gutes Vorbild für die Kinder abgeben soll, aber mit Mr. Aerobics kann ich sowieso nicht mithalten. Dabei betreibe ich gerne Sport. Aber alles zu seiner Zeit.
Die beiden nächsten Punkte der Tagesordnung lauten Duschen und Frühstück. Das Duschen lasse ich angesichts des Anblicks von hundert Schülern vor drei Duschen ausfallen, doch beim Frühstück bin ich wieder voller Begeisterung bei der Sache. Es gibt eine dicke Reissuppe, mit Fischsauce, gebratenem Knoblauch und Shrimps. Genial. Moment mal, Reissuppe … ?
Nach drei anstrengenden, aber unterhaltsamen Tagen, suchen wir die nächste Schule heim. Wieder handelt es sich um ein Englisch-Camp, wieder ist das Ambiente sehr ländlich, und wieder bereiten uns Lehrpersonal und Schüler einen herzlichen Empfang. Da wir uns während den vorangegangenen Tagen bereits unsere ersten Sporen verdient haben, sehen wir der Aufgabe nunmehr mit mehr Gelassenheit entgegen. Dennoch kommen zwei neue Elemente hinzu. Zum ersten befindet sich unter den Englischlehrern der Schule eine wahre Stimmungskanone in Gestalt einer etwas fülligeren Frau um die Vierzig, die mit ihrer unverschämt guten Laune auch den größten Miesepeter mitreißt, und zum zweiten soll der Unterricht in Form von Workshops erfolgen. Ich weiß nicht, ob Sie schon jemals einen Workshop vorbereiten mussten, ich jedenfalls hatte bereits das Vergnügen, und daher weiß ich auch, dass eine gelungene Veranstaltung ein gewisses Maß an Vorbereitung erfordert. Genau das ist das Problem. Uns geht es wie Scotty im Umgang mit Kapitän Kirk:
Kirk: »Wie lange benötigst du für die Reparatur des Warp-Antriebs?«
Scotty: »Dafür brauche ich mindestens 40 Stunden.«
Kirk: »Du hast genau vier Stunden.«
Scotty: »Ay, Käpt’n.«
Wir teilen uns in Zweierteams, um für den folgenden Tag Workshops zu Themen wie Kochen, Zoo, Familie etc. zu konzipieren. Ich koche gerne, daher melde ich mich zusammen mit Farida für dieses Thema. Die Idee dazu müssen wir noch heute auf die Welt bringen, damit die Lehrer für morgen alles vorbereiten, beziehungsweise besorgen können. Farida ist eine atemberaubend schöne Frau, daher kann ich es mir auch sehr gut vorstellen, mit ihr die Vorbereitungen für eine Geburt zu treffen. Das Thema soll nicht nur praktisch, sondern auch didaktisch aufbereitet werden, schließlich sind wir Lehrer. Wir entscheiden uns dafür, den Kindern das Zubereiten von Palatschinken beizubringen. Alle Zutaten, die wir dafür benötigen, müssen die Lehrer einkaufen. Die Gaskartusche und das Geschirr würden wir aus der Küche holen, und für die didaktische Aufbereitung Kartonkärtchen anfertigen. Soweit der Plan. Der Rest ist Improvisieren. Was das zweite Kernelement unseres Wirkens betrifft, so verwandeln wir uns kurzerhand von einer Lehrer- in eine Schausteller-Gruppe. Mrs. Stimmungskanone stimmt englischsprachige Lieder an, und wir singen mit. Mrs. Stimmungskanone führt dazu alberne Bewegungen aus, und wir machen mit. Und das alles auf der Showbühne. Als Draufgabe lernt uns David, wie man zu La Macarena tanzt, und wir tanzen mit. Die »Comedian Teachers« sind geboren. Darauf hat die Welt gewartet. Oder auch nicht.
Am nächsten Morgen werden wir Zeugen, wie in thailändischen Schulen der Arbeitstag beginnt. Schüler und Lehrer haben sich auf dem Schulhof versammelt, wo zu den Klängen der Nationalhymne die Staatsflagge gehisst wird. Mitsingen müssen wir nicht, dafür andächtig stramm stehen. Nach der Zeremonie teilen wir uns auf die einzelnen Gruppen auf, und das Spektakel kann beginnen. Zunächst bauen Farida und ich unseren Stand in der Nähe der Küche auf, damit wir es nicht allzu weit zu den Kochutensilien haben. Während sie Ordnung in die Zutaten bringt, gehe ich in die Küche, um alles Benötigte zusammenzusuchen. Das Küchenpersonal quittiert mein Erscheinen mit Erstaunen, denn von einem neuen Küchenjungen hat ihnen offensichtlich niemand erzählt, noch dazu von einem, der sich nicht einmal verständlich ausdrücken kann. Welcher Dilettant hat diesen Hilfsarbeiter angestellt? Da mich niemand versteht, beginne ich die Küche auf eigene Faust zu durchwühlen, was innerhalb der Belegschaft eine gewisse Unruhe erzeugt. Eine Englischlehrerin tritt auf den Plan, um mich zu rehabilitieren und die Angelegenheit zu beschleunigen. Nachdem ich alles zusammengetragen habe, fangen wir mit unserer Kochshow an.
Zuerst erläutern wir den Schülern unser Vorhaben und stellen die einzelnen Zutaten vor, natürlich alles auf Englisch. Dann zeigen wir, wie man sie zu einem Teig verarbeitet. Diese Aufgabe übernimmt Farida. Ich bereite inzwischen den Herd vor. Als ich das Gas aufdrehe und entzünde, dämmert mir, dass die Sache einen gewaltigen Haken hat. Es ist ohnehin ziemlich warm, auch ohne Feuer, aber mit ihm wird die Temperatur unerträglich werden. Wäre uns das früher eingefallen, hätten wir stattdessen Sushi zubereitet. Und das alles nur aufgrund des Zeitmangels!
Die ersten Palatschinken misslingen immer, das ist ein ehernes Naturgesetz. Sie kleben an, verbrennen, sprich, werden schlichtweg unansehnlich. Aber diese Durststrecke gilt es zu überwinden. Nach und nach verteilt sich der Teig geschmeidig in der Pfanne, und wenn das Werkl einmal läuft, dann läuft es und läuft es – bis der Teig ausgeht, das Gas aufgebraucht ist, oder der Koch wegen massiver Dehydrierung den Löffel abgibt.
Als die ersten Palatschinken fertig sind, bestreichen wir sie mit Marmelade oder Schokoladencreme und fordern die Schüler zum Kosten auf. Nur zögerlich kommen die ersten näher, um dieses Teufelszeug aus der Nähe zu betrachten, doch als die ersten Stücke in ihren Mündern verschwinden, verziehen sich diese zu einem breiten Grinsen, und eine heiße Schlacht am kalten Buffet beginnt. Wir haben alle Hände voll zu tun, um die Mehlspeisen gerecht zu verteilen, und manche stellen sich immer wieder von Neuem an, so wie Obelix beim Verteilen von Miraculix' Zaubertrank. Auch unter den Lehrern gibt es ein paar »Süße«.
Als nächstes sollen die Schüler selbst Hand anlegen. Unter Aufbietung aller Überredungskünste wagt sich ein Mädchen an unseren »Herd« und nimmt schüchtern ihre erste Palatschinke in Angriff. Das Wenden gelingt noch nicht ganz zufriedenstellend, denn am besten klappt es, wenn man den Teig elegant durch die Luft wirbelt, doch das erfordert einiges an Übung. Speziell Farida ist eine Meisterin im Palatschinken schupfen. Schupfen kann ich sie auch, nur mit dem Auffangen hapert es.
Nach dem Mittagessen wiederholen wir das Programm mit einer zweiten Gruppe. Routiniert wie wir in der Zwischenzeit sind, brechen die Eier, staubt das Mehl und quirlt der Teig, bis sich alles im heißen Öl zu einer wohlgeformten Palatschinke addiert. Mein Flüssigkeitsverlust hat derweil lebensbedrohliche Ausmaße angenommen, und nur die sofortige intravenöse Verabreichung eines kalten Erfrischungsgetränks bewahrt mich vor der völligen Austrocknung.
Am nächsten Tag geht auch dieses Camp zu Ende, und wir machen Bekanntschaft mit einer unseligen Einrichtung. Alle Schüler haben Fragebogen ausgeteilt bekommen, die wir beantworten sollen. Zusätzlich kommen viele Schüler wegen einem Autogramm mit persönlicher Widmung. Nun komme ich ja eher selten in die Situation, von Autogrammjägern bedrängt zu werden, deshalb zeigt mein Handgelenk auch schon nach kurzer Zeit massive Ermüdungserscheinungen. Doch wie könnte ich ihnen einfach die kalte Schulter zeigen? Noch dazu, wo ich in diesem Land noch nie eine kalte Schulter gehabt habe.
Zwei Wochen sind schnell vergangen, und wir zu einer eingeschworenen Gemeinschaft geworden. Der Abschied von unserem Camp fällt uns schwer. Am Morgen packen wir unsere Sachen ein und frühstücken ein letztes Mal in unserem »Restaurant«. Mir scheint, als hätte uns in der Zwischenzeit sogar die Köchin ein wenig lieb gewonnen. Ganz genau werde ich es nie in Erfahrung bringen, denn eine gemeinsame Sprache ist bis zuletzt nicht aufzutreiben. Die gesamte Crew steht für ein Gruppenfoto zusammen, bis die Fotoapparate heißlaufen. Dabei ist dies noch nicht das Ende unserer Tätigkeit hier. Ein weiteres Camp steht noch auf dem Programm, denn erst morgen werden wir zum Küstenort Krabi aufbrechen, um mit einer Fähre gemeinsam auf die Phi Phi - Inseln zu übersetzen. Also besteigen wir unser Fahrzeug und lassen uns den Wind um die Nasen wehen. Eine Zeit lang geht es in gewohnter Manier über Landstraßen dahin, vorbei an Dörfern, Kühen und Kokospalmen, wobei wir die Unebenheiten der Straße routiniert mit Gesäßbacken und Bandscheiben abfedern. Kein einziges Mal in zwei Wochen muss der Notruf »Mitglied über Bord« ertönen, und auch heute gelangen wir vollzählig ans Ziel.
Bis zu diesem Zeitpunkt haben alle Englisch-Camps an Schulen stattgefunden, was auch irgendwie Sinn macht. Daher ist unsere Verblüffung groß, als wir uns langsam einem Militärstützpunkt nähern. Soldaten mit Maschinengewehren und ernstem Gesichtsausdruck empfangen uns am Eingang, und ich beginne mich heimlich nach Mr. Karaoke zurückzusehnen. Nachdem wir alle unsere Waffen abgegeben haben, dürfen wir passieren. Trotzdem landen wir nicht im Arrest, sondern in einer großen Halle, wo schon eine stattliche Anzahl an Schülern sitzen. Sie sehen ganz normal aus, nur stecken einige von ihnen in Uniformen. Auch wirken sie älter als jene, die wir bisher unterrichtet haben.
An thailändischen Schulen existiert ein eigenartiges Zeremoniell, um die Schüler auf das Vorhaben einzuschwören, oder sie vielleicht einfach nur am Einschlafen zu hindern. Der Lehrer ruft etwas, begleitet von Zahlwörtern, die Schüler klatschen dazu rhythmisch in die Hände und stoßen die Fäuste in die Höhe. In der Kaserne wirkt das natürlich wesentlich authentischer, zumal der Einpeitscher ein waschechter Offizier ist. Er redet und redet und redet, natürlich in Thai, und ich beginne mich zu fragen, wieso diese Veranstaltung als Englisch-Camp bezeichnet wird. Vielleicht erklärt er ihnen auch nur, wie wichtig es ist, der englischen Sprache mächtig zu sein, damit sie später einmal etwas Anständiges lernen, anstatt wie er beim Militär zu versauern. Endlich hört er auf, und eine Lehrkraft übernimmt das Ruder.
Der Tag vergeht in gewohnter Manier, und relativ früh am Nachmittag wird der Unterricht beendet. Dafür veranstalten die Schüler für uns ein ganz besonderes Abendprogramm. Gruppenweise haben sie kleine Aufführungen einstudiert, und sie geben sich wirklich alle Mühe. Leider verstehen wir fast nichts, obwohl sie Englisch sprechen, denn das thailändische Englisch ist fast wie eine eigene Sprache für sich. Allerdings möchte ich nicht wissen, wie viele Thailänder ich bei meinen Versuchen, in der Landessprache zu reden, aufs Gröbste beleidigt habe. Der Star des Abends ist ein Junge, der aus unerfindlichen Gründen im falschen Körper zur Welt gekommen ist. Zauberhaft und anmutig ist sein Tanz, und alle Schüler jubeln ihm begeistert zu. Er ist großartig! Am Ende seiner Darbietung macht er Knicks um Knicks wie eine Hofballerina, und badet im Applaus. Eine echte Diva.
Als die Nachtruhe anbricht, führt man uns in die Schlafquartiere, streng getrennt nach weiblich und männlich. Die Ladyboys stellen das Trennprinzip auf eine harte Probe, liegen aber mit uns Männern im Saal. Trotz der spartanischen Unterbringung auf dem Boden, komme ich zu einem leidlich erholsamen Schlaf. Karaoke ist hier offensichtlich verboten. Spannend wird es nur, als ich während der Nacht die Toiletten aufsuchen muss. Vorbei an Wachen schleiche ich alles andere als zielstrebig durch die Gänge, verfolgt von aufmerksamen Blicken. Ich hoffe inständigst, dass die Soldaten über unser Erscheinen informiert wurden, denn sonst finde ich mich stattdessen im Verhörzimmer wieder. Doch alles geht gut. Als ich in der Früh aufwache, befürchte ich das Schlimmste: Morgensport, Exerzieren auf dem Kasernenhof, doch nichts dergleichen passiert. Nach dem Frühstück bringt man uns nach Hat Yai, wo wir uns von unseren thailändischen Freunden verabschieden. Dann besteigen wir den Minivan nach Krabi. In meinem Gepäck führe ich die erhaltenen Urkunden mit, die mir die erfolgreiche Teilnahme an den Englisch-Camps bestätigen. Mein Schuldirektor wird sich bestimmt darüber freuen. Liegt ihm doch die Fortbildung seiner Mitarbeiter sehr am Herzen.
»Echten Abenteurern, die sich abseits touristisch ausgetretener Massenpfade von Thailand nach Siem Reap durchschlagen wollen, seien die seit 2003 für den internationalen Grenzverkehr geöffneten Übergänge Smach und Anlong Veng nördlich von Angkor empfohlen. Angeblich soll das kambodschanische Visum an der Grenze ausgestellt werden. Doch wer sichergehen möchte, sollte sich vorher eines besorgen.« [Rump Reise Know-how Kambodscha, 2005].
Ich würde mich nicht gerade als Abenteurer bezeichnen, aber ich habe nur mehr eine Woche, und wenn ich noch einen Abstecher nach Kambodscha in Erwägung ziehen will, dann muss ich über diesen Grenzübergang im Norden Kambodschas. Alles andere wäre ein zu großer Umweg.
Die vergangenen zwei Wochen habe ich in einem kleinen thailändischen Dorf in der Provinz Ubon Ratchathani verbracht, wo ich an einem internationalem Workcamp teilnahm. Die Campleiterin hatte mir über einen Bekannten die Information verschafft, dass an besagtem Grenzübergang auch wirklich »Visa on arrival« ausgestellt wurden. Also machte ich mich per Bahn auf den Weg nach Surin, von wo ich zeitlich in der Früh einen kleinen Minivan bestieg, der mich zur thailändisch-kambodschanischen Grenze brachte. Die Fahrt verlief problemlos, aber mit den wirklichen Problemen rechne ich erst jetzt, wo ich hier am Grenzposten stehe und erstmals auf die kambodschanische Seite hinüberblicke. In diesem Niemandsland sind korrupten Grenzbeamten Tür und Tor geöffnet, und ich hoffe, auf keine nennenswerten Schwierigkeiten zu stoßen. Dass man mir für das Visum ein bisschen mehr abnimmt als die tariflich festgelegten 20 Dollar, davon gehe ich aus.
Ein Kambodschaner kommt auf mich zu und bietet mir an, bei den Grenzübertritts-Formalitäten behilflich zu sein. Das wird er wohl nicht umsonst tun, aber ich habe höchstes Interesse an einem reibungslosen Ablauf und gehe daher auf sein Angebot ein. Ich bin weit und breit der einzige Tourist und mir dessen bewusst, dass ich momentan auf die Leute hier angewiesen bin. Misstrauen bringt mich nicht weiter.
Ich fülle einige Formulare aus und lege meinen Pass, sowie zwei Fotos bei. Das Geld habe ich in US-Dollar zur Hand, aber ich wurde vorgewarnt, dass sie den Preis für gewöhnlich in thailändischen Baht verlangen und dabei großzügig aufrunden. So verhält es sich dann auch. Als ich dem Beamten die Dollarscheine hinhalte, verweigert er deren Annahme und beharrt auf der Bezahlung in der thailändischen Währung. Was soll ich lange herum diskutieren? Er sitzt definitiv am längeren Ast und kann mir eine Menge Ärger machen, also bezahle ich den gewünschten Betrag und ärgere mich lieber im Stillen. Zumal die Differenz nicht allzu groß ist.
Eine Viertelstunde später, innerhalb derer ich ziemlich angespannt bin – wäre ich Raucher, so hätte mich das einige Tage meines Lebens gekostet - klebt das Visum in meinem Pass und ich bekomme den Einreisestempel. Mein Helfer überreicht mir die Dokumente mit den Worten, dass er kein Geld dafür verlangt, sich aber über eine kleine Aufmerksamkeit freuen würde. Also gebe ich ihm ein Trinkgeld und wende mich dem nächsten Problem zu.
Ich will nach Siem Reap, jener Stadt, die als Ausgangsbasis zu dem weltberühmten Tempelkomplex Angkor Wat dient, doch von diesem abgelegenen Grenzposten führt dorthin kein öffentlicher Transport. Die einzige Möglichkeit stellen die Taxis dar, die zwar nicht gerade billig sind, an denen in Ermangelung anderer Alternativen aber kein Weg vorbei führt. Umgerechnet 55 Euro kostet mich die Fahrt, was mir im Nachhinein aber dennoch als durchaus fairer Preis erscheint, denn es hätte mich keineswegs gewundert, wäre die Karre nach der Ankunft in Siem Reap einfach auseinandergefallen. Dabei handelte es sich bei dem Auto um keine Rostlaube. Im Gegenteil, es war eine akzeptable Toyota Camry Limousine. Aber die Kombination aus unbefestigten Straßen und Regenzeit geht an die Substanz, für Mensch und Maschine. Ich werde diese Fahrt mein Leben lang nicht vergessen.
Als wir losfahren, ist die Straße nicht asphaltiert, aber das ist sicher nur vorübergehend, denke ich mir. Immerhin ist sie auf meiner Karte als gelbe Linie eingezeichnet, eine Fernverkehrsstraße also. Nach wenigen Minuten Fahrt biegt der Fahrer plötzlich auf etwas ein, das man bestenfalls noch als Feldweg durchgehen lassen kann, aber selbst das wäre geschmeichelt. Das Auto wird hin und her geschüttelt, und Konfusion macht sich bei mir breit. Werde ich etwa entführt? Oder will mir der Fahrer bloß seine Familie vorstellen? Wir halten in einem kleinen Dorf vor einem einfachen Holzhaus, in dessen Vorgarten sich Computer-Monitore stapeln. Ein etwa dreißigjähriger Mann mit khakifarbener Short und offenem Hemd erwartet uns bereits. Der Fahrer öffnet den Kofferraum, nimmt meinen Rucksack heraus und stopft ihn zu mir auf den Rücksitz. Dann beginnen die Männer die Monitore einzuladen. Danach geht es zurück auf die Hauptstraße. Mir würde niemals die Idee kommen, mit einem Auto einen solchen Weg zu befahren. Ein Mountainbike wäre hierfür wohl geeigneter. Die Schlaglöcher und Bodenwellen sind enorm, und wie das die Bildschirme im Kofferraum überleben sollen, ist mir vollkommen schleierhaft. Vielleicht müssen sie die Fahrt auch nicht überleben, aber ich würde es gerne.
Wir fahren weiter, doch statt des ersehnten Asphaltbandes wird das Gerüttel nur noch heftiger. Die Straße ist durch die starken saisonalen Regenfälle aufgeweicht, und das Auto schlingert wild hin und her. Dann und wann säumen kleine Dörfer den Straßenrand, ohne elektrischen Strom und fließendes Wasser. Die Kinder baden in Pfützen am Straßenrand. Über weite Strecken fahren wir aber durch Regenwald, und mehr als einmal frage ich mich, was wohl passiert, wenn der Wagen eine Panne hat. Und nichts erscheint angesichts dieser Straßenverhältnisse wahrscheinlicher als eben dies.
Überdies scheint der Fahrer gesundheitliche Probleme zu haben. Alle paar Minuten kurbelt er das Fenster hinunter und spuckt auf die Straße. Die Möglichkeit einer ansteckenden Krankheit – Tuberkulose etwa – vergrößert mein Wohlbefinden nicht gerade, doch was soll ich tun? Aussteigen und auf den nächsten Bus warten?
Ein Charakteristikum dieser Fahrt ist, dass wann immer ich mir denke, die Straße würde allmählich besser, es nachher noch wesentlich schlimmer kommt. Stellenweise ist der Untergrund bereits dermaßen schlammig, dass vereinzelte, hängengebliebene Lastwagen das Durchkommen erschweren. Zweimal befürchte ich ein vorschnelles Ende der Fahrt. Einmal, als wir an einem solchen LKW vorbei müssen, und der Wagen vor uns fast im Schlamm steckenbleibt. Und das zweite Mal, als wir beinahe selbst in den Graben abrutschen. Meine Nervosität wächst von Minute zu Minute, aber wenigstens scheinen die entgegenkommenden Limousinen ein Indiz dafür zu sein, dass die Straße bis Siem Reap offen ist – ein Umstand, der mir keineswegs als gesichert erscheint.
Die Bewohner der umliegenden Dörfer tragen das ihre zu diesem Desaster bei. Zufälligerweise sind die Straßenschäden immer bei den Dörfern am größten, und um die Fahrbahn befahrbar zu machen, haben die Leute behelfsmäßige Brücken aus Brettern gebaut, für die sie die Fahrzeuglenker zur Kasse bitten. Ich vermute, dass sie die Straßen vorsätzlich ruinieren, um auf diese Weise ein Weggeld zu kassieren. Für ein ungehindertes Vorwärtskommen ist das natürlich ausgesprochen kontraproduktiv. Des einen Freud, des andern Leid. Aber wer soll es diesen Menschen verdenken, angesichts der schwierigen Bedingungen, unter denen sie ihr Dasein fristen?
Die Gegend, durch die wir uns jetzt Kilometer für Kilometer vorwärts kämpfen, war einst ein Hauptrückzugsgebiet der Roten Khmer, jener traurig-berühmten Gruppierung unter der Führung Pol Pots, die einen jahrelangen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen und zwei bis drei Millionen Menschen brutal abgeschlachtet hat. Dabei waren Pol Pot und seine Mannen keine ungebildeten Henker, sondern zählten zur intellektuellen Elite des Landes. Der engste Führungskader der Roten Khmer lernte sich während seiner Studentenzeit in Frankreich kennen, bevor sie das Land mit ihrer kranken Ideologie überzogen.
In einem kleinen Ort halten wir für ein Mittagessen. Ein Seufzer der Erleichterung entfährt mir, als wir das erste Mal wieder auf Asphalt rollen, denn es kommt mir wie ein Versprechen für die verbleibende Strecke vor. Das Leben spielt sich entlang der Hauptstraße ab, und begierig nehme ich diese ersten Eindrücke kambodschanischen Lebens in mir auf. Dieses Land ist arm, das ist offensichtlich. Der Fahrer führt mich in ein einfaches Restaurant und ich studiere das Gedeck auf dem Tisch. Die mir von Thailand so vertraute und geliebte Fischsauce gibt es hier nicht, dafür eine Reihe anderer Tiegel und Behälter, deren Inhalt ich nicht so ohne weiteres identifizieren kann. Doch probieren geht über studieren, und so landet ein Teil davon in meiner Nudelsuppe.
Am Ortsende wird mein Optimismus dann jäh enttäuscht. Das Asphaltband ist wieder zu Ende und wir rütteln und schütteln durch die Gegend wie eh und je. Es fällt mir schwer, eine genaue Vorstellung davon zu vermitteln, aber es fühlt sich nicht nur an wie ein paar Unebenheiten, sondern ich muss mich auf dem Rücksitz immer wieder festhalten, um nicht unsanft durchs Auto geschleudert zu werden (Warum ich mich nicht angeschnallt habe? Sehr witzig! Waren Sie schon einmal in Kambodscha?) Auf diese Weise geht die Fahrt noch eine Zeit lang dahin, bis der Wald lichter und die Felder häufiger werden. Als die Zahl der Fahrzeuge sprunghaft ansteigt und das Gerüttel abnimmt, und mit dem Beginn einer dauerhaften Asphaltbahn (fast) gänzlich aufhört, ist es an der Zeit, tief durchzuatmen und dem Ende der Fahrt entspannt entgegen zu sehen. Vor dem Gästehaus meiner Wahl bringt der Fahrer das Auto zum Stehen, und zu meinem Erstaunen fällt es nicht auseinander. Doch war da nicht ein Scheppern, als der Wagen um die Ecke verschwand?
Angkor Wat. Tempelstadt der Superlative. Faszinierende Architektur, dämonische Fratzen und Dschungeltempel im Würgegriff der Natur. Ein Must-see, wenn man schon einmal in der Gegend ist. Kein Wunder also, dass mich mein erster Ausflug hierher führt. Angkor Wat ist eigentlich nur der Name des berühmtesten dieser Tempel, denn in Wahrheit ist Angkor ein riesiger Komplex aus mehr als zwanzig verschiedenen Tempel-Anlagen, die über eine Fläche von vielen Quadratkilometern verstreut liegen. Ein ganzer Archäologie-Park sozusagen. Da versteht sich von selbst, dass eine Besichtigung nur motorisiert wirklich Sinn macht, vor allem wenn man nicht länger als einen Tag dafür veranschlagt. Und selbst dann ist es günstiger, sich auf die interessantesten Sehenswürdigkeiten zu beschränken, diese aber dafür umso intensiver zu erleben.
Touy ist Motorrad-Rikschafahrer und Führer in Personalunion. Er chauffiert mich durch die weitläufige Anlage, obwohl ich die Sehenswürdigkeiten alleine erkunden muss, während er draußen wartet. Aber eigentlich ist es mir so ohnehin viel lieber. Wir beginnen mit Angkor Wat, dem größten sakralen Bauwerk der Welt und Wahrzeichen des Landes. Eine steingewordene Vision eines kühnen Herrschers. Ein Touristenmagnet. Viele kommen nur aus diesem einen Grund von Thailand herüber. An Touristen mangelt es denn auch nicht, aber während der Regenzeit hält sich der Rummel in Grenzen.
Der Baustil ist ganz typisch für die Khmer-Kultur. Es gibt auch außerhalb Kambodschas Khmer-Bauwerke, so zum Beispiel im Nordosten Thailands, aber sie unterscheiden sich in ihrer Bauweise deutlich von ihren thailändischen Pendants. Was mir sofort auffällt, ist der dunkle, verwitterte Stein, der dieses kolossale Gebäude fast ein wenig bedrohlich wirken lässt, so als hätte eine Armee von Riesen Pech über die Mauern geschüttet. Weithin sichtbar ragen die berühmten Türme auf, welche auch die kambodschanische Staatsflagge zieren. Im Inneren der Anlage geht es durch finstere Gänge, türlose Öffnungen und über hohe steinerne Türschwellen, und ich fühle mich unweigerlich wie eine winzige Ameise in ihrem Bau. Steile Treppen führen zur nächsten Etage empor, und erst wenn man oben steht merkt man, wie steil die Stufen in Wirklichkeit sind. Dann nämlich, wenn man nach unten blickt und den Besuchern dabei zusieht, wie sie sich unsicheren Schrittes Stufe für Stufe am Geländer hinab tasten.
Von oben genießt man einen tollen Ausblick über das Gelände. Rund um den Kernbereich stehen noch andere, kleinere Bauwerke verstreut, alle von der gleichen, grauschwarzen Farbe. Ein Heißluftballon schwebt über den Palmen, um zahlungswilligen Touristen eine Aussichtsplattform über den Park zu bieten. Die Fassaden des Tempels sind mit kunstvollen Ornamenten verziert und können vermutlich so manche Geschichte erzählen, ebenso wie die steinernen Reliefs an den Wänden der Ballustraden. Ein einheimischer Führer leiht ihnen seine Stimme und erzählt Geschichten von Krieg und Zerstörung, wie meistens halt. Zu einem anderen Ergebnis wäre auch ich nicht gekommen, angesichts der Streitwägen und den Waffen schwingenden Figuren, die sich im Kampf Mann gegen Mann niedermetzeln. Da wird von Historikern und Politikern gebetsmühlenartig wiederholt, dass der Mensch aus seiner Geschichte lernen müsse, doch wenn ich die Nachrichten verfolge, bezweifle ich, dass dies jemals geschehen ist.
Unsere zweite Station, und nach Angkor Wat die wohl zweitbedeutendste Stätte, ist Angkor Thom. Dabei handelt es sich nicht einfach nur um einen Tempel, sondern um eine ganze Stadtanlage, deren Überreste über ein größeres Areal verstreut liegen. Touy setzt mich am Eingang ab und ich bleibe meiner Besichtigungsstrategie treu, einfach aufs Geratewohl los zu marschieren. Eines der Highlights dieser Anlage ist ein Tempel, der sich gegen Angkor Wat von der Größe her eher bescheiden ausnimmt, und doch mit besonderen Merkmalen zu beeindrucken vermag. Aus der Distanz wirkt er nicht sonderlich spektakulär, der Stein präsentiert sich stark verwittert und von der gleichen mausgrauen Farbe wie Angkor Wat. Betritt man das Bauwerk und folgt dem Labyrinth aus Gängen und Kammern, dann fühlt man sich irgendwie beobachtet. Bei genauerem Hinsehen treten aus den Wänden überdimensionale menschliche Gesichter zu Tage, die teils milde lächeln, teils aber einfach nur gelangweilt in die Ferne blicken. Verständlich. Wäre ich seit über achthundert Jahren eingemauert, dann ginge es mir wahrscheinlich auch nicht anders. Fast zweihundert dieser Steinköpfe schmücken den Tempel, so dass einem bei der Besichtigung ständig jemand über die Schulter schaut. Begehen Sie also keine Dummheit, wie etwa einen antiken Stein mitgehen zu lassen oder dergleichen – Big Brother is watching you.
Ich möchte Sie jetzt nicht mit der Beschreibung sämtlicher Tempel, die ich besucht habe, langweilen, aber an Ta Prohm komme ich nicht vorbei. Ta Prohm ist einer der spektakulärsten und auch populärsten Anlagen von Angkor, da er so belassen wurde, wie ihn die Natur im Lauf der Zeit zugerichtet hat. Das ist auch der Grund für sein wildromantisches Dschungelambiente, das aus jedem Besucher einen Entdecker macht. Mächtige Baumriesen, die mit ihren Wurzeln die moosbewachsenen Steine sprengen, umschlingen die historischen Mauern wie ein vielarmiger Krake. Der Boden ist übersät mit großen Steinquadern, und Schritt für Schritt bahne ich mir meinen Weg über Stock und Stein. Immer wieder endet der Weg an einem toten Ende, und es fällt gar nicht leicht, in diesem Labyrinth den Überblick zu behalten. In diesem Durcheinander begegnet man einigen der bekanntesten Motive Angkors. Nur einen großen Steinkopf finde ich nicht. Vor lauter Suchen vergesse ich beinahe, dass meine Besichtigungszeit dem Ende zugeht, und so steuere ich energischen Schrittes dem Ausgang zu, der mir komischerweise so ganz und gar unbekannt vorkommt. Touy ist auch nirgends zu sehen. Offensichtlich stehe ich am falschen Ende. Also noch einmal retour, bei dem Wurzelraum rechts, beim großen Steintor links - Halt, das ist eine Sackgasse – doch rechts und vorbei an dem Stamm, der wie eine fette Riesenschlange seine steinerne Beute umschlungen hält. Nun noch die Rampe hinunter in den Vorhof und durch die Allee zum – diesmal hoffentlich richtigen – Ausgang. Voilà. Der Adler ist gelandet.
Siem Reap selber ist eine nette Provinzstadt, aber allzu viel gibt es nicht zu sehen. Es sind eher die versteckten Details, die einem das Leben hier offenbaren. Das Baugerüst etwa, das so wackelig aussieht, dass man beim Vorbeigehen unwillkürlich den Atem anhält, um es ja nicht zum Einsturz zu bringen. Oder der Verkehrsanarchismus auf den städtischen Straßen, in den man sich am besten auf einem Fahrrad hineinstürzt, um zu lernen, wie ein sich selbst organisierendes System funktioniert. Gefahren wird auf der rechten Straßenseite, aber das kümmert die Motorradfahrer nicht, die mir auf meiner Seite entgegenkommen. Wer in den Verkehr hineinfährt, tut dies ohne nach rechts oder links zu schauen. So etwas hält nur auf. Eingekeilt zwischen einem vorbeifahrenden Motorrad rechts und einem Auto links, heißt es »Augen zu und durch«. Aber ich finde das spannend. Und man fährt mit der Gewissheit, dass sich sicher niemand an die Verkehrsregeln hält. Das macht dieses Chaos ein wenig berechenbarer.
Der Tonle Sap ist ein riesiger See im Herzen Kambodschas, dessen Fläche sich im Laufe der Regenzeit bis auf das Siebenfache seiner ursprünglichen Größe ausdehnt. Wer da nicht vorausschauend baut, wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass sich das Vorzimmer über Nacht in ein Feuchtbiotop verwandelt hat. Doch da der Mensch seit je her danach trachtet, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen, haben die Leute darauf entsprechend reagiert.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3006-9
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