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Danksagung





Meiner Frau Ha und meiner Tochter Joyce,
die mein Leben auf so unerwartete Weise bereichert haben.

Vietnam!



Kapitel 1



Als der Zug um sechs Uhr früh in Hanoi eintraf, war der Himmel grau, und die Straßen bereits von geschäftigem Treiben erfüllt. Die Vietnamesen sind von Geburt an Frühaufsteher, welches unter anderen eines der Charakteristika ist, das ich nicht mit ihnen teile. Ich schleppte mich zu einem der Lokale auf der anderen Straßenseite und bestellte »Pho Bo«, eine Nudelsuppe mit Rindfleischeinlage, die man in Vietnam getrost als die Mutter aller Suppen bezeichnen kann. Das Essen der Suppe mit Löffel und Stäbchen ist dabei nicht halb so schwierig wie die korrekte Aussprache des Wortes »Pho«, das unter anderem auch „Straße“ bedeutet. Wenn Sie der Kellner also mit großen Augen verständnislos ansieht, haben sie wahrscheinlich nach einer Straße mit Rindern verlangt. Das Wörtchen »Bo« selbst hat – je nach Aussprache – auch die Bedeutung von »Butter« oder »Vater«. Sie sehen also, dass die vietnamesische Sprache Ausländern eine Vielzahl an Möglichkeiten bietet, Verwirrung zu stiften.
Punkt sieben Uhr wurde ich dann von Quan abgeholt. Zumindest theoretisch. Ich rief den Direktor der Organisation Volunteers for Peace

an, worauf er mir versprach, sich darum zu kümmern. Wenig später meldete sich Quan telefonisch bei mir. Er war im Morgenverkehr steckengeblieben und empfahl mir, nach einem roten T-Shirt Ausschau halten. Das einzige Rot, das ich sah, war der Hintergrund der vietnamesischen Staatsflaggen. Während ich mich in Weitsicht übte, gelangte ich zur Einsicht, dass organisatorische Dinge in Vietnam ebenso gut funktionierten wie in allen anderen südostasiatischen Ländern, und diese Aussicht trug nicht gerade dazu bei, meinem Aufenthalt hier in freudiger Erwartung entgegenzusehen. Als ich gerade im Begriff war, »Rot« zu sehen, tauchte er auf der anderen Straßenseite auf und winkte mir zu. Der Adler war gelandet.
Per Taxi brachte er mich zum Hauptquartier seiner Organisation, von welchem ich wusste, dass es nicht ganz zentral lag. Aus diesem Grund hatte ich mich vor meiner Abreise auch für eine Unterkunft bei einer Gastfamilie entschieden. Wir fuhren durch den dichten Verkehr, der fast zu jeder Tageszeit das Stadtbild prägte, und verließen nach einer guten Weile den eigentlichen Stadtkern. Die Anzeichen städtischen Lebens wurden spärlicher und das Grün üppiger, und unvermutet fand ich mich quasi auf dem Land wieder. »Nicht zentral gelegen« war eine raffinierte Umschreibung für »am Rande der Stadt«. Die löchrige und holprige Landstraße war beidseitig von bescheidenen Behausungen und Manufakturen gesäumt, und nach einer Weile bogen wir auf eine Art Firmengelände ein, auf dem Gebäude im schalen Ostblock-Charme vergangener Jahrzehnte den Ton angaben.
Einer dieser Plattenbauten beherbergte, neben dem Büro der Organisation, auch eine größere Gruppe von Freiwilligen aus aller Welt. Die meisten von ihnen arbeiteten in Schulen und Waisenhäusern, wo sie teils Englisch unterrichteten, teils mit den Kindern spielten. Ich hatte bereits in den Jahren davor in Summe vier Wochen in Thailand Englisch unterrichtet, und hatte daher anderes im Sinn. Ich wollte zwei Monate lang in einer lokalen Non-Profit-Organisation (NPO) mitarbeiten, und mich auf diese Weise direkt ins lokale Arbeitsleben stürzen. Meine Aufgabe bestand im Editieren englischsprachiger Texte, da asiatisches Englisch mit der weltweit bekannten Sprache nur entfernt verwandt ist, sowie im Unterrichten der englischen Sprache für die Mitarbeiter. Soweit der Plan. Sowohl mein Arbeitsplatz, als auch meine Unterkunft sollten zentraler gelegen sein, darum hatte ich vorher ausdrücklich ersucht. Gespannt, um nicht zu sagen leicht angespannt, betrat ich daher tags darauf das Büro des Direktors, um über die Details meines bevorstehenden Aufenthalts informiert zu werden. Doch ich wurde nicht enttäuscht. Ich war für eine NPO vorgesehen, deren Büro relativ zentral lag. Und man hatte eine Gastfamilie für mich gefunden.


Kapitel 2



Ich reise gerne. Ich gehöre zur Spezies der Rucksacktouristen, die man unter anderem daran erkennt, dass sie ein gewaltiges Paket auf ihrem Rücken tragen und mehr oder weniger planlos durch die Gegend laufen. In den vergangenen Jahren habe ich mich dabei vor allem in Asien herumgetrieben. Dabei habe ich viele exotische Plätze gesehen und viele interessante und lehrreiche Erfahrungen gemacht. Ich war aber nicht nur als Tourist unterwegs. Auch als Volunteer machte ich mich nützlich, und lernte auf diese Weise jene Länder aus einer ganz anderen Perspektive kennen. Auf diesem Weg kam ich auch nach Vietnam. Nach einem zweimonatigen Aufenthalt in Kambodscha verließ ich dessen Hauptstadt Phnom Penh auf einem Schnellboot in Richtung Chau Doc. Natürlich wäre die rund sechsstündige Busfahrt nach Saigon die billigere und raschere Variante gewesen, doch wurde erst vor wenigen Jahren ein Grenzübergang zwischen beiden Ländern entlang des Mekong eröffnet, und dies versprach, die interessantere und kurzweiligere Route zu werden. Sie ermöglichte mir, auf meinem Weg nach Saigon das Mekong-Delta zu bereisen, anstatt von Saigon aus langwierige Mehrtagestouren auf mich zu nehmen.
Vietnam, das sind nicht nur mehr als dreitausend Kilometer Küstenlinie, sondern auch langgestreckte Gebirgszüge, die das Klima maßgeblich beeinflussen. Überhaupt ist das Klima sehr divers in diesem Land, das sich vom Mekong-Delta gute 1800 Kilometer weit in den Norden erstreckt. Der Süden zeigt typisch subtropisches Klima, mit weitgehend gleichmäßig warmen Temperaturen über das Jahr verteilt, mit einer Trockenzeit und einer feuchten Regenzeit. Im Norden findet man vier unterschiedliche Jahreszeiten vor, wobei die Temperaturen im Jahresmittel dennoch deutlich über jenen in Mitteleuropa liegen. Der Winter ist nicht übermäßig kalt, doch die fehlenden Heizungen in den Häusern machen sich spürbar bemerkbar. Der Himmel ist oft grau oder von hoch liegenden Wolken verschleiert, dafür bleibt es relativ trocken. Die Sommer sind heiß, schwül und von sintflutartigen Wolkenbrüchen geprägt, die regelmäßig niedergehen. Dann verwandeln sich ganze Straßenzüge und Wohnviertel in stehende Gewässer. Die Übergangszeiten sind von gemäßigten Temperaturen gekennzeichnet, und speziell der Herbst kann mit einigen sehr schönen Wochen aufwarten. So unterschiedlich sich Klima und Landschaft zeigen, so sehr unterscheiden sich auch die Menschen. Saigon und Hanoi sind zwei unterschiedliche Welten mit deutlich ausgeprägten Dialekten und Mentalitäten. Während die Hauptstadt die ideologische und politische Ausrichtung des Landes vorgibt, ist Saigon mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von über zehn Prozent der Wirtschaftsmotor des Landes.
Ich folgte der klassischen Touristenroute entlang der Küste - Nha Trang, Hoi An, Hue. Um ein wenig Individualismus zu demonstrieren, und um eine zwölfstündige Busfahrt abzukürzen, machte ich einen Zwischenstopp in Quy Nhon. Diese Küstenstadt wurde von den Autoren meines Reiseführers ob ihrer touristischen Jungfräulichkeit angepriesen, doch die Weiterfahrt nach Hoi An war das Einzige, das in meinen Gedächtniszellen einen bleibenden Eindruck hinterließ. Ich erwischte eines der berüchtigten Gemeinschaftstaxis, in denen der Begriff Gemeinschaft auch wirklich exzessiv ausgelebt wird. Folglich saß ich fünf Stunden lang auf Tuchfühlung mit meinen Sitznachbarn, und musste tatenlos zusehen, wie meine Intimsphäre im Laufe der Fahrt auf einen halben Zentimeter zusammenschrumpfte. Als man mich dann an der Abzweigung zu Hoi An aussteigen ließ, hätte ich vor Erleichterung am liebsten den Boden geküsst.
Ich verliebte mich in das kleine Küstenstädtchen mit seinen malerischen Häusern und Gässchen der Altstadt, und seinem beschaulichen und provinziellen Charme. Obwohl dieser Ort eine Touristenhochburg war, wirkten die zahllosen Souvenir-Shops wie bunte Farbtupfer auf den Fassaden der alten, aus dunklem Holz gefertigten Häuser. Die kleinen Restaurants und Cafés entlang des Flussufers sprühten nur so vor Charme und Ambiente, vor allem nach Einbruch der Dunkelheit, wenn sich das warme Licht der Laternen über den Gehsteig ergoss. Es war ein Ort zum Hängenbleiben, und das wäre einfacher gewesen, als ich es mir vorgestellt hatte. Eine der Standardfragen in Vietnam galt meinem Ehe-Status. Man sah mir meine 38 Jahre nicht wirklich an, die meisten schätzten mich weitaus jünger, deshalb war die Verblüffung meist doppelter Natur, wenn ich meine Ehelosigkeit bekundete. Ein asiatischer Mann in diesem Alter hat eine Ehefrau und Kinder, ist dem nicht so, dann gilt dies als höchst eigenartig. Natürlich hätte ich auch einfach mit »Ja« antworten können, dann aber womöglich manch gute Gelegenheit zur Eheschließung verpasst. Die Asiaten sind nämlich Kuppler. Ich stöberte in einem kleinen Souvenir-Laden nach einem passenden Geburtstagsgeschenk für meine Mutter. Ich kaufte einen bunten Seidenschal, und als das Geschäft perfekt war, bot mir die sympathische Ladeninhaberin als Draufgabe auch noch ihre Tochter an. Offenbar hätte sie mich gerne auch als Schwiegersohn adoptiert. Ihre Tochter war nicht anwesend, was ich insofern bedauerte, als es meine Entscheidung bedeutend erleichtert hätte. »Sie können am Abend zurückkommen, um meine Tochter kennenzulernen«, versicherte sie mir, was ich letztendlich doch nicht tat. Obwohl die Vietnamesinnen unter allen südostasiatischen Frauen für mich die hübschesten sind.
In Hue bestieg ich den Nachtzug nach Hanoi. Die Wagennummern laut mitzählend, schleppte ich mein Gepäck einen halben Kilometer über den Bahnsteig, bis ich vor Wagon Nummer dreizehn stand. Ich wuchtete meinen Rucksack in mein Abteil und platzte in eine vietnamesische Reisegesellschaft, die aus deutlich mehr als jenen drei Personen bestand, die zusammen mit mir das korrekte Ergebnis von vier Fahrgästen ergaben. Ein Mann bat mich sogleich Platz zu nehmen und legte mir seine Hand freundschaftlich auf mein Knie. In einem westlichen Land hätte ich daraufhin leicht verstört das Weite gesucht, doch in Asien ist das normal. Ich stand artig Rede und Antwort, von meinen Ansichten über das Land, bis zu meinen privaten Verhältnissen, womit wir wieder bei meinem Ehe-Status angelangt waren. Fast genierte ich mich schon für meine »traurige« Existenz als »sozial gescheitertes Individuum«, als gesellschaftlicher »Loser«, der ziellos durch andere Länder reiste, anstatt daheim ein konventionelles, doch farbloses Leben zu führen. Ich musste wohl oder übel der Realität ins Auge sehen und ehebaldigst heiraten. Es würde mir peinliche Momente wie diesen ersparen.


Kapitel 3



Langsam bewegte sich das Taxi durch die grauen Vororte, vorbei an städtebaulichem Entwicklungsland und neu errichteten Wohnhäusern. Der Himmel war noch immer grau, und die Stimmung so trist wie bei meiner Ankunft. Entlang der Straße standen Baufahrzeuge vor meterhohen Erdhügeln. Große, bunte Plakate verkündeten Parolen in einer Sprache, die ich nicht verstand, doch die Abbildungen darauf erinnerten mich an die Propaganda zur Zeit des zweiten Weltkriegs. Dann wurden die Straßen enger und verwinkelter, die Dichte der Motorräder nahm zu, und ich verlor zusehends die Orientierung. Von einer breiten Straße bog der Fahrer in ein Wohnviertel ein und folgte den schmalen Gassen, bis wir eine riesige Schutthalde erreichten. Die Gebäude zu meiner Linken waren abgerissen worden und lagen in Trümmern auf dem Boden, während zu meiner Rechten ärmliche Hütten aus rohen Ziegeln standen, in denen Menschen einem Gewerbe nachgingen. Während das Taxi über den holprigen Untergrund schaukelte, schnürte sich meine Kehle zusammen, und ich fragte mich, wo ich da schon wieder hineingeraten war? Wollte man mich billigst in irgendeinem Slum unterbringen? An der nächsten Ecke bogen wir in eine weitere Straße ein, die sich zu meiner Erleichterung in einem kleidsameren Gewand präsentierte. Bunte, mehrstöckige Häuser reihten sich eng aneinander, und die Gegend wirkte sauber und gepflegt. Eine Minute später hielt der Fahrer vor einem großen Haus. Mein Begleiter deutete mir auszusteigen. Die Spannung stieg.
Ein junges Mädchen öffnete die Tür und bat uns herein, denn man hatte sie von unserem Kommen unterrichtet. Sie war kleingewachsen, hübsch und sprach zudem wider Erwarten sehr gut Englisch. Ihr Name war Ha. Nach einer kurzen Vorstellung verließ uns mein Begleiter. Wir setzten uns gegenüber und begannen eine Unterhaltung. Sie war allein zu Hause und das überraschte mich, doch vielleicht stellte es in Vietnam kein Problem dar, wenn sich die (unverheiratete) Tochter des Hauses alleine mit einem Ausländer aufhielt. Im Laufe der Unterhaltung stellte sich heraus, dass sie auch Deutsch sprach, denn sie hatte unsere Sprache vier Jahre lang studiert. Im Gegensatz zu ihrem Englisch, welches sie fast täglich benötigte, war ihr Deutsch allerdings etwas eingerostet, und nachdem mein ungewohnter Akzent auch keine wirkliche Hilfe bedeutete, kehrten wir zum Englischen zurück. Sie hatte keine Arbeit, wollte aber in wenigen Tagen eine zusätzliche Ausbildung im Bereich Wirtschaft beginnen. Sie beklagte sich, dass das Haus ein Käfig sei, in welchem ihre Eltern sie gefangen hielten, doch stellte sich im Laufe der folgenden Wochen und Monate heraus, dass dieser Käfig sehr durchlässig war, und sie kam und ging, wann immer sie wollte. Oft kam sie spät am Abend heim und verschwand auf ihrem Zimmer, wo sie bis spät in die Nacht am Computer saß oder Bücher las, manche davon in deutscher Sprache. Sie war gebildet und intelligent, doch kam sie mir antriebs- und orientierungslos vor.
»Erzähl mir mehr von deinem Deutschstudium«, ermutigte ich sie. »Warum hast du eigentlich Deutsch gewählt?«
»Es interessierte mich einfach. Nach dem Abschluss habe ich um ein Visum für Deutschland angesucht, um dort meine Deutschkenntnisse weiter zu vertiefen. Doch es wurde abgelehnt«, meinte sie resignierend. Der Grund dafür?
»Wahrscheinlich waren meine Eltern nicht wohlhabend genug. Ich weiß es nicht. Vielleicht war der Botschafter auch ein Arschloch.«
Vielleicht zweifelte man an ihren Motiven? Eine junge Frau im besten Heiratsalter, gut aussehend und alleine - was kann die schon wollen? Womöglich angelte sie sich dort einen Mann, um den begehrten Eintritt in die Wohlstandsfestung Europa zu erschwindeln?
»Dann habe ich mich auch für ein österreichisches Visum beworben, und später auch für ein italienisches. Doch wurde einem erst einmal der Eintritt ins Schengenland verweigert, dann hat man es schwer.«
»Na ja, vielleicht kann ich dir dabei helfen, wenn ich wieder in Österreich bin«, gab ich mich optimistisch. Doch als Sofortlösung taugte es nichts. Meine Gedanken begannen zu kreisen.
»Du sprichst Englisch und Deutsch, beides auf einem hohen Niveau, damit bist du für die Tourismusbranche doch geradezu prädestiniert«, versuchte ich mich als Berufsberater.
»Das schon, aber mein Verlangen, Touristen im Land herumzuführen hält sich in Grenzen.«
»Du könntest in einem Reisebüro arbeiten, oder vielleicht bei einem internationalen Konzern.« Doch sie winkte ab.
»Eigentlich habe ich gar keine besondere Lust zum Arbeiten. Was ich wirklich gut kann, ist Geld ausgeben«, meinte sie enthusiastisch. Doch Jobs, wo diese

Fähigkeit geschätzt wurde, waren rar.
Nach einer Weile führte sie mich die Treppen hinauf und zeigte mir mein Zimmer. Es befand sich im dritten von fünf Stockwerken und inkludierte ein Bett, einen Kasten und einen Schreibtisch. Speziell der Ventilator sollte sich als unverzichtbar erweisen. Ich war nicht der erste Ausländer in diesem Haus. Die Familie beherbergte regelmäßig Gäste, die für VFP

tätig waren, oft mehrere zur selben Zeit. Sie erhielten dafür von der Organisation zweihundert Dollar pro Person als Aufwandsentschädigung. Für Ha war dies eine willkommene Gelegenheit, ihr Englisch zu verbessern und ihren beträchtlichen Wissensdurst über den Westen zu stillen.

Drei Stunden später kam Quan, um mich zu meinem Arbeitsplatz zu bringen. Während wir das Viertel zu Fuß verließen, versuchte ich mir den Weg minutiös einzuprägen. Ich war der einzige Ausländer weit und breit, und daher musterten mich die Leute mit neugierigen Blicken. An der großen Straße stiegen wir in einen städtischen Linienbus ein, der zu dieser Tageszeit nur schütter besetzt war, und fuhren ein paar Stationen Richtung Stadtzentrum. Die Straße war chaotisch, die Busfahrt ruppig, denn der Fahrer bremste sein Gefährt immer wieder unvermutet ab, begleitet von einem kräftigen Stoß auf die Hupe. Die Motorradfahrer antworteten daraufhin im Chor, was sie aber nicht daran hinderte, den Bus zu schneiden oder gegen die Einbahn zu fahren. An der Ausstiegsstelle wurden wir von zwei jungen Männern abgeholt, die uns per Motorrad zum Büro brachten. Durch einen gelblichen, verwitterten Torbogen mit chinesischen Schriftzeichen bogen wir in eine schmale Gasse ein und gelangten in einen weiteren Mikrokosmos. Dieses Viertel war ein wenig luftiger, die Gassen breiter und die Häuser attraktiver. Vor einem der Wohnhäuser machten wir Halt. Neben dem Eingang prangte ein messingfarbenes Schild mit der Aufschrift »CECODES«. Das Büro der Organisation befand sich ebenerdig, und als ich eintrat, erhob sich die Belegschaft vom ovalen Besprechungstisch, und ein kleiner, weißhaariger Mann reichte mir mit einem freundlichen Lächeln die Hand zum Gruß. Dann bat er mich, in ihrem Kreis Platz zu nehmen.
Der Reihe nach stellte er mir die anwesenden Personen vor. Er selbst war Universitätsprofessor und der Direktor dieses Vereins. Ich war der erste Ausländer, der für CECODES

arbeitete, umso neugieriger war man auf mein Kommen. Er erklärte mir das Geschäftsfeld der , und wir vereinbarten meine Arbeitsbedingungen. Sie verfolgten wissenschaftliche Projekte zur Stärkung der zivilen Bürgergesellschaft, da die Einbindung der Bevölkerung in demokratisch ablaufende Entscheidungsprozesse auf der Agenda eines kommunistisch reagierten Staates nicht unbedingt an erster Stelle stand. Sie waren gezwungen, dabei sehr behutsam vorzugehen, um die Obrigkeit nicht vor den Kopf zu stoßen. Sie operierten daher in enger Zusammenarbeit mit regionalen und überregionalen Behörden, sowie ausländischen Kooperationspartnern. Sie erwarteten von mir, auf Englisch verfasste, fertige Projektberichte und neue Projektanträge zu überarbeiten, sowie meine Kollegen in ihrer englischen Kommunikationsfähigkeit voranzubringen. Nach einer halben Stunde verabschiedete ich mich von ihnen, um am darauf folgenden Tag in der Früh meinen Dienst anzutreten.

Alleine machte ich mich auf den Heimweg, was meinen Orientierungssinn auf eine harte Probe stellte. Ich hatte die Zahl der Stationen nicht exakt mitgezählt, auch hatte ich in dem überfüllten Bus keine freie Sicht auf die Umgebung gehabt. An den Haltestellen fehlte eine Standortbezeichnung, weswegen ich auf Raten angewiesen war. Gegenüber der Bushaltestelle, an der wir eingestiegen waren, befand sich ein Supermarkt mit einer giftgrünen Fassade, und als der Bus in die Haltestelle einfuhr, stand ich noch zu tief im Wageninneren, um den Ausgang rechtzeitig zu erreichen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als den Bus bei der nächsten Gelegenheit zu verlassen und zurückzugehen. Dafür fand ich auf Anhieb zum Haus zurück, wo mich Frau Ngoc, Ha's Mutter, in der Küche begrüßte. Sie hatte ein freundliches Gesicht und trotz ihres Alters noch langes Haar, das hie und dort bereits silbrig glänzte. Auch war sie immer noch berufstätig, und fuhr am Morgen auf ihrem Motorrad in die Arbeit, die Handtasche über den Lenker gehängt. In der Früh auf den Markt gehen und das Frühstück herrichten, in die Arbeit fahren, zu Mittag heimkommen (und gegebenenfalls kochen), wieder in die Arbeit fahren, und nach getaner Arbeit zu Hause duschen und mit dem Kochen beginnen. Das war ihr Alltag. Nach dem Abendessen wusch sie das Geschirr ab und setzte sich danach meist vor den Fernseher. Ich hätte mich gerne ausführlicher mit ihr unterhalten, doch ließen das ihre bescheidenen Englischkenntnisse nicht zu.
Als ich in meinem Zimmer auf das Abendessen wartete, hörte ich Schritte im Treppenhaus. Ein kleiner, gedrungener Mann mit deutlichem Bauchansatz steckte den Kopf zur Tür herein. Es war der Hausherr. In gebrochenem Englisch hieß mich Herr Huu in seinem Haus willkommen, und wir wechselten ein paar Worte, bevor er auf sein Zimmer verschwand. Ha war nicht zu Hause, dafür Son, ihr jüngerer Bruder. Sein Englisch war etwas besser als das seines Vaters, doch verhielt er sich ziemlich wortkarg. Den Großteils der Zeit verbrachte er vor dem Computer, wo er mit Freunden chattete, Musik hörte oder Computerspiele spielte. Seine Stimme klang sanft, wenn er Englisch sprach, doch auf Vietnamesisch verwandelte sich sein Sprachorgan in ein Sturmgewehr, das spitze, raue Laute in die Umgebung raunzte. Dann mochte ich seine Stimme nicht.
Das Abendessen nahm ich im Kreis der Familie ein, doch ohne Ha stockte die Unterhaltung spürbar. Die Sprachbarriere, gegen die ich prallte, berührte mich unangenehm, obwohl die Familie diese Situation gewohnt war. Sie hatten Erfahrung im Umgang mit Ausländern, und so führten wir ein bisschen Smalltalk, währenddessen ich meine erste Vietnamesisch-Lektion erhielt. Ich hatte Schwierigkeiten, mir die ungewohnten Laute zu merken, noch dazu ohne schriftliche Erläuterung. Unermüdlich wiederholte Frau Ngoc die Wörter für Reisschale, verschiedene Gemüse- und Fleischsorten, als hätte sie es mit einem Sonderschüler zu tun. Gelegentlich fragte sie mich auch nach einem englischen Wort. Es wurde keine brillante Unterhaltung, doch der Wille zählte. Sie zeigte sich fest entschlossen, mich nicht magerer ziehen zu lassen, als ich gekommen war, und bemutterte mich dementsprechend. »Danke, ich bin satt«, war daher einer der ersten Sätze, die ich auswendig lernte.


Kapitel 4



Seit mehreren Tagen lebte ich nun schon in Hanoi. Ich fuhr mit dem Bus zur Arbeit, schlürfte mein Frühstück in einer kleinen Suppenküche in der Nähe meines Büros, und entwickelte angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit sehr rasch ein ausgeklügeltes Rotationssystem, um weitgehend trockene Oberbekleidung am Leib zu tragen. Speziell in den gut besetzten Bussen kam ich den Einheimischen rasch näher, obwohl es eine Weile dauerte, bis ich das Prinzip verstand, nach dem die chaotischen Vorgänge im Inneren der Fahrzeuge abliefen.
Hanois Busfahrer haben wenig Zeit. Das ist verständlich, denn in dem dichten Verkehrsaufkommen verlieren sie mit jedem gefahrenen Kilometer eine Menge davon. Nach 100 Metern Wegstrecke haben sie bereits einen Rückstand, den sie bis zur Endstation nie wieder einholen. Dennoch probieren sie es mit allen Mitteln. Die Türen werden in den Haltestellen daher nur für wenige Sekunden geöffnet, und der letzte Einsteigende muss auf den bereits abfahrenden Bus aufspringen. Nachdem man mir im Rahmen meiner Erziehung beigebracht hat, auf andere Rücksicht zu nehmen und nicht zu drängeln, war dies in der Regel ich. Wahrscheinlich war das der Grund, dass alle Wartenden wie von der Hummel gestochen auf den einfahrenden Bus zuströmten und sich einen Kampf auf Biegen und Brechen lieferten, denn der Letzte verließ die Haltestelle als Trittbrettfahrer. Oder musste dem abfahrenden Bus nachsehen. Was nicht unbedingt von Nachteil ist, denn einerseits ist man zur »Rush Hour« ohnehin zu Fuß schneller unterwegs, und andererseits spielen sich im Inneren der Busse unbeschreibliche Szenen ab. Während der Hauptverkehrszeit sind die Busse nämlich bis zum Bersten gefüllt. Dies hat den Vorteil, dass man nicht umfallen kann, wenn der Busfahrer eine Notbremsung hinlegt, dafür aber auch eine Reihe offensichtlicher Nachteile. Deshalb folgender kurzer Ratgeber:
Sich in fahrenden Bussen gut festzuhalten, ist immer eine lohnenswerte Devise. Wehe dem, der den Griff für eine Millisekunde lockert. Er wird sofort mit einer Notbremsung bestraft. Wenn man Glück hat, ist der Bus so voll, dass dies keine weiteren Konsequenzen nach sich zieht. Ansonsten hält man sich einfach an einem anderen Passagier an. Das ist ein gängiges Prinzip, dass ich oft genug am eigenen Leib erfuhr. Auch wenn ich bei jungen Frauen schon einmal ein Auge zudrückte. Wer sich festhält, ist ohnehin der Dumme. Er hat die zweifelhafte Ehre, das Gewicht all jener Passagiere abzufangen, die dem Prinzip des Festhaltens wenig Aufmerksamkeit schenken.
Eingestiegen wird vorne, ausgestiegen hinten. Besonders in vollen Bussen ist man mit dem Zurücklegen dieser Strecke eine ganze Weile beschäftigt. Es erfordert außerdem eine Menge Körpereinsatz. Deswegen lohnt es sich eigentlich nicht zur Stoßzeit in den Bus einzusteigen, wenn man weniger als zwei Stationen zurücklegen will. Man ist dann ohnehin zu Fuß schneller.
Aufgrund des permanenten Zeitmangels öffnen die Busfahrer die Türen in den Haltestellen niemals länger als fünf Sekunden. Das ist insbesondere dann von Nachteil, wenn der Bus ein gutes Stück von der Haltestelle entfernt stehen bleibt. Immerhin bleibt er überhaupt stehen. Mit etwas Übung gelingt es aber, aus vollem Lauf auf den abfahrenden Bus aufzuspringen.
In jedem Bus hält sich eine bemitleidenswerte Kreatur auf, deren Aufgabe darin besteht, die Fahrausweise der eingestiegenen Fahrgäste zu kontrollieren, beziehungsweise den Fahrpreis zu kassieren, und die Tickets auszuhändigen. Es empfiehlt sich daher, den Fahrausweis oder das Geld schon vor dem Einsteigen bereit zu halten, da dadurch das umständliche Herumkramen im fahrenden Bus vermieden wird. Sich anzuhalten ist unter diesen Umständen nicht möglich, und wird umgehend mit einer Notbremsung bestraft. Nach dem Einsteigen wird man dazu angehalten, sich zügig in das Hintere des Wagens zu begeben. Diese Aufforderung erfolgt umso hartnäckiger, je weniger Platz dort vorhanden ist.
In dem dichten Gedränge städtischer Linienbusse sind Körperkontakte zwischen Fahrgästen unvermeidlich. Beim Durchwursteln durch den Passagierraum braucht man den Aktivitäten seiner Ellbogen jedoch keine Aufmerksamkeit zu schenken, da Asiaten auf jede Nötigung mit einem verständnisvollen Lächeln reagieren. Muss man vorübergehend den Griff lockern, zum Beispiel um von einem Ausgang zum anderen zu gelangen, kann man sich auch an anderen Passagieren anhalten. Übt man sich in vornehmer Zurückhaltung, so ist man vermutlich Ausländer, wird aber dennoch als Einheimischer behandelt, mit allen vorher beschriebenen Konsequenzen.
Notbremsungen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

An meinem ersten Wochenende in Hanoi bekam ich dann endlich die Gelegenheit, das Stadtzentrum zu erkunden. Rund um den idyllischen, kleinen Hoan Kiem See lag die Altstadt, ein Geflecht aus kleinen Straßen und engen Gassen, in denen Menschen, Läden, Märkte und Motorräder zu einem geschäftigen Konglomerat verschmolzen. Es war auch die Gegend mit der höchsten Dichte an Touristen, verbunden mit all den unangenehmen Begleiterscheinungen wie lästige Straßenverkäufer, nervige Motorradtaxi-Fahrer und unmögliche Ausländer. In Kombination mit einer Infrastruktur, die einzig und allein darauf ausgerichtet ist, den Reisenden möglichst effizient von seinen Ersparnissen zu trennen, war dies der Stoff, aus dem meine Albträume gemacht sind. Während ich ziellos durch die Gassen schlenderte, entdeckte ich eine Vielzahl von Dingen, die ich entweder nicht brauchte, oder aber ausgesprochen entbehrlich fand. Dabei stellte ich fest, dass vietnamesische Fahrzeuglenker für nichts und niemanden bremsen. Als Fußgänger steht man daher in engeren Gassen vor der Wahl, sich entweder in Luft aufzulösen, oder sich im letzten Moment auf die Seite zu werfen. Da das Herannahen des Fahrzeugs stets von einem Hupgeräusch begleitet wird, lässt sich diese Reaktion für gewöhnlich gut konditionieren. Vietnamesischen Besuchern Österreichs oder Deutschlands müssen Aufkleber mit der Aufschrift »Ich bremse auch für Tiere« daher geradezu rührend vorkommen.
Am nächsten Tag holte mich mein Arbeitskollege Chinh von zu Hause ab, um mir einige der Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt zu zeigen. In Vietnam gilt allgemeine Helmpflicht für Motorräder, weswegen ich auf das Tragen von Leihhelmen angewiesen war. Speziell bei Fahrten mit den Motorradtaxis[1] ist dies gewöhnungsbedürftig, da die mitgeführten Helme davor bereits auf tausenden von Köpfen geruht haben, und so etwas wie ein eigenes Ökosystem darstellen. Folglich galt mein erster Blick immer dem Innenleben des Helmes, bevor ich ihn über mein Haupt stülpte. Bewegte sich ein Helm von selbst, verweigerte ich ihn. Passte die Größe nicht, so tauschte ich ihn mit dem Fahrer.
Unser erstes Ziel war Ho Chi Minhs Mausoleum, welches nur bis elf Uhr geöffnet war. Als wir vor dem Gelände eintrafen, wartete bereits eine Menschenschlange von mehreren hundert Metern Länge darauf, eingelassen zu werden. Ich kaufte ein Ticket, gab meinen Rucksack ab und meine Vorhaben für den Rest des Tages auf. Trotzdem kamen wir unseren Ziel zügig näher. Wir passierten Sicherheitskontrollen, die denen eines Flughafens um nichts nachstanden. Rund um das in einem schlichten und nichtssagenden kommunistischen Stil gehaltene Mausoleum hielten sich Ehrengardisten auf, mit blitzblanken, cremefarbenen Uniformen, steifer Körperhaltung und zackigem Marschierschritt. Ich konnte sie mir gut in Disneyland vorstellen, wie sie vor Onkel Dagoberts Geldspeicher Wache hielten. Wir schritten langsam die Stufen des Grabmals empor und gingen durch den gedämpft beleuchteten Gang ins Innere des Gebäudes. Ich spürte die Spannung in mir aufsteigen, als ich um die Ecke bog und die Hauptkammer betrat.
Das Innere des Raums war nur schwach ausgeleuchtet. In seiner Mitte befand sich ein Podest, auf dem ein gläserner Sarkophag stand. In seinem Inneren ruhte Onkel Ho[2], in feiner Seide und perfekt gekämmt. Sein kreidebleiches Gesicht hatte einen ernsten, staatsmännischen Ausdruck. Trotz des gleißenden Scheinwerferlichts war kein einziger Schweißtropfen auf seiner Stirn zu sehen. In einem Abstand von etwa fünf Metern wurden wir auf einer Galerie um den Sarg herumgeführt, wobei herumgescheucht der passendere Ausdruck wäre. Langsam folgte ich dem Menschenstrom, den Blick stets auf den reglosen Körper gerichtet, der Einzigartigkeit der Begegnung gewahr. Kaum eine Minute verweilten wir bei ihm, dann mussten wir seine letzte Ruhestätte auch schon wieder verlassen. Gerne hätte ich mich eine Weile mit ihm unterhalten, aber in unserer schnelllebigen Welt haben selbst die Toten keine Zeit mehr.

Onkel Ho, erzähl mir doch aus deinem Leben. Von Revolution und Träumen. Vom entbehrungsreichen Leben als Guerilla. Und von Krieg, Tod und Verwüstung. Onkel Ho, war es das alles wirklich wert?




Kapitel 5



Wer bremst, verliert. Nirgendwo bewahrheitet sich diese Weisheit eindringlicher als auf den Straßen Vietnams. Es wird getreten, gekratzt und gebissen, ehe man auf die Idee kommt, die Geschwindigkeit zu reduzieren oder gar stehenzubleiben. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Betätigen der Hupe zu. Es bedeutet soviel wie »Jetzt komme ich und alle anderen aus dem Weg.« Folglich wird ununterbrochen gehupt, was dem Prinzip der »Verkehrsberuhigung« entschieden widerspricht. Beruhigt wird der Verkehr auf eine andere Art und Weise, indem so viele Verkehrsteilnehmer auf die Straßen drängen, dass der Verkehr nahezu vollständig zum Erliegen kommt. Dummerweise beginnt das Verkehrsaufkommen bereits in aller Früh, weswegen einen diese Kakophonie an Huplauten durch den ganzen Tag hindurch begleitet. Ich habe sogar einmal eine Hupverbotstafel gesehen, aber dass sich irgendwer daran hält, glauben wahrscheinlich nicht einmal die Behörden. Es handelte sich vermutlich um ein Relikt aus der französischen Kolonialzeit. Dafür haben die meisten Fahrräder interessanterweise keine Klingel. Dieser Umstand erscheint zwar auf den ersten Blick paradox, doch geht das zarte Klingeln eines Fahrrads ohnehin im ohrenbetäubenden Lärm der motorisierten Verkehrsteilnehmer unter.
Angesichts der unzähligen Motorräder auf den Straßen Hanois liegt die Vermutung einer Parkplatzknappheit nahe, doch weit gefehlt. Erstens lassen sich diese Fahrzeuge so platzsparend entlang der Gehsteige abstellen, dass man weite Umwege in Kauf nehmen muss, um die Straße zu überqueren; zweitens stellen auch die Gehsteige eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit der Parkraumbewirtschaftung dar; drittens sorgen häufige Diebstähle dafür, die Zahl der Fahrzeuge zu beschränken, und daher parken, viertens, die meisten Leute ihre Motorräder dort, wo sie vor dem Zugriff zwielichtiger Gestalten sicher sind. In Geschäftsräumen, im Wohnzimmer oder im Büro.

Vor diesem Szenario ging ich also meinem Leben als Hanoianer nach. Die Arbeit gestaltete sich mühsam, denn die Dokumente waren in einem Englisch verfasst, welches sehr zweideutig war. Mit dem fachlichen Hintergrund nicht vertraut, ließen sich viele Aussagen auf mehrere Arten interpretieren, und da der Direktor der einzige war, der mit den Projekten vertraut war und

mir sprachlich weiterhelfen konnte, dafür aber die meiste Zeit persönlich nicht anwesend war, strapazierte ich meine kleinen grauen Gehirnzellen, um die Inhalte so wahrheitsgetreu wie möglich auszulegen. Dazu kam ein technisches Vokabular, welches ich mir zuerst über ein Online-Wörterbuch aneignen musste, denn mit Mülldeponien hatte ich mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht allzu ausführlich beschäftigt, auch wenn meine Mutter mein Kinderzimmer gelegentlich als Saustall bezeichnet hatte. Ich erfuhr Wissenswertes über vietnamesische Organisationen wie die Vaterlandsfront, das Volkskomitee oder die Frauen- und Jugendunionen. Generell ist das Land von einem Netzwerk verschiedener ziviler Organisationen überzogen, und nahezu jeder Vietnamese gehört einem oder mehreren dieser Institutionen an, speziell auf dem Land.
Nach etwa einer Woche bekam meine Gastfamilie Zuwachs. Als ich eines Tages vom Büro kam und auf mein Zimmer ging, streckte ein bärtiges Gesicht den Kopf aus dem Nachbarzimmer und stellte sich mir als Esben vor. Esben war dreiundzwanzig, stammte aus Kopenhagen und war für drei Monate nach Hanoi gekommen. Ich erkannte ihn als einen der Bewohner des Hauptquartiers von VFP

wieder. Es war sein erster Aufenthalt auf diesem Kontinent, und dementsprechend unbefangen ging er an die Sache heran. Ich war dankbar für sein Erscheinen, denn die Anwesenheit eines zweiten Ausländers nahm den Fokus von mir und lockerte die gemeinsamen Mahlzeiten auf. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine besonderen Anstrengungen unternommen, der vietnamesischen Sprache Herr zu werden, doch Esben nahm diese Herausforderung mit Begeisterung an und nützte jede Gelegenheit, diese so seltsam klingende Sprache zu meistern. Rasch mutierte er zum Darling der Familie, was mich anfangs ein wenig eifersüchtig machte, doch mit der Zeit auch mich aus der linguistischen Reserve lockte. Dennoch verstanden wir uns ausgezeichnet, und die enge räumliche Präsenz machte uns rasch zu Freunden.

Der April verging, und mit dem Mai kam wärmeres und sonnigeres Wetter. Den Tag der Arbeit verbrachte ich in Sapa, nachdem mich Chinh eingeladen hatte, ihn und einige seiner Freunde für ein verlängertes Wochenende dorthin zu begleiten[3]. Dieser im Nordwesten Vietnams gelegene Ort ist eine der Touristenattraktionen des Landes, und zeichnet sich durch eine atemberaubende Landschaft aus. Die zahlreichen ethnischen Minderheiten, die in der Region leben, verleihen der Szenerie zusätzlich Farbe. Es wurde ein interessanter und netter Ausflug. Die folgenden Wochenenden nutzte ich, um die weitere Umgebung Hanois zu erkunden. Ich besuchte die Halong Bay - ein UNESCO Weltkulturerbe - mit ihren Karstfelsen, die aus dem Wasser der berühmten Meeresbucht ragen. Ich besichtigte die idyllische Umgebung Ninh Binhs auf dem Motorrad, mit der viel fotografierten Flussfahrt bei Tam Coc durch drei Höhlen als Höhepunkt meines Aufenthalts. Gemeinsam mit Esben verbrachte ich ein Wochenende im Nationalpark Cuc Phuong, inklusive Bungalownächtigung im Parkzentrum, welches so finster war, dass das Liebeswerben der Glühwürmchen die einzige Beleuchtung darstellte. Und Mitte Mai sorgte dann der »United Nations Vesak Day« (ein weltweiter buddhistischer Festakt), der im National Convention Center

in Hanoi veranstaltet wurde, für einen fulminanten Höhepunkt. Ich besuchte diese Veranstaltung, zu der tausende Mönche und Laien aus aller Welt angereist kamen, während zweier Tage, und erlebte ein buntes Fest zu Ehren des Gründers dieser sanften Religion[4].
Zu dieser Zeit erklärte auch der Professor meine Arbeit im Büro für beendet. Ich hatte zwei Dokumente überarbeitet, und darüber hinaus gab es für mich nichts weiter zu tun. Wozu sie dafür überhaupt jemanden benötigt hatten, blieb mir schleierhaft, denn die Anträge waren alt gewesen und ich bezweifelte, dass es sich um aktuelle Texte handelte. Doch genau dies ist eines der Grundübel des Volunteer Business. Angesichts idealistischer Menschen, die viel Geld bezahlen, um in einem sogenannten Entwicklungsland »Gutes« zu tun, werden viel zu viele Freiwillige angeworben, für die erst im Nachhinein Arbeit gefunden werden muss, anstatt zuerst den genauen Bedarf zu erheben, um dann die benötigten personellen Ressourcen ins Land zu holen. Längst ist Volunteering zu einem profitablen Geschäft für westliche Organisationen geworden, die den Idealismus anderer ausnutzen, um ihnen bis zu mehreren tausend Dollar aus der Tasche zu ziehen. Das ist für einen mehrmonatigen Aufenthalt in einem anderen Land vergleichsweise bescheiden, doch darf man nicht vergessen, dass diese Personen Arbeit leisten, anstatt auf der faulen Haut zu liegen. Die Unterkunft ist bescheiden und die Verpflegung gut, aber kaum mit nennenswerten Kosten verbunden. Der Großteils des Geldes fließt in den aufgeblähten Verwaltungsapparat der westlichen Organisationen, denn die lokalen NPOs sehen nur einen Bruchteil davon. Internationaler Freiwilligendienst verkommt immer mehr zu einer Art Abenteuerurlaub für Individualtouristen. Wer mit seinem Geld und seiner Arbeitskraft wirklich lokale Projekte unterstützen möchte, fährt am besten ins jeweilige Land und sucht sich ein Projekt vor Ort. Speziell in Südostasien ist dies einfach, denn an vielen Orten werden Mitarbeiter für Stunden oder auch Monate gesucht. Ich bin während meiner Reisen durch diese Region laufend über solche Projekte gestolpert.
In Vietnam ist dies zugegebenermaßen ein wenig schwieriger, denn man wird laufend überwacht, da die lokalen Organisationen in regelmäßigen Abständen Berichte verfassen müssen. Mein Aufenthalt bei meiner Gastfamilie musste ebenso zuvor erst behördlich genehmigt werden, wie meine Mitarbeit bei CECODES

. Ich wusste, dass sowohl meine Gastfamilie, als auch VFP

Berichte an die Behörden übermittelten. Kein nennenswertes Problem im Normalfall, doch es hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Es war eines der vielen Mosaiksteinchen, deretwegen mir das Bild Vietnams von Anfang an nicht besonders gefiel.

An meinem letzten Arbeitstag pilgerte ich ein letztes Mal zu meiner Arbeitsstätte, um mich von meinen Kollegen zu verabschieden. Zu diesem Zweck lud ich sie zum Mittagessen in ein »Pho-Restaurant« ein, in welchem die berühmte Nudelsuppe in verschiedenen Varianten zubereitet wurde, und zwar wahlweise mit Huhn, Rind oder Schwein. Für Hundefleisch muss man sich auf die Straße begeben, auch wenn es beliebte Restaurants in Hanoi gibt, zu denen sich all jene begeben, die Hunde zum Fressen gerne haben. Jetzt werden Sie sich sicher fragen, »hat er oder hat er nicht?« Ja, ich habe. Ein kleines Stückchen. Eines Abends, als Frau Ngoc für eine Woche verreist war, brachte Herr Huu aufgeschnittenes Hundefleisch nach Hause und bot es uns zum probieren an. Das Fleisch war dunkler gefärbt als etwa Schwein und schmeckte vollkommen neutral. Nie im Leben hätte ich hinter diesen unauffälligen Scheiben Fleisch des Menschen besten Freund vermutet. Ob ich es bei anderer Gelegenheit ohne mein Wissen in einer Suppe mitgegessen habe, bleibt dahingestellt. Ausgeschlossen ist es nicht. Nicht alles, was ich in asiatischen Ländern auf meinem Teller vorgefunden habe, konnte ich in jedem Fall zweifelsfrei identifizieren.
Werden Tiere zu anderen Zwecken als der Nahrungsaufnahme gehalten, so geschieht dies aus mir unerfindlichen Gründen. Bei Hunden ist die Sache klar, sie dienen dazu, die Nachbarn am Schlafen zu hindern, aber Katzen? In dem Büro, in dem ich arbeitete, hielt die Familie im Stockwerk darüber eine kleine Katze. Der niedrige soziale Stellenwert dieser bemitleidenswerten Kreatur drückte sich unter anderem dadurch aus, dass sie im Erdgeschoss an einer Leine festgebunden war, und die einzige Form der Zuwendung im gelegentlichen Hinstellen eines Fressnapfs bestand. Folglich raunzte sie über weite Strecken des Tages, und ich war vermutlich der Einzige, der sich zeitweise mir ihr beschäftigte. Ich hätte den kleinen Schreihals glatt adoptiert, doch was hätte ich mit ihr zum Zeitpunkt meiner Weiterreise machen sollen? Wie sie über die Grenze nach China schmuggeln? Eingeklemmt zwischen zwei Weißbrothälften mit dem Hinweis auf lokale Essgepflogenheiten?
Jenes Büro wird mir auch noch aus anderen Gründen in Erinnerung bleiben. In unseren Breitengraden dienen Büroräume üblicherweise nur zum arbeiten, doch nicht so in Vietnam. Ich weiß nicht, was die Nachbarin von gegenüber dazu veranlasste, ihre Tochter regelmäßig in unserem Büro zu füttern, aber vielleicht lag der Grund in dem spektakulären Tierleben. Neben der Katze, die angesichts der öffentlichen Ausspeisung stets in fieberhafte Wahnvorstellungen verfiel, konnten die Räumlichkeiten noch mit drei Zierfischen aufwarten, die sich in einem kleinen Becken in einer Ecke des Raumes tummelten. Ich bezweifelte zwar den pädagogischen Wert dieser Zurschaustellung animalischen Elends, doch was weiß ein Fremder? Gelegentlich hielten die Mütter und Großmütter der Nachbarschaft eine Vollversammlung bei uns ab, was das Arbeiten zwar nicht unbedingt erleichterte, dafür aber tiefere Einblicke in das Sozialleben dieser Leute ermöglichte.

Wo die Liebe hinfällt ...



Kapitel 6



Gegen Ende Mai war die Zeit gekommen, das Land zu verlassen, und es stellte sich naturgemäß die Frage, wohin die Reise weiterging. Ich wollte nach China, doch waren die Einreisebestimmungen just wenige Monate zuvor aufgrund der Unruhen in Tibet und den bevorstehenden Olympischen Spielen drastisch verschärft worden. In der chinesischen Botschaft in Hanoi empfahl man mir, zwecks Antragsstellung auf ein Visum nach österreich zurückzukehren, was aus der Sicht des Botschaftspersonals natürlich ein großartiger Vorschlag war, mich aber weniger befriedigte. Also war ich gezwungen, nach Alternativen zu suchen, was angesichts der Vielzahl der in Frage kommenden Länder kein leichtes Unterfangen war. Ich liebe es ja weniger, aus einem überangebot auszuwählen. Es ist viel einfacher, wenn man sich nur zwischen zwei oder drei Alternativen entscheiden muss. Sie kennen dieses Phänomen sicherlich aus eigener Erfahrung. Bevor man sich auf einem halbleeren Parkplatz für einen Standplatz entschieden hat, hätte man sich in der halben Zeit spielend in die kleinste verfügbare Parklücke hineingezwängt. Man ist einfach fokussierter.
Sollte ich nach Taiwan zurückkehren, nach Japan fliegen oder einen Abstecher nach Hong Kong und Macau machen? Sollte ich nach Indonesien, auf die Philippinen oder gar nach Australien reisen? Gelang es mir, nach Burma einzureisen, das Wochen zuvor von einem Zyklon stark in Mitleidenschaft gezogen worden war und sich nach wie vor im Ausnahmezustand befand? Oder sollte ich mit dem Motorrad durch den Norden Thailands touren? Das waren handfeste Probleme, und all jene, die in ihrem Büro vor einem Berg Akten sitzen und von der großen weiten Welt träumen, sollten sich glücklich schätzen, ein so einfaches und unkompliziertes Leben zu führen. Ich verbrachte die darauf folgenden Tage in Buchläden und Internetcafés, um die benötigten Informationen zu recherchieren und Erfahrungsberichte anderer Reisender einzuholen. Hätte mir nur jemand ein Flugticket in die Hand gedrückt und mich dorthin geschickt, wo der Pfeffer wächst (also zum Beispiel nach Indien, oder auch ins südliche Kambodscha, das für seinen Pfeffer berühmt ist). Wie viel einfacher wäre das gewesen! Nach ein paar Tagen entschied ich mich letztendlich für die folgende Variante: ich buchte einen Flug nach Bali, wo ich eine Woche zu verbringen gedachte. Danach wollte ich innerhalb von drei Wochen über die indonesische Insel Java reisen, um am Ende des Monats von Jakarta nach Bangkok auszufliegen. Von dort wollte ich noch Burma bereisen, und Anfang August von Bangkok nach Wien zurückkehren. Das klang vielversprechend, und dementsprechend zufrieden war ich mit meinem Plan. Mit dieser Aussicht konnte ich die verbleibenden Tage in Hanoi in Ruhe genießen.
Als ich die Geschäftsstelle der asiatischen Billigfluglinie Air Asia

verließ, war ich in ausgezeichneter Stimmung. Ich schlenderte entlang des Hoan Kiem Sees, der an schönen Tagen wie diesem zahlreiche Leute - Touristen wie Einheimische - an seine Ufer lockte, und fasste einen tollkühnen Plan. Knapp zwei Monate hatte ich mich geziert, mir in Hanoi ein Motorrad auszuborgen, doch nun stach mich der Hafer, und zwar gewaltig. Es war ein guter Tag zum Sterben. Zielstrebig marschierte ich in die nahe gelegene Altstadt – den Old Quarters

– wo unzählige Verleiher die in Südostasien so beliebten halbautomatischen Motorscooter für etwa sechs Dollar pro Tag anboten. Die Formalitäten waren unbürokratisch und rasch erledigt, und nur fünfzehn Minuten später stand ich mit einer blauen Honda auf der Straße. Es war nicht das erste Mal, dass ich ein solches Motorrad fuhr, doch noch nie hatte ich mich damit in ein solches Verkehrschaos gewagt. Hanoi war nicht der geeignetste Ort für ungeübte Fahrer, und ganz besonders die engen und geschäftigen Gassen der Altstadt stellten eine gewisse Herausforderung dar. Mein Plan war, dieses Viertel auf dem schnellsten Weg zu verlassen, um in einer ruhigeren Gegend Selbstvertrauen zu tanken. Bis dahin war überleben die Devise.
Es ging besser als erwartet. Nach einer halben Stunde fuhr ich zwar noch ein wenig angespannt, doch einigermaßen gelassen durch die Straßen. überflüssig zu erwähnen, dass es ruhige Gegenden in dieser Stadt einfach nicht gab. Zudem war es bereits später Nachmittag, und die »Rush Hour« setzte ein, was sich auch auf meinen Heimweg auswirkte. Konkret bedeutete es, dass sich tausende Motorräder Stoßstange an Stoßstange durch die Straßen wälzten, und sich auf den Kreuzungen großer Straßenzüge Verkehrsströme aus mehreren Richtungen ineinander verzahnten. Aufgrund des geringen Tempos passierte daher bei Feindberührung so gut wie nichts, man kam aber auch nicht wirklich zügig voran. Geschwindigkeits-Junkies kommen in Hanoi eindeutig nicht auf ihre Rechnung.
Nach einiger Zeit begann das Ganze richtig Spaß zu machen. »Apokalypse now«, und ich mitten drin. Stolz bog ich gegen Ende der Fahrt in die ruhigeren Gassen meines Wohnviertels ein und stellte vor dem Haus mit stolzgeschwellter Brust den Motor ab. Ich hatte es geschafft. Ich durfte das Motorrad sogar zusammen mit den vier anderen in der Küche abstellen, was in Folge auch zu einem gewissen Verkehrschaos innerhalb des Hauses führte.

Am nächsten Tag unternahm ich einen Ausflug in die nähere Umgebung der Stadt. Mein persönliches Selbstvertrauen hatte am Vorabend einen beträchtlichen Dämpfer erhalten, denn auf meiner Oberlippe hatten sich zahlreiche Fieberblasen unterschiedlicher Form und Größe ausgebreitet, und als ich am Morgen aufwachte und in den Spiegel schaute, waren auch auf der Unterlippe einige Exemplare dazugekommen. Meine geschwollenen Lippen schmerzten, und auch Ha's Bemerkung, wonach die vollen Lippen sexy wirkten, konnte mich nicht wirklich aufheitern. Ich war noch nie als Sexsymbol gehandelt worden, und auch die Fieberblasen änderten an diesem Umstand nichts.
Mein erstes Ziel war das »Ho Chi Minh Pfad-Museum«, welches diesem wichtigen Schauplatz des Vietnamkriegs mehrere Ausstellungsräume widmet. Es war einer jener Orte, die man als Tourist im Rahmen eines zwei- oder dreitägigen Aufenthalts üblicherweise nicht besuchte, da es außerhalb der eigentlichen Stadtgrenzen lag und zudem auch nicht besonders einfach zu finden war, wie ich feststellen sollte. Dass ich trotzdem dorthin fuhr, hatte mehrere Gründe. Erstens hatte ich während meines Aufenthalts viel über die jüngere Geschichte Vietnams und den Ho Chi Minh Pfad gelesen, zweitens hatte dieser Schauplatz durch den Kriegsdienst meines Gastgebers für mich persönlichen Bezug erhalten, und drittens lag es auf halbem Weg zu zwei Pagoden, die ich in weiterer Folge besuchen wollte.
Die Fahrt durch die Vororte Hanois verlief weitgehend ereignislos. Das Museum musste sich nun in unmittelbarer Nähe befinden, aber wo? Da ich kein Hinweisschild sah, fragte ich ein paar Einheimische nach dem Weg. Diese schickten mich mal in diese, mal in jene Richtung, und so oszillierte ich entlang der Ausfallstraße wie ein hyperaktives Jo-Jo. Irgendwann entschloss ich mich aus purer Verzweiflung, in eine asphaltierte Allee einzubiegen, an deren Ende ich auf einen Armeeposten stieß. Der stramme Wachposten verwehrte mir den Eintritt, war aber so freundlich, mir den weiteren Weg zum Museum zu weisen. Ich war auf der richtigen Fährte. Dreihundert Meter weiter gelangte ich schließlich zum Objekt meiner Begierde und fuhr durch ein offenstehendes Gittertor auf das Museumsgelände. Ich war offensichtlich der einzige Besucher, denn auf dem Innenhof herrschte gähnende Leere. Also stellte ich mein Bike kurzerhand vor dem Museumseingang ab.
Ich betrat die Eingangshalle und stand Angesicht zu Angesicht einer lebensgroßen Bronzestatue von Ho Chi Minh gegenüber. An dem Mann gab es in diesem Land wahrlich kein Vorbeikommen. An einem Tisch in der Ecke des Raumes saß eine junge Frau und sah mich erwartungsvoll an. Kokett erwiderte ich ihren Blick und ging auf sie zu, doch sie wollte mir nur eine Eintrittskarte verkaufen.
»Guten Tag, wie viele Personen?«
Ich blickte mich um, sah aber außer mir keine Menschenseele. Der Gedanke, alleine irgendetwas zu unternehmen, war diesen Menschen so fremd, dass sie mich selbst dann nach meiner Begleitung fragten, wenn diese offensichtlich nicht vorhanden war. Immerhin musste ich niemals mehr als eine Karte kaufen, nur um den Schein zu wahren. Auch wenn es mich von einem Sonderling in ein normales Mitglied der Gesellschaft verwandelt hätte.
»Nur eine«, erwiderte ich leicht verlegen und legte das Geld auf den Tisch. Sie händigte mir die Karte aus und übergab mich einer jungen Frau, die sie mir als Führerin vorstellte. Sie trug eine leichte Uniform und begrüßte mich auf Englisch. Ihr musste am Vormittag schrecklich langweilig gewesen sein, denn sie begann mir bereitwillig in aller Ausführlichkeit über die Geschichte des HCM Pfades zu erzählen.
Spezialführungen sind einerseits großartig, andererseits kann man sich auch nicht so leicht absondern, wenn einem fad wird. Die Ausstellung war besser als erwartet, doch musste ich nicht jedes Ausstellungsstück betrachten, angefangen von der Feldflasche des Oberfeldwebels, bis zur Unterhose des Gefreiten. Außerdem wimmelte es nur so von Kriegshelden:
»Dies ist der Helm eines Amerikaners, den der Kriegsheld Nguyen Minh Anh, 3. Kompanie, 10. Battalion, 4. Division des glorreichen Hauptkommandos 559 seinem Gegner am 13.10.1967 in Truong Son entlang der 21. Straße abgenommen hatte.«


So oder ähnlich lauteten die Hinweise. Vielleicht hatte ihn der Ami auch nur gegen ein paar Zigaretten eingetauscht, oder aber beim Pokern verloren.
Punkt 11.30 Uhr war dann Schluss. Schließlich war es an der Zeit für die Mittagspause. Was die Mittagsruhe betrifft, sind die Vietnamesen äußerst konsequent, um nicht zu sagen stur. Zwischen 11.30 und 13.30 Uhr liegt eine (vergleichsweise) Totenstille über dem Land, denn die Menschen kehren nach Hause zurück, um im Schoße der Familie zu speisen und ein Nickerchen abzuhalten. In dieser Zeit irgendeine Erledigung zu planen oder etwa ein Museum besuchen zu wollen, ist töricht, und wird mit totaler Abwesenheit bestraft. Dementsprechend unruhig wurde zu jenem Zeitpunkt auch meine Führerin, und sie begann mich dezent zum Ausgang hin abzuschieben.
»Wir schließen jetzt. Was hast du als nächstes vor?«, fragte sie mich neugierig.
»Nun, ich werde die Thay Pagode und die Thay Phuong Pagode besuchen. Wenn ich sie finde«, fügte ich mit einem Augenzwinkern hinzu.
»Ich werde es dir beschreiben.« Mit diesen Worten streckte sie ihre Hand nach meinem Notizheft aus. Ich reichte es ihr, und sie begann eine Wegbeschreibung zu skizzieren. Etwas skeptisch ließ ich sie gewähren, denn es wäre das erste Mal gewesen, dass mich eine asiatische Wegbeschreibung ans Ziel gebracht hätte.
»Der Weg, den du nehmen möchtest, ist ein wenig umständlich. Dieser hier ist einfacher.« Sie reichte mir das Heft, und ich begann die Details zu erfragen, die sie als selbstverständlich voraussetzte. Diese Methode wird auch sehr gerne im modernen Sprachunterricht eingesetzt, zwingt sie den Lernenden doch dazu, die vorhandene Informationslücken durch gezieltes Fragen stellen zu schließen. Experten auf diesem Gebiet sind sogar der Ansicht, dass Kommunikation im Wesentlichen auf dem Vorhandensein von Informationsdefiziten besteht, was in bestechender Manier erklärt, warum jeder Reisende auf diesem Kontinent so ungemein kommunikativ wird. Wäre da nicht die Sprache.
»Warum fragst du mich nicht, ob ich dich begleiten möchte?« Mit dieser beiläufig geäußerten Bemerkung brachte sie mich merklich in Verlegenheit. Sie hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt.
»Na ja, hmm, eine Begleitung wäre natürlich toll, aber … musst du nicht arbeiten?«, stammelte ich etwas verwirrt.
Sie überhörte meine Frage und begann, ihre Wegbeschreibung zu überarbeiten. Kokett drückte sie mir ihren Strohhut auf mein Haupt.
»Warum fragst du mich nicht, ob wir zusammen zu Mittag essen?« Sie blickte mich dabei nicht an, sondern arbeitete weiter an der Skizze.
»Aber, du hast doch gesagt, dass du nach Hause fährst und dort isst. Mit deiner Familie. Mit deinem … Mann?«
»Sie ist fertig. Ich muss jetzt nach Hause. Hier ist meine Telefonnummer, ruf einfach an, wenn du den Weg nicht findest.« In ihrem Gesichtsausdruck versteckte sich ein unausgesprochenes, schelmisches »Den findest du doch sowieso nicht alleine«.
»Und? Möchtest du etwa mit mir mitkommen?«, fragte ich zögerlich.
»Ich muss doch am Nachmittag arbeiten.« Klar. Wie konnte ich das bloß vergessen?
»Aber wir könnten am Abend gemeinsam essen, wenn du Zeit hast«, fügte sie hinzu. Dann schob sie mich durch die Ausgangstüre und sperrte hinter mir zu.
Da stand ich nun in meiner Verwirrtheit, und versuchte das Geschehene rational aufzuarbeiten. Ich tue mich schwer mit Fragen, die offensichtlich rhetorischer Natur sind. Und doch hatte eine gewisse Absicht dahintergesteckt, oder? Asiatische Kommunikation war für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Schüchtern war die Gute jedenfalls nicht. War auch sie meinen »sexy« Lippen verfallen? Grüblerisch schwang ich mich auf mein Motorrad und verließ das Museumsgelände. Was sollte ich bloß tun? Ich wurde aus dem ganzen einfach nicht schlau.

Ich folgte ihrer Wegbeschreibung und fand nach etwa einer Stunde die erste Pagode. Gut, ich musste unterwegs noch ein paar Leute befragen, die sich wie üblich ihrer Sache ein wenig zu sicher waren, doch im großen und ganzen verlief die Fahrt relativ problemlos. Sah man einmal von den übrigen Hindernissen ab, wie Lastwagen auf schmalen Straßen, die ein Vorbeikommen unmöglich machten (eher ging das sprichwörtliche Kamel durchs Nadelöhr), und den Hintermann in eine Wolke aus Staub und Abgasen einhüllten, oder Verkehrsteilnehmer, die ihren Führerschein offensichtlich in der Lotterie gewonnen hatten (viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie erst gar keinen besaßen).
Bei der Pagode bereitete man mir einen herzlichen Empfang. Die einen wollten mir einen Parkplatz verkaufen, die anderen Getränke oder Souvenirs. Ein Mann bot sich mir als Führer an und verfolgte mich so hartnäckig auf Schritt und Tritt, dass ich beschloss, ihn zu behalten. Wir stiegen eine steinerne Treppe empor und gelangten nach wenigen, aber schweißtreibenden Minuten zu der idyllisch auf einem kleinen Hügel gelegenen Anlage. Mein »Führer« erklärte mir all jene Dinge, die mir eigentlich vollkommen egal waren (wenn sie denn überhaupt stimmten, denn diese selbsternannten Führer sind zumeist in keinster Weise ausgebildet und sprechen nur ein rudimentäres Englisch), und ließ mir nicht eine Minute, um mich in Ruhe mit der Umgebung auseinanderzusetzen. Ständig zupfte er an meinem ärmel und hetzte mich von einer Ecke zur nächsten. Deswegen zahlte ich ihn nach fünf Minuten aus und versicherte ihm, dass ich genug gesehen hatte. Ohne meinen »Schatten« verwandelte sich die Pagode in eine friedvolle Oase, in der sich die einzelnen Gebäude harmonisch in die Umgebung fügten. Über einen steinigen Weg gelangte ich zu einem Felsvorsprung, von dem aus ich einen großartigen Ausblick über die umliegende Landschaft genoss. Unter mir breitete sich ein Mosaik aus unregelmäßig geformten Reisfeldern aus, das von einzelnen, schroff aufragenden Felsen unterbrochen wurde, an die sich kleine Ortschaften schmiegten. In der Ferne waren die Hochhäuser Hanois zu erkennen, auch wenn sie eine Wolke aus Dunst und Smog einhüllte.
Nach einem bescheidenen Mittagessen machte ich mich auf die Suche nach der zweiten Pagode. Ihre Lage war sogar noch ein wenig abgelegener. Hurtig sprang ich die Treppen hinauf, bezahlte meinen Obulus und machte eine verblüffende Feststellung. Diese Pagode unterschied sich im Inneren nicht wesentlich von der ersten. Irgendwie waren sich diese Gebäude allesamt sehr ähnlich. Same same, but different.
Ich ließ mich auf dem warmen Stein nieder, zückte mein Mobiltelefon und schrieb triumphierend: »Bin bei der Thay Phuong Pagode. Habe meinen Weg gefunden, wie du siehst. Albert.«
Prompt bekam ich ihre Antwort: »Toll. Ich hatte schon an dich gedacht und gerätselt, wohin es dich verschlagen hat, und ob ich einen Suchtrupp losschicken soll«, feixte sie. Sehr witzig.
»Wie steht es eigentlich mit dem Abendessen? Hast du das ernst gemeint?« Und fort war die Textnachricht.
»Ja. Das habe ich.«
Ein paar SMS später hatten wir einen Zeitpunkt vereinbart, doch den Ort offen gelassen. Japanisch sollte es sein, soviel stand fest. Sie stellte mir drei Lokale zur Auswahl, die sie kannte, und fügte die jeweilige Adresse hinzu. Auf dem Plan fand ich die Straßen natürlich nicht (außer einer), denn Hanoi ist nicht klein, und selbstverständlich sagen Vietnamesen niemals den Bezirk dazu, denn so etwas weiß man einfach. Außerdem bekommt man in Vietnam prinzipiell nur die halbe Information, denn dies fördert die Kommunikation, wie wir nun alle wissen. Speziell bei Ausländern fördert es darüber hinaus auch noch die Konfusion.
Ich versprach, mich in absehbarer Zeit für eines der drei Lokale zu entscheiden, und machte mich auf den Heimweg, um mein verschwitztes und staubiges äußeres in einen präsentablen Zustand zu verwandeln. Die Sache schien irgendwie verrückt, und ich nahm das alles nicht wirklich ernst. Es war ein Spaß, eine abgefahrene Situation und eine witzige Episode. Trotzdem, um

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Albert Karsai
Bildmaterialien: Albert Karsai
Lektorat: Albert Karsai
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2012
ISBN: 978-3-86479-802-3

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