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Vorwort



Über das Leben Siddhartha Gautamas, des Buddhas, ist weniger bekannt, als es den Anschein hat, doch gelten die Historizität der Person und die wesentlichen Stationen seines Lebens als gesichert. So wird allgemein hin akzeptiert, dass er als Sohn einer nordindischen Königsfamilie zur Welt kam und wohlbehütet aufwuchs, bevor er im Alter von fast dreißig Jahren den Palast verließ, um einen Ausweg aus dem Leiden zu suchen, welches alle Menschen unabhängig von Alter, Status, Wohlstand und Aussehen plagt. Nach mehreren Jahren des Suchens und des Studiums bei verschiedenen Lehrern verwirft er die existierenden Lehren und findet schließlich Erleuchtung, als er beschließt, in einem Wald so lange meditierend unter einem Baum zu verharren, bis er die vollkommene Erkenntnis über die Ursachen und die Aufhebung des Leidens erlangt hat. Die nächsten Jahrzehnte zieht er durch die Lande und versammelt eine stetig wachsende Zahl von Anhängern um sich. Das Leben der Mönche ist geprägt von Enthaltsamkeit und den strengen Ordensregeln, die auch für die Frauen gelten, die erstmals die Gelegenheit bekommen, ihren eigenen Orden zu gründen. Im hohen Alter von achtzig Jahren stirbt Siddhartha und geht ins Nirvana ein, womit der Zyklus der Wiedergeburten erlischt. Seine Lehre verbreitet sich indes durch mündliche Überlieferung weiter, bis sie ein paar hundert Jahre später das erste Mal schriftlich festgehalten wird. Sie hat bis heute nichts an ihrer Bedeutung eingebüßt.

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Roman, nicht um eine historische Abhandlung. Auch gibt es viele, die berufener sind als ich, die Grundlagen der buddhistischen Lehre zu erklären. Dennoch beschäftige ich mich nun schon seit mehr als zehn Jahren mit dem Buddhismus, und habe darin eine Quelle der Inspiration für mein eigenes Leben gefunden. Über das Leben Siddhartha Gautamas existieren viele Versionen, die, was die Details betrifft, voneinander abweichen, sich im Kern aber gleichen. Die Handlung (inklusive der im Buch vorkommenden Personen) orientiert sich zwar weitgehend an diesem Kern, fühlt sich der historischen Realität allerdings nicht verpflichtet. Eine Ausnahme stellt die buddhistische Lehre selbst dar, die ich nach bestem Wissen und Gewissen so wiedergegeben habe, wie ich sie verstehe und interpretiere. Ich habe mich dabei an mehrere Quellen gehalten (siehe Anhang) und deren Inhalt auszugsweise in meinen eigenen Worten wiedergegeben. Ich habe nicht wortwörtlich abgeschrieben oder einfach ins Deutsche übersetzt. Der Rest ist frei erfunden, dies betrifft sowohl einzelne Handlungsstränge und Begebenheiten, als auch die Gespräche und Dialoge.

Es war nicht immer leicht, den Spagat zwischen humorvoller Erzählung und seriöser Auseinandersetzung mit der buddhistischen Lehre zu bewältigen, zumal mir diese zu wertvoll ist, um sie einfach zu verunglimpfen. Falls ich dennoch die religiösen Gefühle Einzelner verletzt habe (was ein Zeichen ist, dass sich das Ego zu stark damit identifiziert), dann bitte ich aufrichtig um Vergebung. Ich nehme die buddhistische Lehre ernst, doch ist es für mich keine Religion. Sobald Spiritualität auf die Stufe einer Religion erhoben wird, führt sie leider häufig in die Irre und bewirkt das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. Genau aus diesem Grund schätze ich den Buddhismus, denn er benötigt keinen Gott, er erhebt keinen Anspruch auf Absolutismus, er missioniert nicht, sondern akzeptiert gleichermaßen die vielfältigen Formen, in denen sich menschliche Spiritualität und die Suche nach dem Sinn des Lebens manifestieren. Sollte sich der eine oder andere Leser nach der Lektüre dieses Buches geneigt zeigen, sich näher mit der buddhistischen Lehre zu beschäftigen, so würde es mich freuen. Allen anderen habe ich hoffentlich zu ein paar heiteren und unterhaltsamen Lesestunden verholfen.

Mögen alle fühlenden Wesen glücklich sein!


Albert Karsai, Frühjahr 2012

Prolog



Als der kleine Siddhartha seine ersten Schritte unternahm, geschah etwas Unglaubliches. Aus jedem seiner Fußabdrücke erblühte eine Lotus-Blume, makellos und schön. Dies beeindruckte alle Anwesenden.
»Seht doch, so etwas habe ich noch nie gesehen! Meint ihr, das hat etwas zu bedeuten?«
»Ganz bestimmt! Aus ihm wird sicher einmal ein großer Mann, ein bedeutender Heiliger. Seine Mutter träumte sogar von einem weißen Elefanten, bevor sie ihn gebar.«
»Also für mich klingt das eher nach Freak.«

Erwachen



Indien, in der Nähe von Kapilavatthu, 29 Jahre später.



»Warum lümmelst du die ganze Zeit auf dem Diwan herum? Und warum machst du so einen missmutigen Eindruck?« Prajapati verstand ihren Ziehsohn nicht. Da hatte er alles, wovon ein Mann träumen konnte - Reichtum, eine schöne Frau, prächtige Paläste, exquisites Essen und ein sorgenfreies Leben - und doch schien er irgendwie unzufrieden.
»Jeder Mann in diesem Königreich beneidet dich um dein Leben, und du machst so ein Gesicht. Was ist bloß los mit dir, mein Sohn?«
»Ach Mutter, ich weiß nicht. Du hast Recht, mein Leben ist herrlich und sorgenfrei, und doch bin ich ein Gefangener dieser Palastmauern. Ich möchte hinausgehen und die Welt da draußen kennenlernen. Ich möchte wissen, wie unsere Untertanen leben und was auf den Straßen unseres Königreichs vor sich geht. Mich quält die Neugier.«
»Du weißt, dass das dein Vater nicht gerne hört. Außerdem hast du den Palast doch schon mehrmals verlassen. Hast du da nicht schon alles gesehen?«
»Es war nicht das richtige Leben. Du weißt doch, dass Vater immer alles im Vorhinein arrangiert. Wenn der König kommt, dann bleibt nichts dem Zufall überlassen. Ich bin 29 Jahre alt. Ich möchte alleine gehen.«
Prajapati Gotami seufzte. Seit seiner Geburt hatte König Suddhodana alles unternommen, um seinen Sohn vor den Schattenseiten des Lebens zu beschützen. Er sollte nichts von all dem Leid dieser Welt mitbekommen, denn er fürchtete die Prophezeiung der fünf Weisen. Siddhartha würde ein bedeutender Anführer werden, darin waren sie sich einig. Doch worin seine Vorherrschaft bestand, darüber gingen ihre Meinungen auseinander. So lautete ihr Urteil:
»Er wird ein großer König. Doch sollte er all dem Leid dieser Welt gewahr werden, nämlich Krankheit, Alter und Tod, dann wird er den spirituellen Pfad gehen und alles Weltliche hinter sich lassen.«
Diese Worte erfüllten den König mit Sorge, war Siddhartha doch sein einziger Sohn und Thronfolger. Daher wollte er um jeden Preis verhindern, dass sein Sohn mit Krankheit, Alter und Tod in Berührung kam. Siddhartha wuchs in der perfekten Umgebung auf. Kranke oder alte Menschen durften nicht in seine Nähe. Als er mit sechzehn Jahren seine Kusine Yasodhara heiratete, ließ König Suddhodana dem jungen Brautpaar einen prachtvollen Palast bauen, der von einem ebenso prachtvollen Garten umgeben war. Ihre Diener lasen ihnen jeden Wunsch von den Lippen, und Sänger und Tänzer sorgten für Unterhaltung. Ein paar Jahre später gebar Yasodhara ihrem Gemahl einen Sohn, den sie Rahula nannten. Ihr Glück war perfekt. Fast.
»Wenn dir das Leben da draußen so viel bedeutet, dann gehe zu deinem Vater. Aber erwarte dir lieber nicht zu viel«, sagte Prajapti und verließ den Raum.

Unruhig wälzte sich Siddhartha auf dem Bett. Trotz der Bemühungen seines Vaters war ihm nicht entgangen, dass das Leben nicht nur aus Glück bestand, zumindest nicht für alle Wesen. Die Ochsen auf den Feldern schienen ein miserables Leben zu führen, wenn ihnen die Menschen den schweren Pflug umhängten, den sie stundenlang über die Felder ziehen mussten. Und einmal konnte er beobachten, wie eine Eidechse ihren Hunger mit Ameisen stillte. Plötzlich schnellte eine Schlange hervor, packte die Eidechse mit ihren Zähnen und verschlang sie gierig an Ort und Stelle. Als sie gemächlich und vollgefressen in der warmen Sonne lag, stieß ein Raubvogel vom Himmel herab und bohrte seine mit Krallen bewehrten Fänge in ihr Fleisch. So erkannte er, dass das Glück oft nur von kurzer Dauer war, und Leid ein Teil des Lebens. Doch warum erfuhr er nichts davon in seiner eigenen Umgebung?
Am nächsten Morgen rief er nach seinem Diener Channa.
»Channa, ich brauche deine Hilfe. Mein Vater erlaubt mir nicht, die Welt außerhalb des Palastes zu erfahren, also muss ich heimlich gehen, und du wirst mir dabei helfen.«
Der Diener erschrak fürchterlich, als er dies hörte.
»Mein Herr, Ihr wollt den König hintergehen? Was, wenn er davon erfährt?«
»Dann darf er es nicht erfahren. Außerdem, ich bin der Prinz, was soll mir schon passieren? Pass auf, ich habe einen Plan ...«
Am nächsten Morgen brachte Channa seinem Herrn alte Kleidung. Als sich Siddhartha umgezogen hatte, war er kaum wieder zu erkennen. Er band sich einen langen Seidenschal zu einem Turban und schulterte einen Korb. Dann verließen beide den Palast durch einen Hinterausgang.
Die Täuschung gelang. Auf einem Ochsenkarren fuhren sie in die Stadt, in deren Straßen hektisches Treiben herrschte. Aufgeregt und neugierig beobachtete Siddhartha diese für ihn so fremde Welt. Hatte er anfänglich noch Bedenken, die Leute könnten ihn erkennen, so verschwanden diese binnen kurzer Zeit. Er war einer der Ihren.
Plötzlich machte er eine unerwartete Entdeckung. Aus einer schmutzigen Seitengasse kam langsam und auf einen Stock gestützt ein alter Mann des Wegs. Sein Rücken war krumm, und nur mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Sein langes, verfilztes, schlohweißes Haar hing ungepflegt über seine Schultern, seine Haut war faltig und rau, und die Wangen eingefallen. Als er Siddhartha erblickte, blieb er vor ihm stehen und sprach ihn an.
»Herr, gebt einem alten Mann ein paar Münzen, damit er sich etwas zum Essen kaufen kann. Ich habe seit gestern nichts mehr gegessen.«
Entsetzt musterte Siddhartha den Alten.
»Channa, wer ist das? Warum sieht dieser Mann so aus? Ist das überhaupt ein Mensch? Wurde er schon so geboren? Und wo sind seine Zähne?«
Channa stand vor einem gehörigen Dilemma. Sein Herr hatte niemals zuvor einen wirklich alten Menschen gesehen, hatte dies der König doch streng verboten. Wie erklärte er nun Siddhartha den Umstand, dass ein jeder Mensch mit der Zeit alterte und letztendlich starb?
»Nun ja, äh, hmm ...«, räusperte er sich und blickte ausgesprochen unglücklich drein.
»Was ist los mit dir?«, herrschte ihn Siddhartha ungeduldig an. »Hast du etwa deine Zunge verschluckt?«
Nichts in der Welt hätte Channa in dieser Situation lieber getan, als seine Zunge zu verschlucken. Er ohrfeigte sich innerlich dafür, dass er dem Drängen seines Prinzen nachgegeben hatte.
»Was Ihr vor Euch seht, ist … ein alter Mann. Er ist quasi nicht mehr sehr jung.«
»Was willst du damit sagen? Unser Königspalast ist ebenfalls schon alt, doch sieh, wie er erstrahlt.«
»Das ist wahr. Doch die Menschen … altern eben. Euch ist doch sicherlich schon aufgefallen, dass Eure Eltern und Lehrer irgendwie anders aussehen als Ihr. Auch Ihr habt Euch im Laufe eures Lebens beträchtlich verändert, findet Ihr nicht?«
Das musste Siddhartha allerdings zugeben. Doch die Schlussfolgerung aus all dem beunruhigte ihn.
»Soll das heißen, dass jeder Mensch einmal so aussieht wie dieser Alte? Vater, Mutter, … ich?«, flüsterte er mit weit aufgerissenen Augen.
»In die Windeln geboren, aus den Windeln verschieden. Das ist der Lauf der Dinge«, pflichtete ihm Channa bei.
»Sagt mal, wollt ihr mich verscheißern?« Ungläubig hatte der Alte dem Gespräch gelauscht, doch nun platzte ihm der Kragen. »Ich habe seit gestern keine feste Mahlzeit mehr zu mir genommen, mein Pelz juckt zum Aus-der-Haut-fahren, und ihr philosophiert über die menschliche Natur? Wenn es mich nach philosophischen Betrachtungen gelüstet, dann gehe ich zu einem Sadhu.«
Siddhartha, der stets ein einfühlsames Herz besaß, wies seinem Diener an, dem Alten ein paar Münzen zuzustecken. Doch in seinem Innern war er sehr beunruhigt. Gab es denn wirklich kein Entrinnen aus diesem Schicksal?
Ein paar Ecken weiter stolperte Siddhartha beinahe über die Beine eines am Boden liegenden Mannes. Sein Gesicht war bleich, und der Körper mit eitrigen Geschwüren bedeckt. Stöhnend presste er seine Hände auf den Bauch.
»Was ist mit diesem Mann los, Channa?«, fragte Siddhartha bestürzt. »Sieh nur, wie er leidet.« Er kniete sich neben den Mann auf den Boden und bettete dessen Kopf in seinen Schoß.
Wieder hüpfte Channa verlegen von einem Bein auf das andere. Es war einfach unmöglich, auf Indiens Straßen dem Elend auszuweichen, so mannigfaltig präsentierte es sich. Man musste nicht einmal besonders achtgeben, denn es fuhr einem förmlich ins Gesicht.
»Nun, dieser Mann ist, äh, krank. Er ist quasi nicht sehr gesund.«
»Was bedeutet krank

? Wie kann so etwas passieren? Und kann auch dieses Missgeschick jedermann heimsuchen, ebenso wie das Altern?«
»Nun, ja … eigentlich geht es ihm gar nicht so schlecht. Er atmet doch noch«, entfuhr es Channa, doch bereute er seine Worte zutiefst, als er Siddharthas strengen Blick bemerkte. Sein Herr war einfach zu klug, um ihn mit billigen Ausreden abspeisen zu können.
»Dieser Mann ist krank, sehr krank sogar. Er ist so krank, dass Ihr schleunigst zu mir kommen solltet, denn sonst könnte Euch dasselbe Schicksal heimsuchen. Das Gift, das seinen Körper peinigt, könnte in Euch fahren.« - »Gnade mir Shiva, wenn das passiert«, dachte er bei sich. Der König würde ihn dafür verantwortlich machen und grausam bestrafen.
»Kann jeder Mensch erkranken?«, wandte sich Siddhartha an seinen Diener.
»Ja, Herr.«
»Und kann man irgendetwas dagegen tun?«
»Nein, Herr. Manche Krankheiten kann man heilen, andere dagegen nicht.«
Kann es auch mir passieren?«
»Ich fürchte ja, Herr. Allerdings würzt Euer Koch die Speisen so scharf, dass es eine gute Prävention darstellt, würde ich meinen.«
»Können wir diesen Kranken in den Palast mitnehmen? Er braucht Hilfe.«
»Nein, Herr!«
»Aber wir können ihn doch nicht einfach so liegen lassen!«
»Doch, Herr!«
Diese Worte betrübten Siddhartha. Widerstandslos ließ er sich von Channa weiterziehen, tief in Gedanken versunken. Seine Welt schien von einem Moment auf den anderen Kopf zu stehen.
Keine zehn Minuten waren vergangen, als sie auf einen seltsamen Aufmarsch trafen. Sie sahen vier Männer, die auf einer Bahre einen leblosen Körper trugen. Hinter den Trägern folgten zwei Dutzend Menschen, die sehr traurig wirkten. Einige von ihnen weinten, besonders jene, die unmittelbar hinter der Bahre her marschierten.
»Was geschieht hier, Channa? Wohin bringen sie den Mann? Und warum schläft er in aller Öffentlichkeit? Ist auch er krank?«
Channa fühlte glühende Kohlen unter seinen Füßen. Bis zu diesem Tag hatte sein Herr noch nicht einmal gewusst, dass Alter und Krankheit existierten, und nun wurde er sogar mit dem Tod, dem Ende der körperlichen Existenz, konfrontiert. Wie sollte er ihm denn das

nur schonend beibringen? Schon der Anblick des Alten und des Kranken hatten ihn gehörig in Aufruhr versetzt.
»Ähem, ich denke, er schläft nur und seine Angehörigen bringen ihn ein bisschen an die frische Luft. Das gewöhnliche Volk hat gar wunderliche Sitten.« Selbst in seinen Ohren klang das wenig überzeugend, aber er war noch nie ein guter Lügner gewesen.
»Warum warten sie nicht, bis er aufgewacht ist? Dann kann er selber spazieren gehen?«
»Nun, das könnte länger dauern.« Channa wirkte jetzt richtig unglücklich, während er fieberhaft nach einem Ausweg suchte. »Er leidet an der Schlafkrankheit. Die Anopheles-Mücke, versteht Ihr? Womöglich schläft er noch zwei Wochen.«
Von solch einer Schlafkrankheit hatte Siddhartha niemals zuvor gehört. Sein Interesse war geweckt.
»Komm, Channa. Folgen wir ihnen. Ich möchte wissen, was sie gegen diese Krankheit unternehmen. Vielleicht bringen sie ihn ja zu einem Arzt.«
Channa stieß einen Fluch aus. Er saß tief in der Bredouille.
Während sie dem Trauerzug folgten, bemühte sich Channa seinen Herrn auf andere Gedanken zu bringen. Pausenlos zeigte er ihm dies und jenes, oder machte ihn auf eine »wirklich interessante« Begebenheit aufmerksam, die sich in unmittelbarer Nähe abspielte. Doch vergeblich. Nicht einmal der lebendige Marktplatz vermochte Siddhartha abzulenken.
Nach einer Weile gelangten sie auf ein offenes Gelände am Rande der Stadt. Dort hatte man bereits einen großen Scheiterhaufen errichtet, auf dem die vier Träger die Bahre ablegten. Dann trat ein Mann aus dem Trauerzug an den Scheiterhaufen, kniete davor nieder und sprach ein paar Worte. Er entzündete eine Fackel und steckte das Holz in Brand. Gleichzeitig setzte lautes Wehklagen ein.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Siddhartha alles mit Gleichmut beobachtet, doch jetzt fuhr im der Schrecken in die Glieder.
»Channa, was machen sie da? Sie verbrennen den schlafenden Mann.«
Channa schluckte. Jetzt half nur mehr die nackte Wahrheit. Natürlich konnte er seinem Herrn erklären, dass dem Mann bloß kalt sei, doch bei dreißig Grad Außentemperatur sah er seine Felle davon schwimmen.
»Sie verbrennen seinen Körper, weil der Mann tot ist. Er trägt kein Leben mehr in sich. Sein irdisches Leben ist zu Ende.«
Siddhartha wurde leichenblass.
»Er ist tot? Warum ist das passiert? War er krank? Und passiert das auch anderen Leuten?«
»Ja, Herr. Es passiert jedem Menschen, den Armen wie den Reichen, den Glücklichen wie den Unglücklichen. Es gibt kein Entrinnen, der Tod ist unausweichlich.«
Geschockt verfolgte Siddhartha, wie der Körper langsam Feuer fing und dann lichterloh brannte. Erst jetzt wurde ihm die Tragweite dieser Erkenntnis bewusst. Wenn jeder starb, dann auch sein Vater, seine Mutter, seine Frau, sein Sohn und alle, die er kannte und liebte. Und auch sein eigenes Leben würde eines Tages enden, vom Tod besiegt, so wie der Mann vor ihm. Von dieser Vorstellung überwältigt, wandte er sich von dem Schauspiel ab und ging raschen Schrittes davon.
Lange saß Siddhartha unter einem Baum, um über das Erlebte nachzudenken. So sehr er auch grübelte, er fand einfach keine Lösung für dieses Dilemma. Alter, Krankheit und Tod schienen ein fester Bestandteil des Lebens zu sein, und kein Mensch konnte ihnen jemals entrinnen. Wie konnte er den Menschen bloß aus dieser Misere helfen?
Wortlos kehrten sie zum Palast zurück. Siddhartha war zu sehr in seinen Gedanken versunken, und auch Channa schwieg, denn er fühlte sich verantwortlich für den Zustand seines Herrn. Außerdem fürchtete er die Rache des Königs, denn dieser würde beim Anblick seines Sohnes außer sich sein vor Wut. Sein eigener Tod schien gewiss, womöglich blieb ihm noch die Wahl zwischen Vierteilen, Sechsteilen oder Achtteilen.

In den folgenden Tagen saß Siddhartha nachdenklich im Palast oder ging schweigsam im Garten umher. Am gesellschaftlichen Leben zeigte er kein Interesse. Er war fest entschlossen, einen Ausweg aus diesem Problem zu finden. Es musste einen Weg geben, auch wenn er ihn noch nicht sah.
Auch König Suddhodana war traurig über die Anteilnahmslosigkeit seines Sohnes. Auf den ersten Ärger, dass Siddhartha seinen Anweisungen zuwider gehandelt hatte, folgte die Sorge, die Prophezeiung könnte sich erfüllen und Siddhartha den Hof verlassen, um sein Heil in spirituellen Dingen zu suchen. Natürlich hatte Siddhartha nicht verraten, dass sein Diener Channa ihm dabei geholfen hatte, denn er liebte alle Wesen und wollte niemandem Böses.
»Ich muss noch einmal hinaus in die Stadt. Hier im Palast werde ich keine Antwort auf meine Fragen finden«, dachte er für sich. Also überredete er Channa, ihm ein weiteres Mal zu helfen. Naturgemäß zeigte sich dieser wenig erfreut.
»Wozu soll das gut sein? Ihr habt bereits alles gesehen. Alter, Krankheit und Tod, reicht Euch das nicht? Darf es noch ein wenig Diebstahl, Mord und Totschlag sein?«
Siddhartha zögerte. An die Möglichkeit, dass Menschen einander willentlich Böses antaten, hatte er noch gar nicht gedacht.
»Mein treuer Channa. Ich führe hier im Palast ein sorgenfreies Leben. Ich brauche mich um nichts zu kümmern, und jeder Wunsch wird mir sogleich erfüllt. Die Menschen in der Stadt hingegen werden täglich aufs Neue mit den Schattenseiten des Lebens konfrontiert. Trotzdem sahen die meisten von ihnen nicht unglücklich aus. Viele lachten sogar und waren guter Dinge. Ich möchte wissen, wie sie das angesichts von Alter, Krankheit und Tod schaffen. Ich möchte von ihnen lernen.«
Channa kannte seinen Herrn gut genug, um zu wissen, dass er ihn nicht aufhalten konnte. Doch er brauchte seine Hilfe. Also willigte er ein.

Zwei Tage später war der geeignete Moment gekommen, um die Stadt ein weiteres Mal zu besuchen. Die beiden wanderten eine Weile umher, wobei Siddhartha das Leben um ihn herum aus einem neuen Blickwinkel betrachtete. Er beobachtete glückliche und unglückliche Menschen dabei, wie sie ihrem Alltag nachgingen, wobei weder Alter, Geschlecht oder gesellschaftlicher Status der Personen eine große Rolle spielten. Ja, nicht einmal die Annahme, wonach Alte, Kranke oder Arme unglücklich seien, Reiche, Schöne und Gesunde hingegen immer glücklich, schien zuzutreffen.
»Glück hängt nicht alleine von äußeren Umständen ab«, dachte Siddhartha. »Das ist eine wichtige Erkenntnis.«
Als er abermals innehielt, um das Treiben auf den Straßen zu beobachten, blieb sein Blick an einer seltsamen Figur hängen. Der Mann trug eine orangefarbene Robe und einfache Sandalen, sein Kopf war kahl geschoren. In seinen Händen hielt er eine irdene Schale. Dann und wann blieb er vor einem Laden oder einem Marktstand stehen und wartete geduldig, bis jemand herauskam und ihm ein paar Klumpen Reis oder andere Nahrungsmittel in die Schale legte. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrere Male, bis der Mann genug gesammelt hatte und verschwand. Seine Ausstrahlung und seine Erscheinung unterschieden sich jedoch grundlegend von jener anderer Bettler. Fasziniert schaute ihm Siddhartha hinterher.
»Hast du das gesehen, Channa? Dieser Mann muss um sein Essen betteln, doch bin ich selten zuvor einem Menschen begegnet, der glücklicher wirkte. Soviel Ruhe und Gelassenheit. Wer oder was ist dieser Mann?«
»Er ist ein Mönch. Er lebt zusammen mit anderen Mönchen in einem Tempel, wo er sich in das Studium des menschlichen Geistes vertieft. Da ihm persönlicher Besitz untersagt ist, geht er täglich zu den Menschen, um Nahrung zu erbetteln. Im Gegenzug kommen die Leute zu ihm, um Rat und Hilfe in alltäglichen Angelegenheiten zu erhalten.«
»Also gibt es noch andere wie ihn? Wenn es ihnen gelingt, trotz der Gewissheit von Alter, Krankheit und Tod, und ohne materielle Besitztümer, glücklich zu leben, dann müssen sie einen Weg gefunden haben, diese Hürden zu überwinden. Das ist eine gute Nachricht, Channa. Ich möchte so sein wie sie.«
»Aber Herr, Ihr seid der Prinz, der Thronfolger. Und Ihr habt Familie. Ihr tragt große Verantwortung ihnen und Eurem Volk gegenüber. Sie brauchen Euch.«
Diese Worte machten Siddhartha traurig. Besitz, Reichtum und seinem luxuriösen Leben konnte er leicht entsagen, doch was wurde aus seiner Frau und seinem Sohn? Konnte er ihnen solchen Kummer bereiten? Ja, sie brauchten ihn, doch war er ihnen von großem Nutzen, solange er noch nicht die Antworten auf seine Fragen gefunden hatte? Begleitet von einem Mix aus Erleichterung und Sorge kehrte er zum Palast zurück.

Am nächsten Abend fand im Palast ein rauschendes Fest statt, in dessen Rahmen nur die hübschesten Tänzerinnen, waghalsigsten Akrobaten und geschicktesten Magier des Reichs teilnahmen. Doch Siddhartha nahm davon keine Notiz. Er spürte, wie ihn die innere Stimme unaufhörlich drängte, sein gewohntes Leben hinter sich zu lassen, um den spirituellen Pfad eines Mönchs zu be-schreiten. Er wollte mehr über Alter, Krankheit und Tod lernen, um einen Ausweg daraus zu finden. Er hatte keine Wahl. Er musste es einfach tun.
Als das Fest vorüber war und alle schliefen, schlich Siddhartha leise zu seinem Diener Channa und wies ihn an, sein Pferd bereit zu machen.
»Channa, ich werde den Palast noch in dieser Nacht verlassen. Sattle Kanthaka und sieh zu, dass niemand geweckt wird. Warte auf mich in einer halben Stunde beim Palasttor.«
»Mein Herr, habt Ihr Euch das gut überlegt? Wo werdet Ihr hingehen? Soll ich mit Euch mitkommen? Und habt Ihr Eure Koffer schon gepackt?«
Trotz des traurigen Moments konnte sich Siddhartha ein Lächeln nicht verkneifen.
»Sei unbesorgt. Wo ich genau hingehe, weiß ich nicht, aber das Schicksal wird mir den Weg weisen. Und lass die Koffer ruhig, wo sie sind, denn ich brauche sie nicht. Ein einfaches Gewand wird mir genügen.«
»Nun ja, ich dachte bloß. Kann ich Euch wenigstens ein paar Lebensmittel herrichten? Nur das Nötigste halt. Ich gehe gleich zum Koch und befehle ihm, die Öfen anzuwerfen.«
»Auch dies ist nicht nötig. Eine Almosenschale ist alles, was ich brauche. Komm mit dem Pferd und bringe nur, was du für dich benötigst.« Dann ging er zurück in seine Gemächer.
Lange brauchte er nicht zum Packen. Er verstaute ein einfaches Gewand und eine Schale, wie er sie bei dem Mönch gesehen hatte, in einem Leinenbeutel. Dann ging er zum Schlafgemach seiner Frau. Wie gerne hätte er sich von seiner Familie verabschiedet, doch sie würden ihn nicht so einfach gehen lassen. Yasodhara schlief tief und fest. An sie geschmiegt lag Rahula. Eine Weile beobachtete Siddhartha sie zärtlich, dann drehte er sich um und schlich schweren Herzens aus dem Raum. Er würde wiederkommen, wenn er gefunden hatte, wonach er suchte.
Als er zum Palasttor kam, wartete Channa bereits auf ihn. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, einen stattlichen Proviantkorb mitzunehmen.
»Du musst mächtig Hunger haben, mein lieber Channa. Hast du auf dem Fest so wenig abbekommen?«
Verlegen blickte der Diener auf den Boden.
»Er ist für Euch, Herr. Ein leerer Bauch studiert nicht gern.«
»Ein voller wandert dafür nicht gern. Mit diesem Essen könnte ich halb Kapilavatthu versorgen«, tadelte er gutmütig seinen Diener. »Was wohlgemerkt gar keine so schlechte Idee ist«, dachte er sich. Die Armen brauchten es dringender als der Palast.
»Und die Reiseapotheke?«
»Die brauche ich auch nicht.«
»Dann nehmt wenigstens den Urlaubskrankenschein mit«, begann er, unterbrach jedoch seinen Satz, als er Siddharthas verächtlichen Blick bemerkte.
Sie verließen die Stadt und ritten eine Weile, bis sie zu einem großen Fluss kamen. Dort legte Siddhartha seine prachtvollen Kleider ab und tauschte sie gegen das einfache Gewand,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Albert Karsai
Bildmaterialien: Erwin Korzinovsky (Titelbild)
Lektorat: Albert Karsai
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2012
ISBN: 978-3-86479-739-2

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