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Der Kuss des Prinzen



Marie war Mitte zwanzig – und mit ihren jugendlichen Zügen konnte man sie getrost noch als Mädchen bezeichnen, ein Mädchen mit einem auffallend hübschen Gesicht. Ihre schwarzen, langen Haare umspielten ihre Schultern und wenn sie einen anlächelte, hatte man das Gefühl, der einzig wichtige Mensch auf dieser Welt zu sein. Heute wird es geschehen, dachte sie, als die Sonne an ihrem höchsten Punkt stand, heute wird er mich küssen, und bei dem Gedanken daran schloss sie ihre Augen und spitzte ihre Lippen und man hatte in diesem Moment wirklich den Eindruck, als küsste sie einen unsichtbaren Prinzen.

Im Alter von fünf Jahren war Marie ein auffallend dünnes Mädchen, vielleicht etwas zu klein für ein Kind dieses Alters und von sehr zerbrechlicher Gestalt, und als ihre Eltern sich wunderten, dass sie immer so häufig stolperte, gingen sie mit ihr zu ihrem Hausarzt.

Aber dieser konnte nichts Außergewöhnliches feststellen und verordnete ihr Vitamine und viel frische Luft, das hätte ja schließlich noch keinem Kind geschadet- hahahaha. Bald darauf aber, als sie sechs Jahre alt wurde und in die Schule kam, wurde dieses Stolpern immer stärker und die kleine Marie konnte praktisch nicht mehr gehen ohne hinzufallen. Jetzt ging man zu einem Spezialisten, einem bekannten Neurologen. Der untersuchte Marie lange und ausgiebig, ließ sie etliche Male durch das Zimmer gehen, begutachtete ihren Knochenwuchs, durchleuchtete sie von allen Seiten und bat dann die besorgten Eltern zu einem Gespräch in seine Klinik.

Es tut mir leid, begann der Arzt die Unterredung, es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Ihre Tochter sehr krank ist. Sie leidet an einer Muskelerkrankung. Eine Erkrankung, wie sie nur sehr selten vorkommt. Und als wüsste er, was die entsetzten Eltern jetzt fragen wollten, fuhr er fort mit den Worten: Und - diese Krankheit ist nicht heilbar und schreitet unaufhaltsam fort.
Wie lange wird sie leben können? war das erste, was ihre Mutter damals wissen wollte.

Nun, das lässt sich schwer voraussagen, der Arzt blickte bei diesen Worten fast ängstlich über seinen Brillenrand. Die Muskeln versagen nach und nach, erst die Beine, dann die Arme, das Schlucken wird schließlich unmöglich, danach die Atmung, …..

Wie lange?

Vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Jahre.

Heute war Maries 25. Geburtstag und sie hatte sich extra herausgeputzt für diesen wichtigen Tag. Sie hatte ihre Freundin gebeten, ihr die Lippen zu schminken, das Haar zurechtzustecken, hatte sich ihren blauen Lieblingspullover anziehen lassen und war jetzt auf dem Weg zu ihrem ersten Date. Ihre Muskeln waren mittlerweile so schwach geworden, dass sie nur noch mit der Restkraft ihrer Finger den Joystick ihres Elektro-Rollstuhls bewegen konnte.

Aber sprechen konnte sie noch gut. Oh, ja, sogar sehr gut, und mittags hatte sie noch zu ihrer Freundin gesagt: Heute muss es einfach klappen, heute wird es passieren! Tausend Mal war sie in Gedanken diesen einen Moment durchgegangen, wie sie sich trafen, er sie freudig begrüßte, sich dann langsam zu ihr herüber beugen und sie dann küssen würde. Ja, genau so würde es ablaufen, da war sie sich sicher.

Ihr Elektro-Roller bewegte sich fast lautlos über den Bürgersteig und sie war etwas zu früh am vereinbarten Treffpunkt im Stadtpark. Marie fuhr ihren Rolli in den Schatten einer hohen Buche, platzierte sich so, dass sie alles um sich herum gut überblicken konnte und wartete in dieser Position auf ihren Märchenprinzen.

Er kam auf die Minute genau. Es war Marc, den sie in der Reha kennengelernt hatte. Marc und Marie, wie gut das zusammenpasst, hatte sie damals gedacht. Marc litt an der gleichen Krankheit wie sie, auch er war nicht mehr in der Lage, sich alleine zu bewegen und war zur Fortbewegung auf seinen elektrischen Rollstuhl angewiesen.

Jetzt saßen sich beide gegenüber. Marc überreichte ihr zögerlich einen kleinen Blumenstrauß mit den Worten: Hier, hab ich dir mitgebracht! Alles Gute zum Geburtstag!

Dann sahen sie sich wortlos an und als beide das Gefühl hatten, dass hier irgendetwas passieren müsste, meinte Marie leise: Hast du keine Lust mich zu küssen?
Und als Marc sie erstaunt ansah, ergänzte sie ihre Frage mit dem Zusatz: So eine Chance bekommst du nur alle 25 Jahre.

Und dann passierte es genauso, wie sie es sich ausgemalt hatte, er fuhr mit seinem Rollstuhl ganz nah seitlich an Marie heran, was allerdings nicht beim ersten Mal klappte, so dass beide lachen mussten, beugte sich dann zu ihr herüber und küsste sie vorsichtig auf ihren roten Mund.

Ein Erdbeermund, hatte er dabei gedacht! Wirklich ein Erdbeermund.

Mein erster Kuss, dachte Marie überglücklich. Mein erster Kuss! Was habe ich doch für ein schönes Leben!


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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2011

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