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Free as a bird



Das, was ich hier jetzt aufschreibe ist wirklich so passiert und obwohl es mir schwerfällt, will ich versuchen, alles genauso wiederzugeben, wie es sich ereignet hat, ohne etwas wegzulassen oder hinzuzufügen, obwohl meine Tante Carla mir geraten hat, es besser nicht aufzuschreiben. Es würde ein böses Karma erzeugen, meint sie, etwas was sich verselbständigt und dann als negative Energie-Wolke durch die Welt zieht, um wiederum andere Menschen negativ zu beeinflussen. Aber ich werde es trotzdem aufschreiben.

Ich kam vor über 30 Jahren nach Berlin, da stand die Mauer noch fest und unbeweglich. Man konnte dagegentreten oder sie besprühen, es war verboten, aber trotzdem langweilig. Das erste Mal, dass ich überhaupt etwas von Berlin gehört hatte, war während der Tagesschau, die ich zusammen mit meinem Vater angesehen hatte und in der etwas über die sowjetisch besetzte Zone erzählt wurde. Das hatte mich fasziniert,- unglaublich,- die Russen sollten hier sein, so nah bei uns!

Als kleines Kind hatte ich meinem Vater zum Geburtstag ein Segelboot gemalt und als Erkennungsnummer die Buchstaben UdSSR auf das Hauptsegel gesetzt, ich wusste nicht, was sie zu bedeuten hatten. Aber ich merkte schnell, dass dies nichts Gutes sein konnte, da mein Vater, als er dieses Bild sah, es sofort zerriss und mich beschimpfte, ich solle so etwas nie mehr machen. Zwei Wochen darauf ist er gestorben, zack-tot, -einfach umgefallen, und ich bin mir sicher, dass meine Buchstaben daran Schuld waren. Später schaute ich mir Berlin im Atlas an und erkannte eine Insel und fragte mich, was das alles sollte, fand das aber ungemein spannend, obwohl ich wenig verstand, von dem, was ich sah.

Der erste Kontakt mit Berlin sollte realistisch ablaufen und war für mich wie der Eintritt in eine andere Welt. 1971 besuchte ich meinen Onkel Ernst, der in Berlin studierte. Die Fahrt führte uns über endlose Autobahnen und schon der Grenzübertritt in Helmstedt kam mir vor, als würden wir die Grenze nach Sibirien übertreten. Grenzsoldaten mit Fellmützen, langen Mänteln und einer Kalaschnikow über der Schulter erinnerten mich an den Film „So weit die Füße tragen“. Wir mussten Dutzende von Zetteln ausfüllen, an verschieden kleinen Baracken vorsprechen, unsere Pässe abgeben und bekamen sie plötzlich an ganz anderer Stelle wieder ausgehändigt. Es war so erschreckend und doch gleichzeitig so faszinierend: ja, das war eine andere Welt, hatte ich erkannt. Ich, der bisher sein Leben in einem kleinen Dorf verbracht hatte, sah hier zum ersten Mal, wie sich Weltmächte gegenüber standen. Es wirkte bedrohlich und doch so anziehend auf mich, dass für mich in diesem Moment zum ersten Mal der Gedanke aufkam: ja, ich will in diese Stadt, hier gehöre ich hin, meine Seele wollte durch diese endlosen Straßenschluchten ziehen, wollte sich ganz oben auf den i-Punkt setzen und von dort aus auf den Rest der Welt spucken,- frei wie ein Vogel. Aber bis dahin sollten noch weitere Jahre vergehen.

Mein erster Besuch in Berlin führte uns in den „Osten“, es war ein kalter, eisiger Tag. Wir nahmen den Grenzübergang Friedrichstraße, ich sah mich um, und vermutete in jedem zweiten Menschen hier unten in diesem U-Bahn-Schacht einen Doppelagenten. Der Weg durch die Ochsenbox eröffnete uns den Weg in den real existierenden Sozialismus, in dem alles grau in grau gehalten war. Wir landeten kurze Zeit später vor einem Ehrendenkmal mit zwei Soldaten, die völlig regungslos davor standen, wie zwei Schaufensterpuppen. Ich beobachtete sie, aber sie rührten sich so gut wie nicht, nicht mal mit den Augen zuckten sie. Da – plötzlich: wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, bewegten sie sich

in derselben Sekunde, schulterten das Gewehr auf die andere Seite, um in dieser Position wieder wie versteinert zu verharren. Ich stellte mich jetzt genau vor diese beiden Soldaten und beobachtete sie; ich beobachtete jede Regung an ihnen: woher bekamen sie diesen Befehl, der es ihnen ermöglichte, sich vollkommen synchron zu bewegen? Einen Knopf im Ohr hatten sie jedenfalls nicht. Endlich entdeckte ich es: im Betonboden eingelassen war ein kleiner Metallstab, der jeweils ihren linken Stiefel berührte. Und irgendwann bewegte sich dieser Metallstab und gab den Soldaten das unsichtbare Zeichen.

Aha, dachte ich mir, gar nicht mal so schlecht, dieser Trick. auch der real existierende Sozialismus braucht noch eine technische Unterstützung, so ganz mental können die sich auch noch nicht verständigen. Ich stand noch lange vor diesen beiden Figuren und noch während ich sie weiter beobachtete und mich etliche Male von meiner Entdeckung überzeugen konnte, reifte in meinem Kopf die Idee heran, für immer in Berlin leben zu wollen.

Ich hatte mein Abi gemacht, da war ich noch nicht 18, war also noch nicht wehrtechnisch erfasst, nicht gemustert und nutzte diese Fügung des Schicksals, um mich vor dem Bund zu drücken. Im Sommer 1973 siedelte ich also nach Berlin um, einen Koffer voller kleiner Habseligkeiten dabei, darunter ein paar Bücher von Tucholsky und Charles Bukowski, meine alte Gitarre, zwei Levis Jeans Größe 32/34 und etwas Wäsche zum Wechseln. Ich muss dazu sagen, dass ich eigentlich keine richtigen Eltern mehr hatte, mein Vater war wie gesagt gestorben, als ich noch ein Kind war. Meine Mutter Maria , die bald darauf alle nur „Bloody Mary“

nannten, was ja alles erklärt, hatte den frühen Tod meines Vaters nie richtig überwunden, und mich dann letztlich auf ein Internat gesteckt, finanziert über ein Stipendium und ich war aufgewachsen, wie jeder andere Junge in meinem Alter.

Jetzt stand ich hier alleine - aber glücklich - in Berlin, hatte mich eingeschrieben für Jura und eine kleine, vergammelte Wohnung gefunden: 2. Hinterhof, Ofenheizung, Klo auf dem Gang, Kreuzberg, Freiligrathstraße. Das klingt gut, Freiligrath, sagte ich mir, ein freiheitsliebender Dichter, der sich für die Gerechtigkeit eingesetzt hat, da bin ich ja genau richtig. Ich wollte Jura studieren, die Welt kennenlernen und verbessern. Ja, ich fühlte mich auserkoren, die Ungerechtigkeit dieser Welt, die schon hier auf dem Klo auf dem Gang zu spüren war, auszurotten.

Das Studium begann vielversprechend, ich besuchte die Vorlesungen, nahm an den Übungen teil, erledigte meine Scheine, mein Leben als Student fing an mir zu gefallen- aber: ich war schrecklich einsam. Plötzlich bemerkte ich, dass ich in einer Stadt lebte mit 2 Millionen Menschen - aber keinen davon richtig kannte.

Vor Frauen hatte ich große Angst. Sie erinnerten mich alle an meine Mutter mit ihren ewigen Bevormundungen und daran, wie sie mir immer mit einem Zipfel ihres Taschentuchs (den sie vorher mit der Zunge nass gemacht hatte) über meinen Mundwinkel strich mit den Worten: Warte mal Junge, du hast da was.



Wenn ich auch die eine oder andere Beziehung mit Frauen hatte, war ich doch immer wieder froh, wenn ich sie danach nicht wieder sehen musste. Ihre Nähe belastete mich und so lebte ich im ewigen Zwiespalt meiner Einsamkeit und dem immer wieder aufflammenden- aber kurzzeitigen - Verlangen nach Liebe.

Mit der Zeit fing ich an zu trinken. Erst war es nur die Flasche Bier, dann Rotwein, später mehrere Flaschen am Abend. Dieses wohlige warme Gefühl der Zuversicht und Ruhe durchströmte für kurze Zeit meine Venen und ich erlebte zum ersten Mal das Gefühl von Geborgenheit und Liebe. Ja, so musste sich Liebe anfühlen, dachte ich mir, dieses Gefühl mit sich und der Welt im Einklang zu sein.

Ich trank immer mehr, jetzt schon vormittags, zwei, drei Flaschen Bier, zur Uni ging ich schon lange nicht mehr, anfangs las ich noch die Sachen zu Hause durch, verzichtete aber auch bald ganz darauf, weil mir alles so lächerlich, so unnütz vorkam. Was sollte ich auch mit Jura anfangen, in einer Welt, in der mich keiner liebte? Diese Welt war einfach nicht mehr zu retten.

Ich schmiss das gesamte Studium, mein Bafög wurde bald darauf gestrichen und ich hatte keinen Pfenning Geld mehr. Nichts und niemand auf dieser Welt konnten mir jetzt noch helfen. Meine Wohnung wurde mir gekündigt und ich fand mich zum ersten mal in meinem Leben auf der Straße wieder. Ich trieb mich tagsüber einfach dort rum, wo all die Penner, Fixer und Alkis rumhingen, bekam mal etwas zugesteckt, fing an zu betteln, was mir anfangs noch sehr schwer fiel, aber von Tag zu Tag lockerer von der Hand ging. Haste ma‘ ne Mark? - waren oft die einzige Worte , die ich am Tag sprach. Das erbettelte Geld wurde sofort in Alkohol umgesetzt, ich aß so gut wie nichts mehr, wenn überhaupt - dann nur eine Suppe mit einem Würstchen drin, die man am Bahnhof umsonst bekam. Ich war abgemagert bis auf die Knochen, meine schwarzen, langen Haare -fettig und strähnig- hingen mir bis über die Schultern, - ich sah aus wie Yoko Ono für Arme, die Klamotten verschlissen und dreckig.

So vegetierte ich etliche Monate vor mich hin, hatte aber dabei nie was mit Drogen im Sinn. Das war mir immer zu gefährlich. Erstaunlich, wo ich doch schon körperlich ein Wrack war, hatte ich doch immer noch Angst, wirklich

zu sterben. Als der erste Winter kam 1974, verkroch ich mich nachts in irgendwelche Abbruchhäuser, schlief mal bei diesem oder jenem Saufkumpanen, merkte aber bald, dass ich so nicht weiterleben wollte. Aber wer konnte mir in dieser Situation helfen? Ich war total am Boden, völlig mittellos und heruntergekommen.

Als ich eines Morgens aufwachte und das ganze Elend in Form von leeren Flaschen auf dem Boden vor mir sah, wusste ich plötzlich, was zu tun war: Ich ging zu einem Arzt.

Einen Krankenschein hatte ich nicht, aber ich sagte der Sprechstundehilfe, ich würde ihn nachreichen. Der Arzt war nett und freundlich und sah aus wie Albert Schweitzer. Er untersuchte mich gründlich, schüttelte dabei immer den Kopf, wobei er die Worte „unglaublich“ und “mein Gott, stinkt das hier“ vor sich hinmurmelte.

Sie sind krank, sagte Albert Schweitzer schließlich. Sehr krank. Wenn sie so weitermachen, gebe ich Ihnen keine drei Monate mehr, und dabei habe ich noch nicht mal ihre Leberwerte. Und die- und dabei sah er mich so von unten durch die Brille an, - kennen wir ja wohl beide. Sie haben eben zu wüst gelebt, jetzt ham‘ sie den Salat.

Ja, sagte ich, danke, ich weiß, meine Leber ist die erste, die sich bald von dieser Welt verabschieden wird, aber was mache ich heute? Vielleicht haben sie noch einen Platz in Lambaréné frei? Ich wollte witzig sein, merkte aber schnell, dass dies nicht ganz angebracht war.

Bis Lambaréné schaffen Sie es eh nicht mehr. Sie müssen als Erstes einen Entzug machen. Er hatte wirklich Humor, aber ich merkte, dass dies nicht der richtige Moment zum Scherzen war.

Das alles ist jetzt viele Jahre her, ich bin schon lange los vom Stoff, habe mein Studium wieder aufgenommen und abgeschlossen mit beiden Staatsexamen, habe aber niemals mehr wirklich den Drang verspürt, als Anwalt oder Richter zu arbeiten. Das Alles kam mir plötzlich so sinnlos vor. Ich hatte gerade mein 2.Staatsexamen überreicht bekommen und dabei aus dem Fenster gesehen und in diesem Moment überkam mich plötzlich eine so unglaubliche Leere und Traurigkeit und ich verspürte eine ungeheure Lust, eine Flasche Wein aufzumachen und noch hier in der Uni zu trinken.

Aber ich wusste ja, wohin das führen würde, also suchte ich nach einer Alternative und mein Blick fiel aus dem Fenster und ich sah einen Doppeldeckerbus vorbei fahren, ich konnte sogar den Fahrer erkennen, es wirkte alles so friedlich, und da dachte ich mir: o.k. das mach ich, ich werde Busfahrer, vielleicht hab ich da meine Ruhe.

Ich überlegte für einen Augenblick, ob mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich nicht rausbekommen hätte, dass die Soldaten über einen Vibrationsmechanismus am Stiefel verständigt wurden. Wäre ich dann nicht nach Berlin gegangen? Wäre ich dann nicht in der Gosse gelandet? Hätte ich nicht immer und immer wieder die gleichbleibende, monotone Stimme des U-Bahn-Bediensteten gehört, kurz bevor der Zug wieder abfuhr: Zuuuuuuuu-rückbleiben! - wäre vielleicht alles anders gekommen?



Vor 20 Jahren habe ich eine Frau kennengelernt, Samantha, aus dieser Beziehung stammt unser Sohn, er hat gerade sein Abi gemacht. Samantha hat mich schon vor Jahren verlassen, weil sie meint, ich wäre überhaupt nicht fähig zu lieben. Da mag sie Recht haben- obwohl, wenn ich überhaupt jemals eine Frau richtig geliebt habe, dann war es Samantha. Aber das ist schon lange vorbei.

Neulich hab ich mit meinem Sohn im Fernseher eine Reportage über Kuba gesehen. Und als er dabei die Musik von Buena Vista Social Club hörte und die schönen Mädchen sah mit ihren Rehaugen und der Schokoladenhaut, wie sie sich gazellenhaft bewegten: er war begeistert. Zum Schluss schwenkte die Kamera auf die Uferpromenade der kubanischen Hauptstadt, die Gischt der karibischen See wehte bis auf die Straße und im Seewind tanzte eine Möwe in der Luft.

Papa, ich geh nach Havana

, hatte er anschließend gesagt. Nichts kann mich davon abhalten. Ich werde dort Medizin studieren. Doch, so möchte ich sein – Free as a bird.



Mach das nicht, sagte ich ihm, bleib hier in Berlin. Berlin ist eine gute Stadt.

Und plötzlich überkam mich eine unglaubliche Traurigkeit. Denn ich wusste in diesem Moment genau, dass man das Schicksal nicht aufhalten kann.

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Impressum

Texte: copyright by columbus 2009
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2009

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