Cover

Das, was Herr Merckling heute Morgen machte, tat er schon seit vielen Jahren. Der Ablauf, bevor er das Haus verließ, war immer derselbe, und er musste sich wie immer beeilen, um nicht den Bus zu verpassen.
Herr Merckling gehörte zu den Menschen, bei denen man Schwierigkeiten hat, sich an sie zu erinnern, wenn man sie nur ein- oder zweimal gesehen hatte. Er war gerade 37 Jahre alt, unverheiratet, war in seinem Beruf einigermaßen erfolgreich, aber ansonsten recht unzufrieden mit seinem Leben. Ein Zustand, der sich mit den Jahren mehr und mehr in seinem Gesicht abgezeichnet hatte und ihn älter erschienen ließ, als er in Wirklichkeit war.

Der heutige Tag sollte jedoch für ihn etwas Besonderes bringen und sein weiteres Leben entscheidend beeinflussen.
Das erste, was Herrn Merckling seltsam vorkam, war, dass keiner der sonst üblichen Mitreisenden an der Bushaltestelle wartete, obwohl er wie immer um sieben Uhr dreizehn dort ankam. Im Gegenteil, alles machte den Eindruck, als wäre der Bus bereits abgefahren, denn hastig weggeworfene Zigarrettenkippen, die teilweise noch qualmend am Boden lagen, zeigten ihm an, dass kurz vorher an diesem Platz noch Menschen gestanden haben mussten.
Herr Merckling registrierte das alles mit einem gemischten Gefühl aus Angst vor der unvermeidbaren Verspätung und einem süßlichen Vorgeschmack auf ein paar freie Minuten, abseits der täglichen Arbeitsroutine. Er beschloss, den Weg zum Büro teils zu Fuß, teils mit einem anderen Bus, den er drei Querstraßen weiter nehmen wollte, zurückzulegen.

Das würde seiner Einschätzung nach eine Verspätung von etwa dreißig Minuten ausmachen. Ein Zeitraum, den er sich aufgrund seiner gesicherten Stellung, die er seit acht Jahren ausübte, ruhig herauszunehmen wagte.
Merckling empfand den Fußweg aufregend erfrischend, erwischte den Bus wie geplant und traf mit der eingeschätzten Verspätung von einer halben Stunde in seinem Bürohaus ein.

Ungewöhnlich war für Merckling, dass sich seine Stempelkarte nicht an ihrem üblichen Platz befand. Zu seinem Erstaunen musste er sogar feststellen, dass sie bereits schon abgestempelt war – wie immer um sieben Uhr sechsundvierzig. Er hatte bereits einen seiner Kollegen in Verdacht, ihm diesen – nicht ungefährlichen und eigentlich unnötigen – Gefallen getan zu haben, als er plötzlich stehenblieb und etwas Merkwürdiges sah:
Er konnte durch die Glastür zu seinem Büro die Silhouette eines Mannes erkennen, der offensichtlich seinen Platz eingenommen hatte.

Manchmal kam es vor, dass Kollegen sich vorübergehend auf seinen Stuhl setzten. Aber das hier war etwas anderes. Herr Merckling betrat sein Büro und sah sich selbst an seinem Schreibtisch sitzen. Er erkannte sogar, dass dieser „Jemand“ sich mit den Unterlagen beschäftigte, die er sich für heute vorgenommen hatte. Dieser Mensch hatte die gleichen Sachen an wie er und sah Merckling so ähnlich wie ein Ei dem andern. Jedenfalls glaubte Merckling, das beurteilen zu können, obwohl er sich ja noch nie in dreidimensionaler Form gegenübergestanden hatte.

Das erste Gefühl der Ohnmacht wich einem nagenden Gefühl des Zweifels, welches sich mehr und mehr in ihm breitmachte. Vor allen Dingen missfiel Merckling diese Selbstverständlichkeit, mit der dieser Doppelmensch seinen Platz eingenommen hatte und nicht die geringsten Anstalten machte, seine Anwesenheit zu erklären. Beide Männer standen sich für den geringen Zeitraum von etwa fünfzehn Sekunden gegenüber, ohne sich in irgendeiner Form, weder mit Blicken noch mit Worten, zu verständigen, aber diese Zeitspanne reichte aus, um in Mercklings Kopf eine Idee entstehen zu lassen.

Er wusste auf einmal, wie er in wenigen Tagen endlich so leben konnte, wie er es im Innersten seines Herzens schon immer gewollt hatte. Alles jagte in Bruchteilen von Sekunden durch sein Hirn: die ewigen langweiligen Arbeitsstunden, das öde Gerede der Kollegen, zermürbende Diskussionen, deren Sinn er schon lange nicht mehr verstehen konnte. Die einsamen Abende in seiner kleinen muffigen Wohnung – all das sollte, konnte jetzt bald zu Ende sein, und Merckling wusste, dass die Lösung für all seine Probleme hier in seiner eigenen Person vor ihm saß. Es erwuchs in ihm ein wunderbares Gefühl. Er fühlte sich plötzlich frei und unbeschwert, mit der Hoffnung im Herzen, bald ein ganz anderer Mensch sein zu können.

Über den genauen Ablauf seines Planes war er sich jedoch noch nicht völlig im Klaren. Schließlich brauchte er diesen Doppelmenschen, und er brauchte ihn auch wieder nicht – je nachdem, wie er die Sache betrachtete. Zuerst verließ er das Büro mit dem sicheren Gefühl im Bauch, seine berufliche Pflicht zu tun und gleichzeitig einen ausgedehnten Spaziergang machen zu können.

Merckling schlenderte durch den nahegelegenen Stadtpark, setzte sich in ein Straßencafé und beschloss bei einem zweiten Frühstück, sich ernstere Gedanken über diese neue Situation zu machen. Gerade, als er die Tasse mit dem heißen Kaffee zum Mund führte, bekam er die entscheidende Idee.

Vierzehn Tage später regnete es draußen in Strömen, als Merckling all das in die Tat umsetzen wollte, was er in seinem Kopf hundertmal bis ins Detail durchgespielt hatte.

Eigentlich gab es für ihn kein Risiko, denn er existierte praktisch gesehen zweimal. Niemand würde auf die Idee kommen, dass der Mensch in seinem Büro nicht er selbst war. Allerdings wusste Merckling manchmal auch nicht mehr genau, ob er nun der Doppelmensch war oder die andere Person. Im Grunde genommen spielte das für seinen Plan jedoch keine wesentliche Rolle.
Er hatte sich den Zeitpunkt genau überlegt. Er wollte es tun, wenn er kurz nach Büroschluss wie gewöhnlich auf seinen Bus wartete. Er wusste, dass niemand von den Mitreisenden ihn in dem Gedränge jemals ernsthaft betrachtet hatte. Das Beste und Genialste an seinem Plan, so fand Merckling, war die Tatsache, dass er von vornherein zum Scheitern verurteilt war und auch sein musste. Seine Idee war so einfach wie bestechend:

Merckling wusste, dass er – bzw. jetzt der andere – seit drei Jahren jeden Freitag die Wocheneinnahmen seiner Filiale zur Bank brachte. Eine Tätigkeit, die er immer gehasst hatte, weil sie ihm eine halbe Stunde von seinem kostbaren Feierabend genommen hatte. Jetzt aber war er dankbar für diese Fügung des Schicksals. Er hatte jetzt nichts anderes zu tun, als sich selbst diese Tasche mit dem Geld aus der Hand zu reißen, genau in dem Moment, wo „ er

“ in der Menschenmenge an der Bushaltestelle in den gerade einfahrenden Bus steigen wollte.

Merckling wusste, dass zu diesem Zeitpunkt niemand mehr im Büro anwesend sein würde. Später würde man „ihn

“ dann verdächtigen, die Gelder veruntreut zu haben. Ein wunderbarer Gedanke, denn er war zugleich richtig und falsch. Natürlich würde Merckling dann bereits im Flugzeug sitzen, wohlwissend, dass die Polizei nicht mehr nach ihm fahnden würde, da sie „ihn

“ ja bereits gefangen genommen hatten.

Schließlich klappte alles so, wie er es sich vorgestellt und geplant hatte. Die Tat selbst verlief so reibungslos und schnell, dass sich selbst Merckling darüber wundern musste. Er riss die Tasche an sich, ohne dass sein Doppel irgendwelchen erkennbaren Widerstand geleistet hatte, nahm nach einigen Minuten hastigen Laufens durch die Menschenmengen des Freitagnachmittags ein Taxi und ließ sich zum Flughafen bringen. Unterwegs im Wagen wagte er einen kurzen Blick in die geraubte Tasche und schätzte den Wert der Geldbündel auf etwa hunderttausend Euro. Ein Betrag, der Mercklings Vorstellungen bei weitem unterschritt. Er freute sich jedoch trotzdem darauf, dass sein Leben nun doch die entscheidende Wende nehmen sollte.

Der Flug war bereits zum zweiten Mal aufgerufen. Merckling wollte noch ein paar Augenblicke dieses köstliche Gefühl der Unabhängigkeit genießen, als er sich als einer der letzten Passagiere an den Schalter begab.
Als er der hübschen Dame der Fluggesellschaft seinen Namen sagte, hörte er wie durch einen Schleier, dass sein Ticket bereits abgeholt worden sei. Das junge Mädchen lächelte ihn an und dachte an einen Scherz.

Merckling wusste auf einmal, dass er einen entscheidenden Fehler gemacht haben musste, als er durch die getönten Scheiben hinter der Passkontrolle sich selbst auf der Gangway ins Flugzeug gehen sah.

Er hatte nicht mal die Kraft, sich zum Abschied selber zuzuwinken.

Impressum

Texte: Copyright by columbus 2008
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /