In diesem Buch finden sich keine kompletten Geschichten, sondern einzelne Szenen. Diese wurden von mehreren Autoren geschrieben - unter dem Motto "Gesichter".
Im Buch enthalten sind Texte von:
1.) Putchek Fnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2.) Sangre Myror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
3.) Dreipunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
4.) Fînjaa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
5.) Kritix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
6.) Sotorvimedizi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Beitrag 1
Autor: Putchek Fnes
23. Januar.
Alessia hat immer zu mir gesagt, dass ich mit Worten male. Sie war die einzige, die jemals etwas von mir zu lesen bekommen hat. Den Glanz in ihren dunklen Haselnussaugen, den lautlosen Seufzer zwischen ihren Lippen werde ich nie vergessen. Ich sehe immer noch ihre wippenden roten Locken vor mir, die Haut, die sich über die Wangenknochen spannte, als würden die Gedanken in ihrem Kopf jeden Moment die Barrieren ihres Körpers sprengen. Heute ist mir klar geworden, dass sie vom ersten Tag an recht hatte. Ich konnte mehr Menschen als nur sie bewegen.
Heute ist Alessias Jahrestag gewesen. Ich hatte schon vor Wochen beschlossen, dass ihr die Wangen sprengendes Lächeln einen Platz in den Köpfen brauchte, nicht nur das traurige Schlussbild, in dem von ihm nichts mehr zu erkennen war, lieber eine besondere Würdigung. Der Schulhof war gefüllt gewesen von verschiedensten Gesichtern, in denen ich trotzdem ausnahmslos ein Stück von Alessia fand. Ein Zwinkern, ein Stirnrunzeln, das leicht spitze Kinn oder die schmalen Augenbrauen, alles erinnerte mich an sie. Ich trat an die Stelle, wo es passiert war, vor einem Jahr, das Notizbuch mit ihren aufgeklebten Zeichnungen fest umklammert. In mir wallten Erinnerungen auf an die Momente, in denen wir darin Gedanken geteilt hatten, in Wort und Bild gleichermaßen. In diesem Moment hätte ich weinen können, doch stattdessen sprang das Notizbuch wie von selbst auf der richtigen Seite auf. 23. Januar, wieder, genau vor einem Jahr. Der Tag, an dem die Bilder aufgehört hatten.
Ein letztes Mal habe ich tief Luft geholt, mich für das Kommende gerüstet, dann hat meine Stimme mit einer Stärke, die mich selbst überrascht hat, die schneidende Kälte durchdrungen. Eigentlich wollte ich nur wenige Zeilen lesen, die, die schon wenige Stunden nach dem Alessia gefunden wurde, entstanden sind. Als meine Hand genug aufgehört hat zu zittern, das ich den Stift halten konnte.
Für Alessia.
Wohin ist unsere Heimat diesmal gewandert? Wir sind doch nur zwei Parkbankseelen, die in ihren Stiftkreationen leben. Du hast meine Hand genommen, hast mit ihr mein Weltbild verschobene, sodass meine Bank plötzlich breit genug für zwei kleine Körper war.
Wir trafen uns zwischen den Seiten unserer Notizbücher und teilten die Geheimnisse unserer Künste. Wort und Bild verschwammen ineinander, formten eine Einheit, die sich genau wie wir mit den Fingerspitzen am Rande des Abgrunds Leben festhielt.
An diesem Punkt konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Zum ersten Mal seit Alessias Tod musste ich weinen, so wie ich es gerade wieder tue. Auch dort draußen musste ich schluchzen, und erst da fiel mir die Totenstille um mich herum auf. Ich starrte die anderen Menschen an. In ihren Augen stand ein diffuser Glanz, zwischen ihren Lippen lugte ein Seufzer hervor, der nie die Kälte berühren würde. Meine Worte hatten sie bewegt, ein trauriges Lächeln oder gar Tränen in die Gesichter gezaubert. An diesem Punkt bemerkte ich, wie egal meine ursprünglichen Pläne von Anfang an gewesen waren. Ich sah wieder Alessias schreckgeweitet aufgerissene Augen vor mir, den nackten Körper, die aufgeschürfte Haut über den Wangenknochen. Aber heute Morgen hatte ich wirklich Gelegenheit, diese Erinnerungen zu ersetzen durch etwas, das sie sich immer gewünscht hatte. Meine Parkbankseele fühlte sich größer, als sie jemals gewesen war. Sie umfing den ganzen Hof mit einem Strahlen Hoffnung, den ich in mir selbst nie gesehen hatte. Diese Menschen waren bereit, die grausigen Bilder durch etwas zu ersetzen, das ich geschaffen hatte: Worte, die den grausigen Anblick für immer ersetzen konnten.
Ich beschloss, mehr vorzulesen. Langsam wurde es immer voller, aber das habe ich erst später gemerkt. In diesem Moment lebte ich durch und in dem Freiheitsdrang, der mich immer wieder zum Schreiben treibt. Ich war glücklich, in meinen eigenen Erinnerungen, die ich mit Zuhörern, die die Worte in sich aufsogen, teilte.
Die Minute, in der die Klingel ertönte, ist in mein Hirn eingebrannt. Ich verstummte. Keiner bewegte sich. Weder Lehrer noch Schüler. Wir starrten einander an, reglos. Dann las ich weiter. Immer mehr Worte flossen aus mir heraus. Selbst jetzt kann ich kaum glauben, dass alle blieben. Ich hatte sie alle gefesselt. Ich hatte Alessia auf eine zweite, schönere Art unvergesslich gemacht.
Zwischen den Tränen musste ich lächeln, tue es immer noch. Ein Jahr später konnten wir endlich Abschied nehmen. Die Beerdigung war zu förmlich gewesen, die Gespräche in der Klasse zu unwirklich. Erst jetzt, durch meine Texte hindurch, können wir Alessia wirklich gehen lassen.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch gelesen habe. Als meine Stimme rau wurde, reichte ich das Buch wortlos an meinen Nebenmann weiter, ohne auch nur zu schauen, wer es war. In diesem Moment waren wir eine Einheit, wir, die zwischen den grauen Klötzen standen und an jeder Kreuzung Alessia stehen sahen.
Ich hätte nie erwartet, einmal Tagebuch zu führen, aber ich brauche das jetzt. Ich liebe Texte, in denen sich die Wahrheit hinter Bildern versteckt, doch jetzt muss ich ehrlich zu mir selbst sein. In meinem Kopf herrscht Chaos. Ich bin glücklich, verzweifelt, enttäuscht, zuversichtlich. Vor allem aber bin ich unendlich müde. Ich bestehe nur noch aus eingefallenen Wangen, Augenringen, ohnehin schon zu schmalen Lippen, Blässe. Im letzten Jahr habe ich einfach ignoriert, dass ich Alessia niemals wiedersehen werde, doch jetzt tue ich das. Von heute an wird sich vieles verändern. Ich habe keine Ahnung, wie sehr ich dafür bereit bin. Aber ich weiß, dass mir immer der Gedanke an eine zweite Parkbankseele bleibt, der ich in ihrem kurzen Leben Glück schenken durfte.
Aber jetzt will ich nur noch schlafen. Und ich bin mir sicher, dass ich zum ersten Mal seit 365 Tagen nicht von Alessia träumen werde.
Beitrag 2
Autor: Sangre Myror
„Oliver, kannst du dich an irgendetwas erinnern?“
Er schüttelt den Kopf. Claudia sieht ihn an, seufzt. Dann räumt sie das Memoryspiel zusammen, das Oliver einmal selbst gebastelt hat. Mit rotem Karton und unbeholfenen Buntstiftmalereien. Damals fiel es ihm schwer, zwei identische Bilder zu zeichnen, er mäkelte immer wieder daran herum - es sei unmöglich, zwei vollkommen gleiche Dinge zu malen. Bei dem einen Haus war das Fenster schief, der Himmel blauer, bei dem anderen saß der Türknauf weiter oben, die Sonne gelber. Was allerdings nicht heißt, dass er es nicht versucht hätte. Bis seine Mutter gelacht hat, es wäre ebenso unmöglich, zwei völlig identische Bilder zu zeichnen, wie zwei gleiche Menschen zu treffen. Das fand er komisch, schließlich gab es doch Lisa und Marie in seinem Kindergarten – Zwillinge. Es dauerte eine weitere Weile und ein paar Verabredungen mit den Zwillingen, bis Oliver von selbst verstand, dass die beiden nicht gleich waren, auch wenn sie so aussahen.
Es fällt Claudia schwer, sich einzugestehen, dass ihr Sohn all dies mittlerweile vergessen hat. Stumm stapelt sie die kleinen Kärtchen, passt auf, dass sich das Papier nicht von der Pappe löst. Dann verschwinden die Karten in einer dunkelgrünen Holzkiste auf Olivers sterilen Beistelltisch. Als sie die weiße, längliche Plastikdose erblickt, muss sie schwer schlucken und wendet den Blick ab. Dann zieht sie ihren Sohn sanft zu sich heran, denn sie weiß, dass er gleich zu weinen beginnen wird. Wie immer, wenn Oliver sich nach den Dingen sehnt, von denen er nicht weiß, wer oder was oder wie sie sind – denn er hat sie vergessen. Begonnen hat es mit den kleinen, schlimmen Dingen. Die Schramme am linken Knie vom Fußball; der Zahn, den Henrick ihm herausgeschlagen hat; die Scherbe, in die er letzten Sommer getreten ist, als sie Angeln am Fluss waren. Mit einer schwarzen Daunendecke hat er diese Dinge zugedeckt und in einem lichtlosen Raum seines Kopfes verborgen – sodass niemand sie finden kann. Doch nach und nach kamen andere, schöne und unschöne Erinnerungen und Erlebnisse hinzu. Die Dinge unter der Daunendecke gerieten in Vergessenheit – viel zu viele einzigartige Augenblicke waren gekommen, um Oliver zu erfreuen. Doch dann schlug der Kopf auf, wurde durchgeschüttelt, alles flog durcheinander – mehr Daunendecken schwebten herbei, legten sich auf alles hernieder. Nun schlummern sie immer noch auf allen Dingen, die ihm einst wichtig waren und verursachen ein schreckliches, dumpfes Gewicht in seinem Kopf. Viel zu oft leidet er an Müdigkeit und Kopfschmerz, möchte es den Daunendecken gleichtun – sich hinlegen und für immer schlafen. Doch Mama ist da, fängt ihn jedes Mal auf, hält ihn fest und spricht ihm zu. Dann versucht sie oder einer der Ärzte, mit ihm zu spielen. Doch auf einmal funktionieren die Spiele anders als früher. Sie machen weder Spaß, noch ist Oliver gut in ihnen, im Gegenteil. Und nach und nach begreift er, dass die Ärzte sich schreckliche Sorgen machen. Er kann sich an nichts aus seiner Vergangenheit erinnern, die Gegenwart verschwimmt schnell und die Zukunft ist etwas, vor dem Oliver sich schrecklich fürchtet. So schrecklich, dass die Daunendecken ihre Kameraden herbeirufen, um auf einander aufzupassen.
Ein Arzt meint, Oliver würde etwas erfolgreich verdrängen und Gedächtnisspiele wären seine einzige Rettung. Ein Arzt meint, Oliver hätte eine schwere Blutung im Kopf, der Schädel müsse dringend exakt untersucht werden. Ein Arzt meint, von bloßem Memory würde sich nichts verändern, ein heftiger Schlag würde alles richten. Und der letzte Arzt meint, Oliver müsse dringend seinen Glauben an Gott wiedererlangen und täglich einen halbe Liter Kümmeltee trinken. Es ist Olivers Glück, dass seine Daunendecken die Ärzte im Laufe des Tages verdecken
würden.
„Oliver, sieh mal, wer da ist!“
Der Junge und seine Mutter schrecken zusammen und sehen auf. In der Tür steht Schwester Korte und lächelt. „Besuch.“
Claudia rätselt, wer Oliver wohl besuchen kommen könnte, doch alle Leute, die ihr in den Kopf fallen, sind entweder tot oder viel zu weit weg.
Schwester Korte nimmt das rätselhafte Gesicht der Mutter mit einem freundlichen Lächeln zur Kenntnis und tritt zur Seite. Im Türrahmen erscheinen zwei runde, strahlende Gesichter mit Unmengen an Sommersprossen. Die Zöpfe der Zwillinge wippen freudig auf und ab, als Lisa und Marie nähertreten, um Oliver einen großen Blumenstrauß und einen flauschigen Plüschtiger entgegenzuhalten.
Das Gesicht des Jungen hellt sich augenblicklich auf, er ringt nach Worten, kann aber keine finden. So öffnet er einige Male den Mund und schließt ihn wieder, was die Zwillinge zum Lachen bringt – und Oliver stimmt mit ein.
Schwester Korte tritt schmunzelnd zu der fassungslosen Claudia. Tränen der Freude stehen in ihren Augenwinkeln. Die Zwillinge!
„Schon süß, die beiden gleichen sich offenbar wie ein Ei dem anderen“, staunt Schwester Korte.
„Stimmt gar nicht“, sagt Oliver plötzlich und zeigt auf eines der Mädchen. „Kein Gesicht und kein Mensch ist gleich - Marie hat sechs Sommersprossen mehr als Lisa!“
Beitrag 3
Autor: Dreipunkt
Liebes Tagebuch,
wieso begrüße ich dich eigentlich mit „Liebes Tagebuch“? Das ist so klischeehaft, so langweilig, so nichtssagend. Fällt mir nichts Vernünftiges ein? Dann könnte ich die erste Zeile genau jetzt abändern, hätte es also schon getan. Demnach fällt mir wohl wirklich nichts bessere ein – doch soll dieser Eintrag nicht davon handeln. Du wunderst dich sicherlich eh, wieso ich heute in dich schreibe, habe ich dies doch bisher erst einmal gemacht: an jenem schicksalshaften Tag vor ungefähr drei Jahren, als du mir geschenkt wurdest. Auch damals begann ich mit „Liebes Tagebuch“, um nochmals zu erwähnen, worum es hier nicht geht.
Nein, nein, ich habe wirklich etwas zu erzählen: Ich nehme an einem Wettbewerb teil zum Thema „Gesichter“, zu dem ich einen Tagebucheintrag mit verschiedenen Emotionen schreiben sollte. Außerdem darf das Wörtchen „und“ höchstens fünfmal enthalten sein, was sicherlich ziemlich schwierig wird, zumal ich es damit schon einmal niedergeschrieben habe. Vielleicht sollte ich mich auch des Englischen „and“ bedienen oder dieses Wort in noch gewagteren Übersetzungen einwerfen. Logische Menschen würden sogar die sinnlose Buchstabenkombination „niffum“ so definieren, dass sie dieselbe Bedeutung wie dieses Wort hätte. Aber so etwas mache ich nicht, dann würde mir auch das fruchtige Süßgebäck böse sein. Allerdings frage ich mich, wieso man diese Wahlpflichtvorgaben nicht einfach nur Vorgaben nennt, wo man doch sowieso verpflichtet ist, sie zu wählen. Vielleicht habe ich auch etwas falsch verstanden.
Davon abgesehen, Tagebuch, stand ich heute wieder vor meinen geschätzten Zuhörern, denen ich die gefürchtete Frage stellte: „Habt ihr Fragen?“ Nicht etwa, dass das Auditorium diese Frage fürchten würde, nein. Ich fürchte sie, weil daraufhin keine fragenden Antworten erklingen, sondern tiefste, ruhigste Stille, ausgestoßen von diesen ausdruckslosen, behäbigen Wesen, die mit leeren Augen überall hinblicken, außer zu mir. Vielleicht haben sie doch Angst vor dieser Frage, wenn aber, dann zeigen sie es auf recht merkwürdige Art.
„Habt ihr etwas nicht verstanden? Haben wir letzte Woche eine Aufgabe seltsam gelöst, darf ich nochmals etwas erklären, interessiert ihr euch für etwas? Nein? Doch? Vielleicht? Wisst ihr, was meine Worte bedeuten?“
Es half nichts, die Köpfe senkten sich lediglich vereinzelt, um scheinbar interessiert den Hefter zu studieren.
„Also gut, beginnen wir mit dem Stoff für heute." Ich schrieb so einige Worthülsen an die Tafel, doch merkte ich, dass mir niemand folgte. Lieber wurde gequatscht. Ja, das können sie!
"Nun, dann löst mal diese Aufgabe, ich warte so lange."
Die Zeit ihrer eher wenig stillen Beschäftigung nutzte ich zur Beobachtung, war es doch meist interessant, diesen jungen Haufen zu beobachten.
Hinten in der Ecke saß ein Pärchen, das sich letztens erst gebildet hatte. Der Junge grinste überaus zufrieden, dachte jedoch offensichtlich nicht an die Aufgabe, sondern an das Mädchen (gleich in welcher Bekleidung), das an ihm gelehnt die Augen geschlossen hielt, vielleicht sogar schlief. Der Rest dieser Menschen, von denen ich nicht viel mehr als ihre Gesichter samt Haarbüscheln sah, schrieb eifrig, doch selten im Hefter, meist auf einem elektronischen Schnickschnack.
Ich weiß nicht, wieso man bei uns freies WLAN benötigt, doch weiß ich, dass ich dagegen machtlos bin. Sehr interessant auch immer die Trauben, die sich hinter einer Person mit Laptop bilden. Ich hätte einen kleinen Rundgang beginnen können, um das Spiel zumindest in die Taskleiste verschwinden zu lassen, doch würde wahrscheinlich nicht einmal dieser helfen.
Um wieder etwas tun zu können, behauptete ich also: „Ihr habt die Lösung mittlerweile heraus“, nicht jedoch auch nur geringfügig davon überzeugt. „Möchte sie jemand an der Tafel vorstellen?“
Die üblichen leeren Blicke wichen sofort dezentem Entsetzen, manche schienen schon die Notausgänge zu suchen. Einer ließ sogar, vermutlich absichtlich, doch vorgeblich aus Versehen, seinen Bleistift fallen, den er ungelogen geschlagene fünf Minuten auf dem Boden herum kriechend suchte. Ehe die Panik, die mein fordernder Blick heraufbeschwor, jedoch zu einem schrecklichen Zwischenfall führen konnte, schrieb ich die Antwort lieber selbst an. Strich für Strich näherte ich mich dem abschließenden Punkt, danach wieder die gefürchtete Frage: „Gibt es Fragen dazu?“
Was ich nicht erwartet hatte: Ein Mädchen reckte ihren Arm in die Luft, ich nicke ihr baff zu. Sollte ich wirklich hoffen?
Sie lächelte verschmitzt, dann ließ sie es raus: „Und?“
„Wie, und?“
Sie pausierte effektvoll, kostete meine Ratlosigkeit aus. „Und was bringt mir das?“
„Und mir?“, rief einer aus der letzten Reihe.
Die versammelte Menge kicherte, schaute nun das erste Mal an diesem Tag nicht an mir vorbei, sondern direkt auf meine dezent hochgezogene Augenbraue. Eine überaus sarkastische Erwiderung lag mir auf der Zunge, ebenso mehrere Phrasen. Doch entschied ich mich für eine ganz pragmatische, überaus überzeugende Antwort: „Das kommt in der Prüfung dran.“
Auf einmal war mir die Aufmerksamkeit sicher, wo doch eigentlich klar sein dürfte, dass der Stoff, den ich mühsam an die Tafel bringe, irgendwann abgefragt wird. Aber gut.
„Die Hausaufgaben kennt ihr ja schon, ich stelle euch noch eine ähnliche Aufgabe vor, an der ihr euch orientieren könnt.“
Ich drehte mich wieder zur Tafel, krakelte, genoss die Ruhe des Auditoriums, das ohne jeden Mucks gebannt lauschte. Ohne. Jeden. Mucks. Irritiert wendete ich mich ihnen zu, nur um zu sehen, wie sie eifrig abschreiben. Eifriger als sonst. Zu eifrig.
Noch einmal blickte ich auf die Aufgabe, woraufhin es mir schlagartig klar wurde: Ich hatte – gottverdammte Scheiße nochmal! – mehr als die Hälfte der Hausaufgabe vorgerechnet.
„Wieso sagt ihr denn nichts?“, fragte ich empört, aber warum eigentlich? Natürlich haben sie nichts gesagt, wer hätte das getan? Nur kichern, ja, das konnten sie. Ich seufzte schwer. „Nun gut, nehmt es als Geschenk, das soll es für heute gewesen sein.“
Damit verließen sie blitzartig den Raum, womit ich mit meiner Geschichte am Ende bin, liebes Tagebuch. Völlig zufällig, ja sogar unbeabsichtigt, habe ich damit auch die Wettbewerbsauflage zu vollster Zufriedenheit erfüllt. Das war wirklich nicht geplant. Wirklich. Schon verrückt, wie selten man dieses verbotene Wort schreibt, wenn man ganz normal von seinem Tag berichtet. Ich verstehe gar nicht, wieso es so schwer sein soll, es nicht zu erwähnen. Verstehst du das? Kannst du reden, denken, Handstand machen?
Wie dem auch sei, ich beende hiermit unsere recht einseitige Konversation, vielleicht schreibe ich in ein paar Jahren wieder in dich, wenn sich die Schreibaufgaben wiederholen.
Bis dann, oh geliebtes Tagebuch!
Beitrag 4
Autor: Fînjaa
Da hab ich nun in meiner Hand
staubig trocknen Ton, wie Sand
vom weit entfernten Meeresstrand
rieselt er, gleich hellem Band
auf der Schöpferschüssel Rand.
Ich muss aufpassen, dass mein Tagebuch keinem vom Olymp in die Hände fällt. Ich wäre das Gespött von ganz Griechenland und mein Plan wäre vollkommen ruiniert. Prometheus, ein Freund der Athene, schreibt Tagebuch und dazu noch Gedichte! Nein, das überlasse ich lieber ihrem arroganten Bruder.
Außerdem kann ich es nicht riskieren, dass Zeus anfängt, zu interpretieren. Womöglich würde dieser Trottel noch die richtigen Schlüsse ziehen!
Heute habe ich an meinen Tonfiguren weiterarbeiten wollen. Aber es war viel zu heiß, der Ton ist viel zu schnell getrocknet. Also habe ich mich hingesetzt und die Köpfe bemalt. Ein paar musste ich zerschlagen, weil sie zu hässlich waren. Aber manche sind ziemlich gut geworden. Es war richtig lustig, ihnen Augen zu malen. Und Haare. Nasen, Ohren, Münder. Diese ganzen Farbmischungen! Langsam werde ich richtig gut darin, meinen Figuren Gesichter zu geben. Ich dachte hin und wieder sogar, eine von ihnen würde mich ansehen. Und als ich nach dem Mittagsmahl an meinen Arbeitsplatz zurückkehren wollte und die Tür zu meinem Schuppen öffnete, bin ich sogar vor einer der richtig guten Figuren erschrocken. Sie sehen so echt aus…
Vielleicht sollte ich Athene bitten, einigen von ihnen ein bisschen Leben einzuhauchen.
Vorausgesetzt natürlich, keiner dieser neugierigen Proleten hier aufkreuzt und rumschnüffelt…
Prometheus, am 25. Juli um 21:36
Im Schuppen neben einer Tonfigur mit hellbraunem Haar und blauen Augen.
Beitrag 5
Autor: Kritix
Blondes, langes Haar, bis zu den Schulterblättern, leicht gewellt. Hohe Wangenknochen. Nicht ganz so scharf, etwas weicher. Ziemlich eckiges Kinn – ein wenig maskulin, aber dennoch faszinierend schön. Die Mund- und Kieferpartie vermittelt den Eindruck einer starken Frau, die weiß, was sie will. Die Augen hingegen wirken betrübt. Nein, sie stehen ein wenig schräger – außen höher als zur Nase hin. Eigentlich ziemlich edel. Aber dennoch eben traurig. Sie wirkte immer so widersprüchlich – mit dem starken Kinn und den betrübten Augen.
Die Nase. Die ist ziemlich gerade. Untenrum keine Stupsnase, eher etwas kräftiger, aber mit schmalen Nasenflügeln. Dieses kleine Grübchen zwischen Nase und Oberlippe – wie nennt man das eigentlich? – das ist bei ihr sehr stark ausgeprägt. Der Mund ist zwar recht breit – eben passend zu ihrem kräftigen Kinn –, aber ihre Lippen sind schmal, ziemlich zart.
Ihr Teint ist blass, genau wie ihre Lippen. Sie hat immer Lipgloss benutzt – dezent, aber das ließ ihre Lippen sehr schön glänzen.
Sie finden, sie sieht meiner verstorbenen Frau ähnlich?
Ja, da könnten Sie Recht haben. Vielleicht habe ich sie deshalb ausgesucht – unterbewusst. Sie kam auch sofort mit den Kindern zurecht. Emma fremdelt eigentlich sehr, aber bei ihr kaum. Sie war so perfekt, hat so gut zu uns gepasst. Ein bisschen war sie … wie ein Ersatz. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich …
Ich schäme mich dafür. Meine Frau ist kaum ein Jahr tot und schon …
Nein, ich wollte es nicht. Sie hat mich verführt. Mein Herz schlägt noch immer schneller, wenn ich an die Zeit mit ihr denke. Sie war so verständnisvoll, hat mir so viel Halt gegeben. Genauso wie den Kindern. Sie mochten sie sehr. Florian hat sie versehentlich mal Mama genannt. Da hat sie zwar gelacht, aber gleichzeitig … Jetzt, wo sie weg ist, begreife ich erst, was ich damals schon gesehen habe, besonders in dieser speziellen Situation, als Flo sie Mama nannte: Sie war traurig. Ich habe immer vermutet, dass irgend etwas in ihr schlummert. Das hat sie für mich interessant gemacht. Ich wollte sie ergründen, begreifen, was das ist, das sie so traurig macht. Ich habe mich in sie verliebt.
Nun ist sie weg. Mitsamt meinen Kindern.
Jetzt ist mir klar, warum sie niemals fotografiert werden wollte. Kein einziges Bild habe ich von ihr. Im ganzen Haus hängen Bilder meiner Kinder und meiner Frau. Aber von ihr existiert kein einziges. Außer jetzt dieses hier. Ja, es sieht sehr nach ihr aus. Faszinierend, wie Sie das machen. Eine wunderschöne Zeichnung von ihr, die sie sehr genau zeigt. Wo wird es überall erscheinen? Wird man es im Fernsehen zeigen? Auch in Osteuropa? Was ist dran an der Vermutung, sie könnte meine Kinder in einen Menschenhändlerring gebracht haben?
Wie bitte? Sie rollen den Unfalltod meiner Frau noch einmal auf? Wegen ihrer traurigen Augen?
Oh mein Gott! Jetzt begreife ich, was Sie meinen. Wie konnte ich so blind sein?
Beitrag 6
Autor: Sotorvimedizi
Freitag, den 13.09.2013
Die Menschen leben. Sie kämpfen. Sie sterben für ihre Ziele, ihre Träume.
Das Böse wächst und siegt. Nur ein kleiner Streit zwischen Nachbarn. Plötzlich fließt Blut im Land. Es würde mein Werk sein. Ja, ich bin das Böse, ich streue den Hass und das Salz in die Wunden. Die Luft, zwar unsichtbar, doch an den fatalen Folgen sichtbar, wird mit Schreien, zerfressender Strahlung, mit tödlichen Scherben und Leid durchtränkt sein. Krieg soll herrschen, ich will, dass das Böse siegt. In jedem Kopf soll der Hass regieren.
Was sollte mich noch aufhalten, diesen Traum zu verwirklichen? Ich habe die Menschheit so oft zum Abgrund geführt, schon oft blickten sie in die Tiefe des Nichts. Fällt die Welt dieses Mal, wird Gott sie nicht auffangen, denn er wie auch seine Engel haben sich längt von der Erde abgewandt. Sie sitzen in ihrem Wolkenschloss, werden immer träger und fetter. Meine Macht ist unendlich. Kurz wird die Welt ihren Atem anhalten, ehrfürchtig mein Wesen betrachten. Dann zerfällt alles in Staub.
Es wirkt wie eine Droge, wenn ich mir die Gebete, das bitterliche Flehen der Mensch vorstelle. Wie sinnlos, Gott hört euch nicht, ich höre euch nicht zu. Ein unendliches Glücksgefühl, wenn ich vor meinem geistigen Auge in die hoffnungslosen Gesichter der Gebrochen, die aufgequollenen Augen der Trauenden, den starren Blick der Toten sehe.
Ich werde der Schöpfer sein, wenn ich durch die zerstörten Straßen schlendere und mein Herz sich weidet. Es ist meine Bestimmung, ich lebe nur, weil es das Böse gibt. Sonst wäre mein Leben sinnlos.
Ich habe immer an meinen Traum geglaubt. Immer wieder habe ich es versucht, kein Rückschlag wog so schwer, dass er mich hätte aufhalten können. Ich stehe kurz vor dem Ziel, nichts hält mich auf. Meine Apokalypse steht kurz vor dem Ende. Nur noch wenige Worte.
Doch alles nur Illusion.
Eine Person hält mich auf. Ich sehe in ihr kleines Gesicht. Sie ist der größte Fehler meines Lebens. Ein Kind wie kein anderes. Der Vater der Teufel, die Mutter ein Engel. Es wird zwei Gesichter tragen. Nase, Augen, Gesichtszüge, Gut und Böse werden sich mischen.
Es gibt niemanden, der abgrundtief böse ist. Auch nicht ich. Das musste ich erkennen. Ich werde meinen Traum nie erfüllen, dazu liebe ich meine Tochter zu sehr. Auch die Tausenden an Jahren, die ich auf der Erde wandelte, veränderten mich. Menschen. Ein merkwürdiges Volk. Erst lieben sie, dann hassen sie, dann lieben sie, dann beten sie, irgendwann sehen sie die Erde von unten.
Ich wusste nie, dass ich zu solchen Gefühlen fähig bin, hätte nie gedacht, dass mich so ein kleines Wesen aufhalten könnte. Etwas hat mich verändert, ohne es zu merken, tatsächlich.
Ich bin der Teufel, ich bin die Nacht, ich bin das Böse. Und ein halber Mensch geworden.
Man liest sich,
der Teufel
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2013
Alle Rechte vorbehalten