Cover


Vier BUG-Autoren haben sich kreativ betätigt zum Thema "90 Grad" und jeweils einen kleinen Text geschrieben.

Wem die in allen Texten vorkommende Gemeinsamkeit (welche vorgegeben war) auffällt, der bekommt einen Keks!


Im Buch enthalten:


1.) Die Milch, Mädchen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7


2.) Broschüre zur Prävention einer Epidemie
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3.) Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15


4.) Der vertikale Ausdruck für ein horizon- tales Verlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17



Die Milch, Mädchen!


Autor: Dreipunkt




Früh wurde es dunkel in diesen Tagen, kalt war es und einsam fühlte sich Lacta sowieso. Wehmütig blickte sie aus dem Fenster, über die karg beleuchteten Straßenzüge hinweg bis weit hinaus ins Hinterland, wo sich Schwärze von ihresgleichen abhob und diffuse Muster bildete. Dort draußen musste er sein, er, der weder gestern noch heute gekommen war und wohl nie mehr vor ihre Augen treten würde. Lacta spürte, wie die ersten Tränen drückten und hinaus wollten – und schüttelte energisch den Kopf. Dafür waren der Abend und sie selbst noch zu jung.

Das Licht ging an und beleuchtete die mit grasendem Vieh bedruckte Pappe, die sich bereitwillig dem Kühlschrank entnehmen ließ. Wofür würde ihr weißes Gut wohl diesmal nützlich sein? Interessiert blickte sie sich um und wusste schnell, wonach dem Menschen der Sinn stand: auf der Arbeitsplatte verteilt entdeckte sie Schüssel, Topf sowie Rührbesen und ein bereitliegendes Päckchen Puddingpulver. Einen halben Liter musste sie also lassen, und schon spürte sie, wie sie von einer zarten Hand geöffnet wurde. „Mädchen, denk daran“, flüsterte die Pappe unhörbar, „meine Öffnung beim Ausgießen nach oben zeigen zu lassen, damit die Milch besser entweichen kann.“

Lächelnd stand Lacta am Herd und beobachtete den Topf, der sich langsam erwärmte. Ihre Hände hatte sie links und rechts an das noch kühle Metall gelegt und dabei stellte sie sich vor, die Milch würde allein ihretwegen anfangen zu brodeln. Einige Zeit lang gelang ihr dies problemlos, dann aber überließ sie großzügig dem Herd die weitere Arbeit und suchte nach einem Holzlöffel, um der Hautbildung vorzubeugen. Dem Pudding sollte nichts geschehen, bis sie sich ihn in vollendeter Einsamkeit einverleibte. Gewissenhaft begann sie, je fünfmal linksherum und fünfmal rechtsherum zu rühren, da hatte sie das dumpfe Gefühl, es kurz an der Tür klingeln gehört zu haben. „Ich bin wichtig!“, frohlockte sie und huschte in den Flur.

Die Milch in ihrem kuscheligen Topf verstand diesen Menschen, der sie wegen einer akustischen Illusion Hals über Kopf zurückgelassen hatte und nun an der defekten Gegensprechanlage verzweifelte, nicht im Mindesten. Sie selbst war ein heterogenes Stoffsystem, und in einem solchen war Einsamkeit weder vorgesehen noch möglich. Fette, Eiweiße und Kohlenhydrate schwammen träge umher, von winzigen Wassermolekülen umgeben, die ihrerseits wiederum von Elektronen umflogen wurden, die sich durch den leeren Raum bewegten. „Verrückt“, dachte sich die Milch und philosophierte über den Ursprung der Zeit, während sie wärmer und wärmer wurde.

Währenddessen tappte Lacta Stufe um Stufe hinab, wohlgemerkt im Dunkeln, weil nicht nur die Gegensprechanlage samt Türöffner, sondern auch die Beleuchtung seit Wochen funktionsuntüchtig war. Ein Glück – und das dachte sie wirklich! –, dass es ein normiertes Maßsystem gab, das sicherstellte, mit dem Fuß zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt die nächste Stufe zu erreichen, ohne vorsichtig in der Luft herumtasten zu müssen. Dadurch waren auch ihre Gedanken frei, sich um den mysteriösen Besucher zu winden, der vor der geschlossenen Tür auf den gesprungenen Gehwegplatten neben der lausigen Begrünung in der eiskalten Nachtluft um 9 Uhr nachts auf sie warten könnte. Doch auch all diese Vorstellungen halfen nicht, er blieb ein Phantom. Wer war er, wenn es ihn gab? Derjenige, den sie erwartete? Immerhin möglich. Ein verirrter Pizzalieferant? Lecker. Ein Mörder? Nein, ganz sicher kein solcher, das Leben meinte es nun endlich gut mit ihr.

Und wie sie so Joule um Joule an potentieller Energie einbüßte und nicht wusste, was dort auf sie wartete, erhöhte sich die Temperatur der Milch langsam, aber stetig, überstieg erst sechzig, dann siebzig und schließlich sogar achtzig Grad. Von dieser Frau unbemerkt, die vergebens aus den kleinen Fenstern blickte, fingen Proteine an zu verklumpen und sich mit Fetten als feste Haut an der Oberfläche zu präsentieren. Aufsteigende Dampfbläschen stießen rasch so heftig dagegen, wie Lactas Herz gegen ihre Brust, das vor Aufregung kaum noch schneller schlagen konnte. Eine Etage hatte sie noch unter sich, dann könnte sie langsam die Tür öffnen – doch da schaffte ihr Kopf, der beständig im Hintergrund gearbeitet hatte, um einen Sinn zu erkennen, die Verbindung zwischen den Uhrzeigern, den Stufen und der Temperatur und ließ sie aufgeschreckt auf der Stelle kehrt machen, hinauf in ihre Wohnung rennen und den Topf gerade noch rechtzeitig vom Herd nehmen.

Puh, kurz vor knapp! „Hätte sie doch nur Butter auf den Rand geschmiert!“, dachten sich die erbleichte Milch, das keuchende Fräulein und nicht zuletzt der Herr vor der Tür, hätte er von den Vorgängen gewusst, die eine Zusammenkunft verwehrt hatten. So blieb ihm nichts anderes übrig, als einen kurzen Text zu verfassen, der mit „Liebe“ begann und mit seinem Namen endete, und diesen, mit einem Kuss versehen, im Briefkasten zurückzulassen.


Broschüre zur Prävention einer Epidemie


Autor: Fînjaa




Liebe Leserinnen und Leser,
im Folgenden wird ihnen eine Krankheit vorgestellt, die bis zur heutigen Zeit trotz offensichtlicher Bedrohung für die Menschheit viel zu wenig beachtet wird. Diese Broschüre soll zur Prävention beitragen und eine Epidemie verhindern.
Sollte ihnen eines der aufgeführten Symptome bekannt vorkommen, begeben sie sich so schnell wie möglich zum Arzt!

Wenn es Nacht wird, legt sich im menschlichen Hirn ein Schalter um.
Kein Mediziner konnte bisher nachweisen, was genau im Gehirn bei Dunkelheit geschieht (bei Testversuchen war es so dunkel, dass die Versuchsleiter nichts gesehen haben). Man geht aber davon aus, dass bestimmte Hormone bei fehlendem Licht nicht mehr ausreichend produziert werden und so vermindern sich die Gedanken an Arbeit, Probleme und Stress eines Menschen. Vermutlich sendet das Gehirn dann, so als Ersatz, eine Art Thinkorphine aus, welche bewirken, dass der betreffenden Person die merkwürdigsten Gedanken kommen.
Man denkt über das Dasein nach, philosophiert über die Unendlichkeit und diskutiert über die Existenz von Seelen mit Menschen, die ebenfalls den Thinkorphinen, welche im Volksmund auch Fantasie oder Kreativität genannt werden, zum Opfer gefallen sind.
Die offizielle Bezeichnung für die Betroffenen dieser rätselhaften Krankheit (weil der Vorgang medizinisch nirgendwo passte, nannte man es Krankheit), lautet Nachteulen.

Die Rufe der Nachteulen können unter Umständen ansteckend sein, der Krankheitsverlauf an sich ist aber harmlos (zumindest stirbt man daran nicht).
Ein erstes Symptom kann zum Beispiel das Nachdenken über Themen sein, denen man bei Tageslicht wenig Beachtung schenkt. So finden sich überzeugte Atheisten im Gespräch über Gott und die Welt wieder, während die Mathematiker plötzlich biologisches Fachwissen auf Lager haben.
Die Hauptinteressen des Erkrankten machen eine Wende um neunzig Grad, wenn nicht sogar Einhundertachtzig. In letzteren Fällen wird dringende Behandlung durch Schlaf und Ignorieren der teils absurden Nachtgedanken empfohlen.

Die Folgen bei weiterer Schlaflosigkeit können verheerend sein.
So beginnen die Nachteulen oft, wenn sie den schriftlichen Ausguss ihrer Gedanken präferieren, wie wild zu tippen. Das Geschriebene ist meist fiktiv und somit unnütz für die heutige Gesellschaft. Wenn die nachts erkrankte Eule dann am nächsten Morgen erwacht und die Hinterlassenschaften der Krankheit näher betrachtet (hier werden Gummihandschuhe empfohlen), so ist ein fast vollständiger Gedächtnisverlust festzustellen. Viele der Nachteulen gaben an, sich nicht mehr an das Geschriebene erinnern zu können. Forscher vermuten hierbei, dass sich die Gedanken der Betreffenden Nachteule auf eine höhere Stufe einer sogenannten „gedanklichen Treppe“ begeben haben, was unbedingt zu vermeiden ist. Je höher die Gedanken nämlich auf dieser Treppe steigen, desto wahrscheinlicher ist, dass es zu Anzweifelungen der Gesellschaft und des allgemeinen Systems gibt, was ebenfalls unbedingt zu vermeiden ist.
Andererseits führt die Nachteulerei dazu, dass wichtige Arbeiten nicht erfüllt werden. Die Nachteule wendet sich ihrer kreativen Seite zu und vernachlässigt Aufgaben, die bei Tageslicht mit unterwürfiger Demut gegenüber der Gesellschaft verrichtet worden wären. Dieses Verhalten schadet vor allem der Wirtschaft und ist somit vollkommen auszumerzen.

Menschen, die sich nach dem Aufwachen übertrieben gut fühlen und ausnahmsweise nicht an Kopfschmerz leiden, sollten sich schleunigst beim Arzt melden – es besteht die außerordentlich große Gefahr, in der Nacht gedacht zu haben!
Sollte sich dieser Verdacht beim behandelnden Arzt bestätigen, wird eine umfassende Therapie empfohlen.
Diese Therapie beinhaltet in erster Linie den täglichen Kontakt mit Neonlicht in Büroräumen und das Inhalieren stickiger Luft in Klassenzimmern, wahlweise auch in Hörsälen oder schlecht gelüfteten Wohnzimmern. Hinzu kommt eine regelmäßige Massage des Denkapparates mit langweiligen Zahlen der finanziellen Entwicklungen in Mittelasien und das Erlernen der Sprache Haltdieklappe.

Während der Therapie wird ein geregelter Zeitplan eingeführt. In der ersten Phase der Heilung steht der Patient mit Sonnenaufgang auf und geht mit Sonnenuntergang wieder schlafen. Düstere Regentage werden unter empfohlenen Neonlampen verbracht, da diese bekanntlich die Konzentration stören und somit verhindern, dass der Patient eventuelle kreative Gedanken hegt.

In der fortgeschrittenen Phase der Therapie darf der Patient dann um sechs Uhr aufstehen, um halb sieben zur Arbeit fahren und um vier zurückkehren. Die noch verbleibende Zeit bis neun Uhr abends darf frei genutzt werden zum Einkaufen, Staub wischen, Essen kochen und zur Kindererziehung. Einmal im Monat ist sogar ein nachmittägliches Gespräch mit den Nachbarn über die Engagements der Politiker in Serbien-Montenegro erlaubt.


Liebe Leserinnen und Leser,
wenn sie diese Broschüre bis zu Ende durchgelesen haben, waren sie vielleicht zwischenzeitlich beim Arzt und haben sich vorsorglich untersuchen lassen. Vorbildlich.
Wir bitten sie darum, uns bei der Prävention zu unterstützen, indem sie einmal wöchentlich Flyer verteilen, die sie im örtlichen Rathaus abholen können.
Vermeiden sie weiterhin jegliche Art des Denkens oder Kreativseins und sichern sie so den Fortbestand unseres viel zu komplizierten Aktensystems in Deutschland!

Mit freundlichen Grüßen

Christiane Fischer
vom Amt zur Ausrottung der Kreativität und eigenständigen Denkens.


Schlaf


Autor: Schirmherr




Er steht vor seinem Patient
und versucht sich zu fassen.
Was wäre intelligent?
Schauen ob die Spritzen passen?
Er wiegt bereits eine in der Hand,
sie ist eine große Last.
Und schon kommt es zum Brand
als Eins und Eins zusammenpasst.
Blut kocht bei neunzig Grad
sagt eine Stimme im Kopf
und hat einen weiteren Gedanken parat:
So habe ich es mir erhofft.
Es pulsiert durch den kleinen Leib
und die Schatten werden dunkler
Doch - "Geh nicht fort - Bleib!
Das war ein Fehler!"
Die Erkenntnis kommt zu spät.
Doch der Patient will schlafen
und fällt aus der Realität.
Kann einfahren in seinen Ruhehafen.
Schritt für Schritt in die Nacht
eine lange Treppe hinunter,
welche vom Tod persönlich überwacht.
Tief und tiefer geht es runter.
Worte sind nicht mehr nötig,
er hätte doch sowieso keine:
Unser Freund ist vierpfötig
und lebte an der Leine.
Die Tränen wiegen schwer,
doch nun ist er frei -
die Pfoten zucken nie mehr
denn sein Leben ist vorbei.


Der vertikale Ausdruck für ein horizontales Verlangen


Autor: Sangre Myror




Der Ballsaal der kleinen Burg war gut gefüllt mit Hochzeitsgästen. Valentina war mit ihren Eltern hier und beobachtete die beiden schon seit einer ganzen Weile, wie sie ihre Runden drehten. Doch mit wem sollte Valentina tanzen? Noch während diese Worte ihren Kopf betraten, entdeckte sie auch schon Till auf der hölzernen Treppe, die zum Podium führte. Er war der Neffe der Getrauten, so weit sie wusste; eher klein, pickelig und seine schwarzen Haare glänzten so sehr wie die billigen Lackschuhe. Sie kannten sich schon von der Hochzeit von Katrin und Jürgen, und damals hatte er stets unruhig mit den Füßen gescharrt und zu Valentina herübergesehen. Damals wurde aber auch nicht getanzt sondern Karaoke gesungen und viel zu viel Torte verspeist. Ein ganz und gar grausiger Abend.
Nun hatte man hat ihn erneut in seinen schwarzen Smoking gezwängt und er lächelte erst, als er Valentina erblickte. Schon stand Till bei ihr. Er roch nach Männerparfum, das ganz bestimmt nicht sein eigenes war. »Darf ich um diesen Tanz bitten, gnä' Frau?«
Und Valentina nahm seine Einladung an. Was Till für eine flotte Sohle aufs Parkett legte! Er fegte mit ihr durch den Saal und überragte sämtliche anderen Tänzer. Einige hielten sogar inne oder reckten die Hälse, während die Band einen Tango begann, der Valentina auf eine seltsame Art und Weise vertraut vorkam. Hatte sie zu diesem Stück nicht damals in der Tanzschule getanzt? Mit Simon, dem hübschen Blonden, der ihr dauernd auf die Füße trat.
Till konnte tanzen wie kein Zweiter, und einen Moment lang wünschte sie sich, sie hätte damals nicht mit Simon getanzt, sondern mit diesem schmiereigen Pickelgesicht. Mit Simon an ihrer Seite waren alle andern Mädchen erblasst - aber auch nur, weil Simon so umwerfend hübsch war. Till hätte sie auf seine Weise umgehauen. Valentina dachte gar nicht daran, diesen Tanz abzubrechen. Ein neues Stück begann, ein flotter Walzer. Auch bei dieser Melodie gingen die beiden völlig auf, um schließlich eins zu werden. Die Nacht schritt zügig voran, mehr und mehr Paare verließen die Tanzfläche, um sich eine Erfrischung zu gönnen und ihre dampfenden Füße zu schonen. Doch Till und Valentina drehten eine Runde nach der anderen.
Irgendwann, die beiden waren bestimmt eine ganze Stunde alleine auf der Tanzfläche, hörte die Band auf zu spielen. Langsam kamen die beiden zum Stehen. Valentina war wie verzaubert, völlig sprachlos. Till war ziemlich außer Atem und seufzte: »Na, hast du dich in mich verliebt?«
Valentina lachte freundlich: »Hihi, Nein.«
»Gut«, erwiderte Till. »Wie sagte schon George Bernard Shaw? Tanzen ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens, legalisiert durch Musik.«
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte sie etwas verwirrt und griff nach einer kühlen Cola.
»Gar nichts, das war eine Frage - möchtest du noch eine letzte Runde mit mir drehen? Ohne Musik.«

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.12.2012

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