In diesem Buch finden sich keine kompletten Geschichten, sondern einzelne Szenen. Diese wurden von mehreren Autoren geschrieben - unter dem Motto "Stumme Begegnung". Vorgabe war, dass zwei Parteien/Personen sich begegnen und dabei zwischen ihnen kein Wort fallen darf. Außerdem muss die Szene eine Auflösung enthalten.
Im Buch enthalten:
1.) Eine andere Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2.) Mia und der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
3.) Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
4.) Das Band des Reiters . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
5.) Helen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
6.) Scherben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Eine andere Zeit
Autor: Dreipunkt
Gemächlichen Schrittes verlasse ich die kleine, von grünen Büschen und niedrigen Bäumen umgebene Einbuchtung am Wegesrand und verschließe die Erinnerungen an jene Zeit wieder tief in meinem Herzen. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf, ob mich jemand beobachtet hatte, und sehe tatsächlich einen alten Mann, der auf einer Bank gemütlich pafft und mir mit leichter Handbewegung winkt. Zögerlich grüße auch ich und schlage dann gesenkten Hauptes den Rückweg ein.
Der Alte weiß um meine Gefühle, da bin ich mir sicher; jede Woche sitzt er dort und wartet. Ließe ich meine Schüchternheit fallen und ginge auf ihn zu, so würde er mir wohl auch verraten, dass er selbst bei meinem ersten romantischen Treffen mit Nora auf dieser Bank gesessen hätte. Der Regen wäre ihm dabei genauso wenig ein Hindernis gewesen, einer interessanten Begegnung beizuwohnen, wie er uns beide nicht hatte davon abhalten können, eine volle Stunde lang ein wenig verkrampft dazustehen und uns, nur geschützt durch den lichten Bewuchs, innig zu umarmen.
Der rote Kies knirscht unter meinen Sandalen und hallt durch die abendliche Stille dieser grünen Oase am Rande der Stadt. Wie oft ich mit ihr diesem Pfad gefolgt bin, weiß ich nicht mehr zu sagen, allerdings nicht oft genug, um Spuren zu hinterlassen. Gäbe es den alten Mann nicht, wüsste wohl niemand um die zarten Bande, die hier einst wehten, und als ich der Einmündung auf den schnurgeraden Hauptweg folge, schaue ich lächelnd zu ihm zurück, der nun seine Aufmerksamkeit dem Sonnenuntergang widmet.
Ich folge seinem Blick zum nahen Himmelsgestirn und erfasse dabei undeutlich den Passanten, der mir entgegen läuft. Für eine Sekunde durchzuckt mich der Gedanke, einfach kehrt zu machen und mir einen anderen Weg zu suchen, um nicht einem fremden, womöglich fidelen Menschen entgegentreten zu müssen. Doch wie würde dies aussehen und welch Umweg müsste ich in Kauf nehmen! Ein langsames Vorbeigehen werde ich gewiss überstehen, zudem offenbart ein genauerer Blick keinen rüden Trunkenbold, sondern die weichen Formen einer Frau und ihr lockiges Haar. Die milde Entspannung, die sich daraufhin in meinem Körper ausbreitet, währt jedoch nur kurz, denn zu diesen Details gesellen sich weitere, die das mir entgegen kommende Weibchen trotz einiger Veränderungen im Aussehen eindeutig als jene Nora ausweisen, der ich noch vor Kurzem nachgesonnen habe.
Rechts von mir zieht eine Bank vorbei, auf der ich früher oft mit ihr gesessen und über dies und besonders das geredet habe. Ich könnte mich dieser einfach anvertrauen und so tun, als ob ich meine Verflossene nicht erkannt hätte, lässig den Kopf nach hinten über die Lehne baumeln lassen und die Wolken beobachten, bis sie vorbei gegangen wäre. Ein weiteres Mal würde ich damit dort sitzen und auf sie warten, wie damals, als ich hoffnungsvoll meinen Blick gen Horizont richtete, um ihre Silhouette allen Absagen zum Trotz doch noch zu erblicken. So viel Enttäuschung würde das Verweilen auf den morschen Planken wach rufen, dass ich meinen Füßen danke, mich mittlerweile an diesem Konstrukt vorbei getragen zu haben. Damit freilich rückt die Lösung meines Problems in weite Ferne, es selbst jedoch erschreckend nahe.
Einige Meter trennen uns noch, genug, um nicht ausmachen zu können, wohin sie ihre Augen wendet. Mich erkannt wird sie wohl haben, davon gehe ich aus, und wie mir wird sich ihr die Frage stellen, wie dieser Szene am besten zu entgehen ist. Ihre Nasenspitze ist nach vorne gerichtet, doch leicht seitlich über die Wegbegrenzung hinaus und gesenkt, als würde sie gedankenversunken die Gräser zählen, die kindshoch in voller Blüte stehen, und ihr Mund ist geschlossen, doch ob verkniffen oder lächelnd, das kann ich nicht sagen. Ich entschließe mich mit bangem Herzen, ihr direkt ins Gesicht zu blicken und auf eine Reaktion zu warten, vielleicht sogar einen kurzen Gruß oder einen Austausch von belanglosen Worten. So hübsch, wie sie mir nun erscheint, war sie früher nicht.
Der alte Mann sitzt währenddessen sicherlich in heller Freude auf seiner Bank und dreht unauffällig seinen Kopf zu uns, um keine noch so kleine Reaktion zu verpassen. Welch eine Sensation, wenn er morgen in der Skat-Runde von diesem Pärchen berichten könnte, das sich nun endlich wieder vertragen hätte, nach so langer Zeit. Vielleicht glaubt er wirklich an eine glückliche Fügung des Schicksals, doch nur, weil es Ereignisse gibt, die ihm nicht bekannt sind. Wie sollte er auch von den bitteren Briefen auf meinem Schreibtisch, den lauten Vorwürfen in ihrem Zimmer, dem Zwist und dem Zank an so manchen öffentlichen und geschützten Plätzen erfahren haben? Auch war er nicht dabei, als das Fass endgültig überlief und einer von uns in tiefster Nacht und vor Schmerz brüllend einem Nebenarm des mächtigen Flusses folgte und jene Umstände verfluchte, die ihn in diese Beziehung geführt hatten. Nein, er weiß so wenig, und daher hofft er auch, wir beide mögen uns, wo wir nun auf einer Höhe stehen, zueinander wenden und uns in die Arme fallen.
Wir tun ihm den Gefallen nicht. Als sie fast schon in Greifweite läuft und ich beinahe ihre Augenfarbe erkennen kann, von der ich mit Bedauern gestehen muss, sie nicht mehr zu wissen, hebt sie ihre Hand, vorgeblich zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht, und schreitet so abgeschirmt an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Völlig mechanisch gehe ich den Weg weiter und starre vor mich hin, drehe nicht den Kopf, werde nicht langsamer, und versuche, die kleinen Tränen in meinen Augenwinkeln und das aufkommende Schluchzen zu bezwingen. Meine Ohren sind indes gespitzt, blenden meine Laute aus und lauschen, wie sich nun ihre Schritte verändern. Wenn ich schon nicht weiß, was mir ihre Augen hätten sagen können, so will ich doch wissen, ob es sie an einen Ort zieht, der uns beiden einst etwas bedeutete, oder ob sie mit dieser Zeit abgeschlossen hat und wie ich dem Weg folgt, um sich der neuen Wirklichkeit widmen zu können. Über diese Gedanken verliere ich den Kampf gegen die Tränen und nass rinnen sie mir über die Wangen.
Meter um Meter laufe ich, obwohl alles in mir schreit, stehen zu bleiben, und leiser werden ihre zarten Schritte, knistern nur noch sanft zwischen zwitschernden Vögeln und raschelnden Blättern. Die Bank wird sie schon hinter sich gelassen haben, an der Weggabelung muss sie sich entscheiden, abzubiegen oder geradeaus zu gehen. Mit höchster Konzentration lausche ich, in welche Richtung sich der Schall verschieben wird, allerdings höre ich keinen ihrer Schritte mehr, die mir hätten Auskunft geben können. Verwirrt bleibe ich stehen. Ja, ganz sicher, auch sie bewegt sich nicht mehr, wartet so wie ich. Was würde wohl passieren, wenn …
Die Zeit und wohl auch der Atem des Alten bleiben für einige Augenblicke stehen, als wir uns zugleich umdrehen und einander in die Augen schauen, aus der Ferne, doch intensiv bis hinab zur Seele. Wie früher stehen wir da, nur entfernter, und halten Gedankenaustausch. So viel ist passiert, über das es sich zu reden lohnt, so viel, das uns verbindet und das uns trennt. Simultan huscht ein Lächeln über unsere feuchten Gesichter, das mehr enthält, als nur die Freude des Wiedersehens. Es besteht auch aus Trauer über das Vergangene, das nicht mehr zu ändern ist, und aus Angst vor der Zukunft, dieser ungewissen Maid. Wir beide wissen, uns richtig entschieden zu haben, und dieser Blick wünscht dem anderen alles Gute. Wir wollen nicht im Groll auseinander gehen, doch auseinander gehen, das müssen wir.
Ich drehe mich um und folge weiter dem Weg, dabei summe ich ein ruhiges Liedchen, das mich von der Außenwelt abschneidet und ein letztes Mal den Gedanken an das Vergangene Raum lässt. Soll der Alte doch sehen, wohin es Nora zieht, mir ist allein wichtig, sie dort zu wissen, wo ich sie nie mehr verlieren werde: in meinem Herzen.
Mia und der Tod
Autor: Rachepuppe
Von der Straße kamen Geräusche. Zuerst ein brummender Klang, der lauter wurde und als er am lautesten war, folgten Knallgeräusche. Danach wurde das Brummen wieder leiser. Mia kannte diese Geräusche, zumindest mehr oder weniger. Das Brummen war ihr vertraut, denn sie hörte es immer, wenn sie in das große Ding hineingesetzt und festgemacht wurde. Wenn das Geräusch aufhört, ist sie dann bei der Oma oder bei den vielen anderen Kindern. Das Knallen kannte sie von Papas Rassel, nur war es diesmal lauter und viel langsamer. Manchmal sah er aber auch im Fernseher Pferde und wenn diese anfingen zu rennen, kam ein ähnlicher Knall.
Es deutete also alles darauf hin, dass Papa zurück war.
So schnell sie konnte, krabbelte die kleine Mia zu ihrem Ball. Er war mindestens halb so groß, wie sie selbst. Dann richtete sie sich auf und rannte mit ihren kurzen Beinchen zum Gartentor.
Der Papa hatte es schon aufgemacht, kam aber noch nicht herein. Er hatte sich einfach davor hingesetzt und schief angelehnt, den einen Arm locker über die runden, niedrigen Zaunspitzen.
Als Mia kurz vor ihm ankam, warf sie ihm euphorisch den großen Ball entgegen, um ihn zum Spielen aufzufordern. Nachdem der Ball zweimal vom Boden abprallte, traf er Papas Bein und rollte, etwas vom Kurs abgekommen, weiter.
Mia lief dem Ball nach und probierte das Spiel erneut. Diesmal traf der Ball die Brust. Mia wunderte sich, denn sonst fing Papa immer den Ball, um ihn zurückzuwerfen. Das kleine Mädchen aber blieb hartnäckig. Sonst spielten sie doch auch immer miteinander, warum also diesmal nicht? Mia nahm wieder den Ball und warf ihn, so fest sie konnte. Jetzt hatte sie es geschafft, der Kopftreffer war der Beste, da lachte dann immer Papa. Dieses mal war aber vieles anders. Er lächelte noch nicht einmal, sondern rutschte nur an dem Gartentor hinab, bis er sich ganz hingelegt hatte.
Jetzt wollte er bestimmt dieses lustige Spiel spielen, wo sie auf ihm drauf sitzt. Dabei sang er immer ein fröhliches Lied und ließ sie auf- und abwippen. Mia machte sich also daran, auf ihn hochzuklettern. Doch oben angekommen, passierte nichts. Weder hörte sie das Lied, noch wurde sie durchgeschüttelt.
Das war aber gar nicht so schlimm, denn sie hatte auf einmal ganz bunte Hände bekommen. Eigentlich war es nur eine Farbe, doch war sie sehr schön und warm. Sie kletterte also wieder von Papa herab und setzte sich auf den Boden. Auf den weißen Platten sah das Rot bezaubernd aus. Mia malte also ein Bild von dem Ball und Papa. Nur war die Farbe recht schnell von den Händen. Aber kein Problem, denn bei Papa gab es noch jede Menge davon.
Nachdem das Bild fertig war, wollte sie nun auch den Papa bemalen. Das war gar nicht so einfach, denn da war ja schon fast überall rot. Im Gesicht fand Mia jedoch einen geeigneten Platz, für einen Handabdruck. Jetzt freute sie sich auch und klatschte wild in die Hände.
Das kleine Mädchen ließ ihren Blick nach einem neuen Spielzeug in dem Garten schweifen und leckte schon mal ihre Finger sauber. Plötzlich öffnete sich die Haustür und die Mama kam heraus. Mia wollte gerade zu ihr laufen, als diese ganz laut zu schreien begann. Erschrocken fiel das kleine Mädchen auf den Po. Mama rannte an ihr vorbei zu Papa und sackte dort laut schluchzend zusammen. Überrascht von ihrem Sturz und dem lauten Klagen der Mama, begann nun auch Mia zu weinen.
„Na-ha-hein“, schrie immer und immer wieder die Mama.
Dann kam die nette Nachbarin geeilt und blieb vor Mama und Papa stehen. Sie hielt sich den Mund zu und starrte mit großen Augen auf die Beiden am Boden. Als sie den Blick lösen konnte, sah sie das kleine Mädchen da sitzen, die sich noch immer nicht beruhigt hatte, da sich niemand um sie kümmerte. Da nahm die Nachbarin Mia auf den Arm und ging mit ihr ins Haus.
Erlösung
Autor: Sangre Myror
Haben wir noch Medikamente im Haus? Ach, ich bin ohnehin schon müde genug. Das schaffe ich auch ohne.
Aus der Garage hatte ich Luises rot-grünes Springseil hochgeholt. Nun stehe ich damit in Marcs Arbeitszimmer, denn dort hängt ein Haken an der Decke, der vielleicht einmal für einen Kronleuchter gedacht war.
Ich nehme einen der Stühle aus dem Esszimmer, trete hinauf und lege das Seil um den Haken, bis es absolut sicher ist. Der Haken würde einem menschlichem Gewicht standhalten.
Im Internet habe ich nachgelesen, wie man diese Schlingen macht. Schrecklich, dass so etwas überhaupt im Netz steht. Vielleicht würden einige dann sagen: Okay. Dann lasse ich das.
Und lieber von einer Brücke springen.
Dann hätten die Gaffer wenigstens auch etwas davon.
Apropos. Ich stehe bereits auf dem Stuhl und halte die Schlinge in meiner blassen Hand, da fällt mein Blick aus dem Fenster. Vielleicht sollte ich die Gardinen zumachen.
Noch bevor ich herabsteigen kann, erstarre ich. Mein Blick trifft jenen des blonden Nachbarmädchens. Niedliche Zöpfe, Sommersprossen, und ein ganz erstaunter Gesichtsausdruck.
Sie hat mich immer so sehr an Luise erinnert.
Heiße Tränen steigen in meine Augen und ich zittere noch mehr, als ich es ohnehin schon tue.
Auf den Tag genau vor einem Jahr ist Luise an Leukämie gestorben. Meine süße kleine Tochter. Blass, hilflos. Voll mit Schläuchen, der sich nähernde ewige Schlaf kam in Begleitung des elenden Piepsens. Marc und ich saßen schon seit Stunden an ihrem Bett. Sie war gerade erst sechs Jahre alt, hatte mehr als ein ganzes Leben vor sich gehabt. Ganz plötzlich hatte sich unser Leben auf den Kopf gestellt und verharrte auch nach Luises Erlösung in dieser Position. Marc war verschwunden, seit das Piepsen nicht mehr von Stille unterbrochen wurde. Er war aufgestanden und gegangen. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen.
Ich hätte nicht gedacht, dass Schmerz so tief sein kann. Dass er einen davon abhält, etwas zu sich zu nehmen, zu schlafen, das Haus zu verlassen. Ständig das einzigartige Lachen von Luise im Ohr, ständig das tiefe Brummen von Marc, das sagt: „Wir schaffen das. Ich bin doch hier, Vicky.“
Ist er nicht. Er ist seit einem Jahr nicht mehr hier.
In diesem Jahr ist eine andere Familie gegenüber eingezogen. Sie ist wie ein Schlag ins Gesicht für mich.
Ihr Tochter, Carina, gleicht Luise oft aufs Haar; wie sie lächelt, ihr Haar, wie ihre Mutter sie einkleidet. Carina redet allerdings viel mehr als Luise. Carina redet immer, pausenlos – selbst, wenn sie alleine ist.
Doch jetzt nicht. Jetzt starrt sie fassungslos. Als ob sie verstehen würde, was ich mit dem Seil vorhabe.
Schon halte ich den schweren, tiefroten Stoff der Gardinen in den Händen und will Carina das Ganze ersparen. Doch ich halte inne, denn ihr Blick haftet weiterhin auf meinem.
Dann schüttelt sie ganz leicht den Kopf. Meine Finger graben sich in den Stoff. Meine Muskeln zucken, doch ich stehe nur da und starre das Mädchen an. Luise. Carina.
Um mich herum dreht es sich, ich spüre, wie sich meine Finger vom Stoff lösen; dass meine Knie nachgeben.
Eine Frau beugt sich über mich und sieht sehr besorgt aus. Sie bringt kein Wort hervor, als hätte sie vor Schreck ihre Zunge verschluckt. Ich setze mich vorsichtig auf und frage mich, was gerade passiert ist. Luises Springseil hängt noch immer vom Haken herab, die Frau ist mit ihrem Kind hier – Carina.
Doch Carina hat nun braunes Haar und das typische, runde Gesicht eines Kindes mit Downsyndrom. Sie lächelt auf eine eigenartige Weise. Stimmt. Carina ist nicht wie Luise. Sie ist nicht so wie die meisten anderen Kinder.
Ich sehe hinauf in das Gesicht von Carinas Mutter und beginne leise zu weinen, sei es aus Schmerz oder einem Anflug von Erlösung.
Das Band des Reiters
Autor: Kritix
Das war der Augenblick, auf den Laithan gewartet hatte. So lange schon. Seit fast zwei Jahren.
„Jesarth, geh!“
Sein Freund hielt in der Bewegung inne, die Würfel vom Boden einzusammeln. „Was ist?“, fragte er irritiert und folgte Laithans Blick hinüber zu der mit Stroh ausgelegten Kiste, in der blauschwarz das Drachenei im fahlen Licht schimmerte.
„Es ist soweit, geh!“, drängte Laithan und rückte ein Stück näher an die Kiste heran, ohne den Schneidersitz zu lösen, in dem er auf dem Boden saß.
Jesarth ließ die hölzernen Würfel auf den steinharten Lehmboden fallen. „Hörst du?“ Er deutete auf die klackernden Würfel. „Wahrscheinlich hast du das gehört.“
„Nein, habe ich nicht! Er schlägt gegen die Schale, ich bin sicher!“ Laithan streckte eine Hand aus, um sie vorsichtig auf das Ei zu legen. Ganz schwach spürte er Vibrationen, mit denen die Schale erzitterte. Dann plötzlich knackte es unter seinem Handballen.
„Ach du …“ Jesarth sprang auf. „Ich … Wenn du mir nicht alles haarklein erzählst, werde ich dich eigenhändig häuten!“ Mit dieser Drohung verschwand Jesarth aus der kleinen Hütte und ließ Laithan allein zurück.
Wie oft in den letzten Wochen hatte er hier auf dem Boden gesessen in dem festen Glauben, es wäre endlich soweit? Wie oft hatte er nicht gewagt, das Haus zu verlassen, in der Angst, der Drache säße geschlüpft in seiner Kiste, wenn er wiederkam? Nur heute nicht. Heute hatte Jesarth ihn besucht mit der Begründung, Laithan müsse endlich wieder einmal auf andere Gedanken kommen.
Dass sein bester Freund nun, da es wirklich geschah, nicht bleiben konnte, bedauerte Laithan aus tiefstem Herzen. Er wusste genau, wie neugierig Jesarth auf das Ereignis war. Doch es war wichtig, dass der Jungdrache ausschließlich seinen künftigen Reiter sah, wenn er schlüpfte.
Laithans Finger zitterten auf der harten Schale. Und als er eine weitere, leichte Erschütterung spürte und es erneut knackte, nahm er die Hand lieber weg. Er rückte ganz nah heran und sah zu. Da war schon ein gezackter Riss in der dunklen Schale. Und auf der langen Seite des Eis zeigte sich ein kreisrundes Loch, kaum größer als ein Stecknadelkopf. Etwas dünnes, spitzes lugte daraus hervor. Winzig. Es bewegte sich ganz leicht – kam ein wenig hervor, zog sich wieder ins Innere des Eis zurück.
Die Schale um das Loch herum war ziemlich dick. Es handelte sich nicht um ein Ei wie das eines Huhns. Davon abgesehen, dass es etwa so groß wie ein Kindskopf war, hatte es eine ganz andere Beschaffenheit – mit einer rauen, unebenen Schale, als hätte ein Bildhauer es aus einem weichen Stein geformt. Und nun hatte das kleine Lebewesen im Inneren eine schlecht geeignete Stelle zum Knacken der Schale erwischt.
Laithan hatte das Bedürfnis zu helfen. Er wollte seine Finger an das Loch legen und sachte ein wenig drücken, damit die Schale weiter aufbrach. Aber er musste sich beherrschen. Das Befreien aus seiner Schale war die erste Aufgabe des kleinen Drachen.
Ob er wohl ahnte, welche Zukunft auf ihn wartete, wenn er aus seinem Ei geschlüpft war? Wenn Laithan ehrlich war, ahnte auch er es nicht wirklich. Er konnte nur vermuten und sich im Geiste Bilder malen. Viel hatte man ihm erzählt, wie das Leben eines Drachenreiters im Dienste des Königs aussehen würde. Aber wirklich vorstellen konnte er es sich kaum.
Plötzlich stieß die kleine Spitze stärker hervor, veränderte dann den Winkel, mit dem sie aus dem Loch schaute. Und ließ durch die so entstehende Hebelwirkung die Schale weiter knacken. War das Instinkt oder Glück?,
fragte sich Laithan. Oder gar Klugheit?
Aus dem Rand des Loches brach ein weiteres Stück heraus. Die Spitze verschwand nach drinnen und Laithan beugte sich weiter vor, um genauer hinzuschauen. Er sah eine schnelle Bewegung auf der anderen Seite des Loches. Dann Reglosigkeit.
Erneut streckte Laithan die Hand aus, berührte vorsichtig die Schale neben dem Loch – stupste dagegen und horchte, ob sich etwas tat. Und mit einem Mal brach direkt unter seinem Finger ein kleiner Reptilienfuß aus dem Kalk. Vier Zehen krümmten sich feucht glänzend an der ungewohnten Luft. An den Spitzen saßen scharfe Krallen, von denen eine die Schale aufgebrochen hatte.
Jetzt wackelte das ganze Ei, während der einzelne Fuß schon an der Luft war und ergebnislos nach Boden suchte. Fast mit Gewalt musste Laithan den Impuls unterdrücken, das Ei zu greifen und zu drehen, so dass der Fuß das Stroh in der Kiste berühren konnte. Fasziniert betrachtete er die zarten, vielfältig beweglichen Gliedmaßen. Er hatte schon einmal einen ausgewachsenen Drachen gesehen, noch niemals einen jungen. Es war unglaublich, wie winzig dieser Fuß war – obwohl die Zehen schon etwa so lang waren wie Laithans Finger. Und die spitzen Krallen waren bestimmt messerscharf.
Ein neuerliches Knacken deutete an, dass sich das kleine Kerlchen weiter mühte. Klare Flüssigkeit lief aus dem Loch in der Schale ins Stroh, je mehr der kleine Drachen strampelte, um den noch viel zu kleinen Ausgang zu weiten.
Noch mehr Stücke brachen am Rand des Loches weg. Und nun kamen weitere kleine Krallen zum Vorschein – die des zweiten Fußes, der sich ins Freie kämpfte. Laithan konnte regelrecht die Muskeln unter der dünnen, jungen Haut arbeiten sehen – wie der kleine Kerl schuftete, um endlich sein enges Gefängnis zu verlassen. Gleich darauf hatte er es geschafft und auch den zweiten Fuß durch das Loch gezwängt, welches immer größer wurde und nun immer leichter und in größeren Stücken an den Rändern ausbrach.
Hatte man Laithan nicht erklärt, dass Drachen – ähnlich Vögeln –, mit dem Kopf voran durch die Eierschale brachen? Dieser Drache hier schien das nicht zu wissen. Der streckte nun die Füße strampelnd in die Luft und saß mit dem Rest seines Körpers noch in seiner Schale fest. Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht des zukünftigen Reiters. Er versuchte sich vorzustellen, dass diese kleinen Füße eines Tages zu einem gewaltigen Drachen gehören würden. Doch jetzt, da sie zart und hilflos in die Luft grabschten, wirkten sie viel eher tollpatschig als furchteinflößend.
Laithan konnte nicht widerstehen und strich mit der Fingerspitze über eine der dünnen Zehen. Augenblicklich erstarrten die beiden Füße. Erschrocken zog Laithan seine Hand weg. Die Füße blieben stocksteif – wie zu Eis gefroren. Mit starrem Blick sah Laithan weiter hin. Minuten vergingen. Nichts rührte sich. Er ballte die Hände zu Fäusten. Diese eine, winzige Berührung konnte doch nicht … Was sollte eine solche Berührung dem kleinen Drachen schon anhaben?
Angst ergriff von ihm Besitz, als sich weiterhin nichts rührte, die zarten Füßchen erstarrt blieben. Das hatte man ihm nicht gesagt! Dass man den Drachen nicht berühren durfte. Und weshalb sollte man auch? Ihm fiel kein plausibler Grund dafür ein.
Ein heftiges Knacken erklang plötzlich und die Oberseite des Eis bekam einen kräftigen Riss. Nur ein Zwinkern später brach die Schale und zwei kleine Nüstern schoben sich durch den Spalt – drückten ihn auseinander und brachen das Ei schließlich in zwei Hälften.
Laithan hielt den Atem an und starrte auf das kleine Ding hinunter, das da nun in seiner Kiste saß, die Schale links und rechts von sich liegend. Es saß da mit hängendem Kopf, atmete schwer und schnaufte dabei wie ein alter Mann nach schwerer Arbeit – nur viel heller.
Es war ein männlicher Drache. Das erkannte Laithan an den drei senkrechten Stacheln im Nacken. Die Weibchen hatten dort keine. Vorsichtig, um den Kleinen nicht zu erschrecken, beugte Laithan sich vor, um jedes noch so winzige Detail sehen zu können. Der Drache war zwar klein, aber dennoch so groß, dass Laithan sich ernstlich fragte, wie er in das Ei gepasst hatte. Hätte er nicht selbst eben noch gesehen, wie er in der Schale gesteckt hatte, hätte er jetzt an einen Zaubertrick geglaubt.
Er war schwarz – wie es die Züchter vorhergesehen hatten. Noch glänzte der kleine Körper feucht. Ein beißender, leicht schwefliger Geruch stieg von ihm auf. Aus dem langen Maul hing vorn zartrosa die Spitze einer kleinen Zunge heraus. Und die Augen waren geschlossen. Laithan konnte erahnen, dass es – im Vergleich zum Rest des schmalen Kopfes – riesige Augen sein würden, wenn der Drache die Lider hob. Scheinbar waren sie noch verklebt.
Das Einzige, was sich bewegte, war der Rücken des kleinen Wesens, weil es so schwer atmete. Alles andere war völlig ruhig – fast so, als wäre der Kleine nach der Anstrengung, sich aus dem Ei zu befreien, sofort im Sitzen eingeschlafen.
Ob er ihn berühren durfte? Nach der Erstarrung vorhin wagte Laithan es kaum. Vielleicht sollte er lieber warten, bis der Drache die Augen öffnete und ihn zumindest einmal angesehen hatte.
Laithan behielt die Hände bei sich, obwohl ihn alles danach drängte, die schuppige Haut zu befühlen und sich sofort gänzlich mit dem kleinen Tier vertraut zu machen. Immerhin würde dieser Drache ihn ab sofort bis ans Ende seines Lebens begleiten. Wenn alles so verlief wie geplant. Wenn der Drache Laithan jemals auf sich reiten ließ.
Doch genau dafür war er jetzt hier. Er hatte sich zwei ganze Jahre darauf vorbereitet und sich das ganze letzte Jahr um dieses Ei gekümmert, es gehütet wie seinen Augapfel. Und er würde sich mindestens die nächsten zwei Jahre um diesen kleinen Drachen kümmern – bis er groß genug war, um das Körpergewicht eines Menschen tragen zu können. Und groß genug, um selbst Gefahren einschätzen und aus dem Weg gehen zu können. Dieser Drache war sein Lebensinhalt. Wie ein Kind, für das er die Verantwortung übernahm, obwohl es nicht sein eigenes war.
Doch das kleine Wesen war immernoch ein Drache, kein Mensch. Und so viel Verantwortungsbewusstsein Laithan auch zeigen mochte, … Wenn das Tier ihn nicht annahm, nahm es ihn nicht an. Also durfte er nicht gleich alles verderben, indem er es möglicherweise zu früh berührte.
Atrynn
würde er heißen. Jetzt, da Laithan wusste, dass es ein Männchen war, stand auch der Name fest. Atrynn.
Ein starker Name, angelehnt an den eines alten, kalbryischen Volkshelden. Es existierten noch drei weitere, jüngere Eier, von denen Laithan nicht wusste, wo sie waren und wer die Drachenreiter sein würden. Er wusste nur, dass er der Erste der Ersten war. Der Erste einer langen Reihe Drachenreiter – im Auftrag des Königs, zum Schutze der Hauptstadt.
Plötzlich zappelte der kleine Drache, das Stroh unter ihm raschelte und er fiel um. Einfach auf die Seite. Ungeschickt tastete er um sich, fand die Eierschale und stieß mit der Schnauze dagegen. Mehrmals. Und dann noch mit den Vorderfüßen. Er kletterte auf die halbe Schale und fing an, darauf herum zu stampfen, bis sie in hunderte, kleine Teile zerbrach und zwischen dem Stroh zerbröselte.
Das alles machte er blind. Die Augen waren noch immer geschlossen. Und als er damit fertig war, die Schale klein zu stampfen, setzte er sich wieder ins Stroh – auf seinen Hintern, die Beinchen nach vorn, den Schwanz nach hinten. Nun saß er wieder genauso wie vorhin – mit gesenktem Kopf und angestrengt schwer atmend.
Doch diesmal saß er nicht so lange. Kaum war er zur Ruhe gekommen, beobachtete Laithan, wie sich die Nüstern blähten und der Kleine wieder den Kopf hob – diesmal direkt in Laithans Richtung. Der Drache schnupperte in die Luft. Und nun wagte Laithan, ihm eine Hand hin zu halten.
Mit den noch immer verklebten Augen kam der kleine Drachenkopf näher … und stieß mit der Nase gegen Laithans Hand. Hatte er doch Kälte wie bei Hunden oder Katzen erwartet, so war Laithan erstaunt, dass Atrynns Nase ganz warm war. Der Drache schnaubte – oder viel eher schniefte er wie ein niesender Igel. Dann kam er wieder näher und schnupperte weiter.
Jetzt erlaubte es sich Laithan, mutiger zu sein und mit der anderen Hand vorzurücken – an dem vorgereckten Drachenmaul vorbei zum Hinterkopf. Er glaubte, dass Atrynn das bemerkte, obwohl er noch nichts sah. Aber der kleine Drache hielt mit dem Schnuppern inne und harrte aus… bis Laithan die Spitzen der Stacheln im Nacken berührte. Da gab er ein Geräusch von sich, das stark nach einem Seufzen klang.
Laithan war vollkommen fasziniert, wie weich die Stacheln waren. Er stach sich nicht an ihnen. Sie waren nachgiebig und biegsam. Mit Sicherheit würden sie noch hart werden, je älter Atrynn wurde. Die Feuchtigkeit vom Inneren des Eis war schon fast verschwunden. Nur ein leicht klebriger Film lag noch auf der schuppigen, aber vollkommen weichen Haut des Drachen. Auch der schweflige Geruch verschwand zunehmend.
Als Atrynn zischte, zog Laithan die Hand zurück. Aber nur die, mit der er den Drachen im Nacken berührt hatte. Die andere ließ er dem Kleinen, damit er sich an Laithans Geruch gewöhnen konnte.
Atrynn hob eine seiner Pranken und legte sie auf Laithans Handgelenk. Dann öffnete sich das Maul und der junge Drache biss Laithan in den Arm. Es kitzelte nur und Laithan musste lachen. Der Kleine hing an seinem Arm und hatte zwar spitze Zähne, aber bei Weitem nicht genug Kraft, Laithan ernsthaft weh zu tun. Als Laithan die Zunge des Drachen an seiner Haut lecken spürte, begriff er.
Schnell drehte er sich um, ohne dem Drachen seinen Arm weg zu nehmen, und streckte sich nach der bauchigen Wasserkanne, die er in den letzten Tagen immer wieder frisch gefüllt hatte. Er warf das dicke, mehrfach geknotete Stoffbündel ins Wasser, ließ es sich vollsaugen und angelte es wieder heraus. Dann hielt er es Atrynn vor die Nase und stupste ihn mit dem triefnassen Ding ein wenig an.
Der Drache begriff sofort und schnappte danach. Laithan achtete darauf, dass das Bündel nicht auf den Boden fiel, während Atrynn den Stoff ins Maul nahm und Stück für Stück die Flüssigkeit heraus saugte. Dem Drachen fehlte die Mutter und es war Laithans Aufgabe, diese zu ersetzen. Er war vorbereitet so gut es ging, auch wenn er Angst hatte zu versagen – jetzt plötzlich, nachdem Atrynn geschlüpft war. Davor noch war er vollkommen zuversichtlich gewesen. Jetzt fühlte sich alles mit einem Mal viel schwieriger an.
Der Bursche zog und zupfte an dem Bündel, während er durstig daran saugte. Und als er genug getrunken hatte, hoben sich plötzlich die Lider über den kugelrunden Augen und Laithan blickte zum allerersten Mal in diese tiefschwarzen Seen, die schimmerten, wie blankpoliertes Glas. Atrynn sah ihn an, Laithan sah Atrynn an … und was in diesem einen, ersten Augenblick zwischen ihnen gebunden wurde, das konnte ihnen nichts und niemand mehr nehmen. Alle Angst des Versagens wich wieder aus Laithans Herzen und er war so sicher wie nie zuvor, genau der Richtige für diese Aufgabe zu sein. Eines Tages würde er auf diesem Drachen reiten. Es würde ein langer Weg sein bis dorthin. Atrynn musste wachsen und gedeihen. Und er musste Vertrauen zu seinem Reiter aufbauen, genau wie der Reiter Vertrauen zu seinem Drachen aufbauen musste.
Dieser eine Augenblick, in dem sie sich nun in die Augen sahen, bewirkte viel. Aber nicht alles. Sie mussten zueinander finden, eine Einheit werden. Und das konnten sie nur, indem sie sich in den anderen einfühlten. Sie konnten nicht miteinander sprechen. Nur fühlen. Und sich gegenseitig kennen.
Laithan war der erste Drachenreiter Kalbryas. Und Atrynn der erste königliche Drache. Und genau in diesem Augenblick begann ihre gemeinsame Zukunft.
Helen
Autor: Coffey
»Euer Stadtherr, Folkmar von Adaldag. Kniet nieder. Sofort!«
Man hatte das einheitliche Aufschlagen der Pferdehufe schon von weitem gehört, aber für Helen war es eine Art von Rebellion erst dann zu gehorchen, wenn es direkt von ihr verlangt wurde. Nicht wie die restlichen Bewohner, die sich bei der ersten Staubwolke auf den Boden warfen und unterwürfig ihr Kinn an die Brust drückten.
Bedächtig sank sie auf die Knie, zwischen Kohl und Zwiebeln, Rüben und Pastinaken. Die Hände legte sie auf ihrem Baumwollkleid ab und neigte langsam ihren Kopf.
»Sammelt die Abgaben ein, los!«
Adaldags herrische Stimme klang durch Hooten Village wie ein unliebsames Kraut, das in ihrem Gemüsefeld wucherte, während er um die Häuser ritt und jede gute Veränderung mit einem missbilligenden Blick bedachte. Helen riskierte einen Blick auf ihren Stadtherrn, der sich eigentlich um seine Bewohner kümmern müsste, anstatt sie auszuquetschen wie dicke Kohlmaden. Er wohnte erst seit ein paar Wintern in Hooten Hall, aber seitdem war es stetig bergab gegangen. Mit den Menschen, nicht mit ihm. Wie viel von den Steuern bei seinem Landesherrn ankamen, wusste niemand. Adaldag brachte jede Woche eine neue Steuer, einen hohen Zoll und Einschränkungen in der Marktfreiheit aus der Dugrain Burg mit nach Hooten. Helen hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt sich eine Arbeit in Dugrain Town zu suchen, aber mit ihrem alten Kleid, ihren schmutzigem Gesicht und ihrem Drang zur Freiheit wäre sie dort wohl schneller in der Folterkammer gelandet, als jemand in ihre Hütte hätte einziehen können.
Der Stadtherr war nicht unbedingt hässlich, eher schmal und abgezehrt. Genau wie Lubrands Kuh, die letzten Winter verendet war. Lubrand war einer der ältesten Bewohner in Hooten Village und der Meinung, das es ihnen noch nie so schlecht gegangen war wie jetzt. Helen suchte nach einem passenden Wort für Adaldag. Ein Wort, das alles an ihm mit einschloss.
Aber schwarz war das Einzige, mit dem man ihn beschreiben konnte. Glänzend schwarze Haare, schwarze Augen, die Kleidung aus mattschwarzem Leder. Sogar sein Pferd war schwarz.
Er war eine grauenvolle Erscheinung und tröstete die vielen hungernden Familien in keiner Weise.
»Wo ist dein Schwein, Alter! Wir haben es gehört!«
Helen wandte den Kopf und ließ ihr braunes Haar so fallen, dass die Wachen nicht sahen, wie sie Lubrands Hütte beobachtete.
»Ich habe keins. Wirklich. Ich habe kein Geld mehr und kein Schwein.«
Lubrand hatte sich verzweifelt an den Wachmann geklammert ,sprang nun auf, stürmte zu seinem Stadtherrn und warf sich neben dem schnaubenden Pferd auf die Knie.
Adaldag hatte während dem Ritt durch das Dorf seine Überlegenheit präsentiert und darauf geachtet, nicht mit dem Abschaum in Kontakt zu kommen. Nun warf er Lubrand einen angewiderten Blick zu. Er beachtete ihn genauso, wie die Fliegen auf seinem Pferd. Die Menschen in Hooten Village waren für ihn nur ein Ausbund an verachtenswerten Kreaturen, die seinen Aufstieg in Richtung Burg aufhalten wollten. Aber Adaldag ließ sich nicht aufhalten, schon gar nicht von so einem stinkenden Lumpenbündel.
»Durchsucht die Hütte!«
Die Wachen hatten den leeren Stall schon verwüstet und rissen nun die Tür aus ihren morschen Angeln. Das ganze Dorf schaute mittlerweile zu, wie dem alten Lubrand seine einzige Habe und genommen wurde.
Helen bohrte sich die Fingernägel in ihre Hände, damit sie nicht vor Wut aufsprang. Sie zitterte vor Empörung. Aber das Einschreiten könnte ihr Ende bedeuten.
»My Lord, bitte. Nicht mein Schwein.«
Lubrand griff in seiner Verzweiflung an das Pferd des Stadtherrn und versuchte seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Du Abschaum wagst es, Eure Lordschaft anzufassen?«
Die Wache holte aus und schlug dem Mann mitten ins Gesicht. Lubrand schlug hart auf dem steinigen Boden auf und blieb reglos liegen. Ein kleiner, roter Rinnsaal kämpfte sich durch das pockennarbige Gesicht.
»Und nächste Woche holen wir die Zusatzsteuer ab, Alter!«
Die Wachmänner lachten und traten im Vorbeilaufen mit ihren Stiefeln gegen Lubrand. Mehr als ein Stöhnen hörte man nicht. Niemand traute sich, dem alten Mann zu helfen. Niemand außer Helen.
»Das könnt ihr nicht machen, ihr Bastarde!«
Sie schäumte vor Wut, sprang auf und sprach, ohne zu denken. Diese Zusatzsteuer war zu hoch, selbst Helen geriet in Schwierigkeiten. Sie durften keinen Handel treiben, mussten alles Abgeben aber trotz allem viel zu hohe Steuern zahlen. Wenn Adaldag alle einkerkern ließ, die nicht zahlen konnten, würde Hooten Village bald vollkommen ausgestorben sein.
»Sei still, Helen!«
Redhard, der Böttcher, durchbohrte sie mit Blicken, aber Helen ließ sich von einem Mann nichts sagen! Er hoffte schon seit vielen Wintern, dass Helen seinem Werben nachgab und sich mit ihm verheiratete. Allerdings wusste Helen wie Redhard bei Frauen für Gehorsam sorgte, er stand dem Folterknecht in der Burg in nichts nach.
»Wache, wer wagt es hier zu sprechen!«
Adaldag sah Helen direkt an und sie erwiderte unerschrocken den Blick des Stadtherrn aus ihren braunen Augen. Sie anzusprechen lag unter seiner Würde. Er war ein abergläubischer Mann und vertrat die Meinung, dass Frauen aus den untersten Schichten nur allein mit ihren Worten Zauber auf Männer legen konnten.
»Das Weib, My Lord!«
Zwei Wachmänner kamen auf Helen zu. Der erste griff den Weidenkorb, voll mit Gemüse von ihrem Feld, als Ersatz für Münzen. Noch akzeptierten sie Nahrungsmittel als Steuern für die Markteinfuhr.
»Auf die Knie, Frau!« Helen streckte ihr Kinn noch ein Stück in die Höhe, straffte den Rücken und hielt den Blickkontakt zu Adaldag aufrecht.
»Ich sagte, auf die KNIE!« Sie sah es nicht kommen. Plötzlich kniete sie auf dem steinigen Boden und hielt sich die brennende Wange. Die Wachen machten sich, nach einer entsprechenden Geste des Stadtherrn, über ihr Haus her.
»Nehmt eure dreckigen Finger weg!«
Die winzige Hütte war Helens einziger Besitz. Ohne diese wurde sie zu einer Besitzlosen und damit gehängt. Helen schlug auf die Wachen ein, aber genauso hätte sie mit ihrem Gemüse schimpfen können, weil es zu langsam wuchs.
Adaldag war von seinem Pferd gestiegen, hatte in aller Ruhe die ledernen Handschuhe von den Fingern gezogen und stand nun direkt hinter Helen. Er hasste dieses einfache Gesindel, dieses stinkende Pack, aber als Stadtherr hatte man Macht und mit Macht besaß man Geld.
In Hooten Village hatte er die Steuern zum dritten Mal angehoben und nun fingen die Bewohner an, aufmüpfig zu werden.
Voller Ekel griff er in das strähnige Haar, riss den Kopf von Helen nach hinten und drückte ihr seinen Dolch an den Hals.
»Brennt die Hütte nieder. Sofort!«
Hier musste ein Exempel statuiert werden und Adaldag war es leid, statt Münzen das faulige Gemüse vorgesetzt zu bekommen.
Helen spürte die kalte Klinge an ihrer Haut, mit beiden Händen versuchte sie, den Arm von Adaldag wegzudrücken. Aber trotz seines schmächtigen Aussehens hatte er mehr Kraft, als sie ihm zugetraut hätte.
Hilflos sah sie zu, wie die Wachen ihre Fackeln anzündeten und diese mit hämisch lachenden Gesichtern an das trockene Strohdach hielten. Die Flammen fühlten sich wohl und griffen beherzt von einem Strohbündel zum Nächsten. Binnen weniger Augenblicke stand die gesamte Hütte in Brand. Helens Dach über dem Kopf, ihre eigene, kleine Burg. Aufgebaut vor Generationen, erneuert von vielen Händen, zerstört von einem Monster.
Im gesamten Dorf hörte man nur das knacken und knistern des Feuers. Helen verzweifelte. Aber sie war keine Frau, die sich einfach hängen lassen würde. Sie trat Adaldag mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, auf den Fuß. Damit hatte der Stadthalter nicht gerechnet und vor Erstaunen ließ er sie los. Helen nutzte diesen kleinen Moment der Unachtsamkeit und rannte weg. Weg von ihrem alten Leben, denn in Hooten konnte sie sich nicht wieder sehen lassen.
Tränen der Ungewissheit strömten aus ihren Augen und verursachten saubere Streifen auf ihrem schmuddeligen Gesicht. Am Dorfrand hielt sie inne, drehte sich um und sah, dass ihre Hütte nur noch ein glühender, rauchender Holzrest war.
Ihr Blick traf auf die kalten Augen von Adaldag und diesmal beugte sie sich nicht vor ihm.
Es verlangte keiner von ihr und Helen schwor sich, niemals wieder vor irgendeinem Mann zu knien!
Scherben
Autor: Soleil
Erschrocken atmete sie ein, als sich seine dunklen Augen auf sie richteten. Augen, die sonst voller Wärme und Güte strahlten, nun jedoch leblos und kalt waren. Die feinen Härchen in ihrem Nacken und auf ihren Armen richteten sich auf. So wie er sie anstarrte, wusste sie, dass sie die Nächste sein würde.
Schon seit langem hatte sie diesen Augenblick gefürchtet. Der Augenblick, in dem sich alles verändern würde, in dem sie dem Monster gegenüberstand, das er über all die Jahre versucht hatte, in seinem Inneren zu verbannen. Er war stark, doch das Monster war stärker. Sie hatten es beide gewusst. So oft hatten sie darüber geredet, was geschehen würde, hatten Pläne geschmiedet und sich gegenseitig Versprechen gegeben. Jetzt war es so weit und sie war sich nicht sicher, ob sie ihr Versprechen würde halten können.
Der metallische Geruch von Blut drang in ihre Nase, schien ihre Schleimhäute wegzuätzen und vernebelte gleichzeitig ihre Sinne. Er überdeckte sogar den Gestank der halb verrotteten Vorhänge und schimmligen Wände. In dieser Absteige hatten sie sich kennen gelernt und hier würden sie sich trennen. Welch Ironie des Schicksals.
Staub und feine Kiesel knirschten, als er – nein, es – schwer atmend einen Schritt auf sie zumachte. Seine Augen waren unentwegt auf sie gerichtet, wie zwei unheilvolle, schwarze Löcher. Instinktiv trat sie zurück, behielt den Abstand zwischen ihnen bei. Sie öffnete den Mund und wollte den Namen ihres Geliebten nennen, ihn zurückholen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken.
Noch ein Schritt.
Es legte den Kopf schief, verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen und leckte sich mit der Zunge über die blutverschmierten Zähne. Das sonst so attraktive Gesicht war zu einer verrückten, unheilvollen Fratze verzogen. Die Fratze eines Monsters, das sich an den Leiden unschuldiger Menschen labte, ihre Eingeweide verschlang und sich anschließend an dem entstandenen Gemetzel ergötzte. Seine Hände waren zu Klauen geformt, die mit Leichtigkeit Genicke brechen und menschliche Haut aufreißen konnten.
Sie wich wieder zurück. Tränen füllten ihre Augen und rannen stumm ihre Wangen hinab. Zögernd umfasste sie mit ihrer rechten Hand den Griff ihrer Smith & Wesson, zog diese aus dem Holster. Es waren schon unzählige Wesen durch diese Waffe getötet worden, sie nun jedoch auf ihn zu richten, fühlte sich nicht richtig an. Das Gewicht stimmte nicht, das Gefühl. Es war falsch. Eine Stimme in ihrem Kopf schrie, wollte sie davon abhalten, das Monster zu verletzen, immerhin steckte in ihm der Mann, den sie liebte. Vergebens. Es war ihre eigene Schuld. Sie hätte ihm erst gar nicht hierher folgen dürfen, hätte stattdessen lieber egoistisch die Augen verschließen und darauf warten sollen, dass er zu ihr zurückkehrte. Aber sie war eine Jägerin. Ihre Neugier und ihr Sinn für Gerechtigkeit hatten gesiegt. Und jetzt war es zu spät. Sie musste handeln, bevor sie ebenfalls zu einem Opfer wurde. Wie die drei leblosen Gestalten, deren Oberkörper aufgerissen, deren Glieder in einem grotesken Winkel verdreht und deren Kleider blutdurchtränkt waren. Die Gestalten, die sie nicht hatte retten können.
Ihr blieb keine Wahl.
Es tut mir leid!
Doch ihr flehender Blick prallte an ihm ab wie an einer unsichtbaren Wand.
Sie konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören, als sie den Griff ihres Revolvers in beide Hände nahm, die Arme hob und den Lauf direkt auf seine Stirn richtete. Ihre Arme zitterten, drohten unter der Last der Waffe nachzugeben. Wieder kam er einen Schritt auf sie zu. Dieses Mal jedoch verharrte sie an Ort und Stelle. Das Monster legte beinahe neugierig den Kopf schief und betrachtete sie. Vermutlich war es überrascht über ihren plötzlichen Mut. Vielleicht machte es sich aber auch nur über sie lustig. Was auch immer es war, sein Blick war es, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ, der ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht trieb und ihr jegliche Hoffnung nahm, ihren Geliebten wieder zurückzubekommen.
Noch einen Schritt und ich drücke ab.
Als hätte das Monster ihre Gedanken gelesen, veränderte es seine Haltung. Es senkte die Klauen und blieb stehen, machte nicht einmal mehr Anstalten, ihr näherzukommen. Auch sie hielt inne, atmete tief durch und schaute dem Monster in die Augen, suchte verzweifelt nach einem Anhaltspunkt, dass ihr Geliebter noch in ihm war, doch sie fand nichts als Schwärze.
Sie schluckte. Ihr ganzer Körper zitterte wie Espenlaub. Unter normalen Umständen hätte sie nicht gezögert, sondern geschossen. Aber diese Situation war nicht normal. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie es tun musste, doch ihr Herz wollte sie davon abbringen, indem es an ihre Liebe zu ihm appellierte.
Die Liebe zu ihm
, dachte sie, nur woher weiß ich, dass er noch da drin ist?
Ganz einfach. Sie wusste es nicht. Vor ihr stand ein Monster in Gestalt des Mannes, dem ihr Herz gehörte. Zerstörte sie ihn, zerstörte sie sich. Aber vielleicht war er auch schon längst fort. Vielleicht hatte das Monster den ewigen Kampf für sich entschieden.
Ihr Kopf schmerzte und ihr Brustkorb fühlte sich an, als wäre er in Ketten gelegt, die sich wie ein Schraubstock immer fester zusammenzogen. Der Raum begann sich zu drehen, Übelkeit stieg in ihr auf.
Sie konnte das nicht! Es ging einfach nicht.
Ganz langsam ließ sie die Waffe sinken, Millimeter für Millimeter. Das Monster betrachtete sie eingehend, wartete ab. Kurz glaubte sie, dass es vorbei war, dass es sie möglicherweise verschonen würde. Hoffnung keimte in ihr auf. Vielleicht war er noch da drin und konnte das Monster irgendwie lenken, es beeinflussen. Doch mit einem Mal schrie es auf, schrie seine Entschlossenheit und seine Gier nach Blut hinaus, und stürmte auf sie zu.
Sie stieß ihrerseits überrascht und erschrocken zugleich einen spitzen Schrei aus, riss instinktiv die Waffe hoch und drückte ab. Der Rückstoß ließ sie taumeln. Ihre Ohren klingelten. Ihre Waffe kam scheppernd auf dem Boden auf, doch sie bemerkte es nicht. Unentwegt waren ihre Augen auf das Monster gerichtet, auf das Blut, das dickflüssig und schwarz aus der Wunde auf seinem Brustkorb quoll. Ungläubig befühlte es mit seinen Klauen das Einschussloch; Verwirrung war in den dunklen Augen zu erkennen, dann brach es zusammen.
Auch ihre Beine gaben nach. Nach Atem ringend glitt sie auf ihre Knie, stützte sich mit den Handflächen ab. Die Kette, die noch immer um ihre Brust geschlungen war, zog sich weiter zusammen. Brennende Tränen verschleierten ihre Sicht, rannen wie heiße Lava über ihre Wangen, bis sie schließlich fielen und sich mit dem dreckigen Untergrund vermischten.
Sie hatte es getan, sie hatte ihn zerstört. Er war fort und mit ihm das Monster.
Sie konnte spüren wie ihr Herz in Milliarden Scherben zerfiel, wie ein Glas, das zu Boden fiel und anschließend so lange mit einem Hammer malträtiert wurde, bis nur noch Staub übrig blieb.
Vielen Dank für's Lesen!
Es grüßt
die Gemeinschaft der BUG-Autoren
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2012
Alle Rechte vorbehalten