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Hunderttausend wilde, heiße, zornige Worte warteten tief im Inneren herausgeschleudert zu werden. Die brennenden, alles löschenden Gefühle. Nur mit den Worten, die in ihrem Herzen aufloderten hätte sie alles retten können. Worte, die über ihre Zunge hätten gehen müssen. Worte, die das Lächeln in ihrem Gesicht hätten überwinden müssen. Das Lächeln aber war kein Gefühl. Man hatte es ihr anerzogen.
Schreien, brüllen, kreischen wollte sie. Sie lächelte. Sie nickte ergeben. Sie blieb stumm. Wie immer, immer wieder.

Die Tage verliefen immer gleich. Sie begannen immer gleich. Dass die Woche mit dem Montag beginnt – wer mochte das wohl festgelegt haben? Sie hatte keine Ahnung. Viele Jahrtausende der gleiche Trott auf dieser großen weiten Welt. Automatische Handgriffe wie sie vermutlich um diese morgendliche Montagszeit in vielen Küchen vieler Millionen Familien stattfanden, auch Norma erledigte sie. Ein festgelegter Fahrplan. Zeiten zu denen alle zu wecken waren. Zeiten wann Kinder und Mann und Frau das Bad benutzen konnten. Möglichst so, dass es keinen Stress gab. Unter Garantie gab es den hin und wieder doch. Unvermeidbarer Weg des Lebens. Oder doch vermeidbar? Norma war die letzte die aus dem Haus ging und stets die erste die aufstand.
Die Mutter hält die unsichtbaren Zügel für die Ordnung in der Hand. Der Vater sorgt für den Lebensunterhalt.
Jahrhunderte eingefahrene Rollen von Mann und Frau. Unveränderlich. Oder doch veränderbar?
Norma, Ende zwanzig, bemühte sich. Akzeptiere die Regeln des Lebens wie sie sind. Wieder und immer wieder, nicht zu sagen wie oft schon, hatte sie sich diesen Satz eingeredet. Jeden endlosen gleich verlaufenden Tag. Jeden dieser Tage, den sie gleich schmerzhaft, wie hinter einer dicken Panzerglasscheibe ablaufen sah. Alles konnte sie glasklar sehen. Und doch nichts ändern.

Ihre Kinder, früh geboren in ihrem Leben. Zu früh? Wer wollte das schon sagen. 11 und 7 Jahre alt, bewegten sich mit mürrischen Blicken durch den sonnigen Morgen. Ihrem Vater wichen sie aus. Hinter der verbissenen Miene steckte sicher kein liebevolles Wort für die kleinen Wesen am frühen Morgen. Norma lächelte und goss den Kaffee in seinen Becher. Stefan nahm ihn im Vorbeigehen und packte seine Brote ein. Eilig wie immer. Morgendliche Gespräche beschränken sich im Laufe der Jahre auf organisatorische Anweisungen. Hast und Eile. Mürrische Unzufriedenheit ersetzt Worte, Gefühle sind längst Luxus. Ein flüchtiger Kuss, Gewohnheit.

„Tschüss, mach kein Blödsinn!“


„Ja, pass du auch auf dich auf.“ Normas Tränen - runtergeschluckt. Die Kinder. Mit gesenkten Köpfen, die Haare im Gesicht saßen sie über ihre Müslischüsseln gebeugt. Im Radio trällerte derweil Katie Melua „Lucy in the sky“.

„Diese Kinder kriegen aber auch gar nichts vernünftig auf die Reihe! Der Großen habe ich gesagt sie soll das Bad ordentlich putzen und der Herr Sohn sollte lediglich mit dem Staubsauger durchs Haus gehen. Jetzt schau dir an, was deine feinen Kinder fertig gebracht haben! Im Bad schwimmt alles, das Klo ist noch halb dreckig und den Staubsauger hat das Haus nur von weitem gesehen. Überall liegt noch Dreck unter den Schränken. Es ist nicht zum Aushalten mit der Brut. Und du – du guckst nur dämlich und sagst dazu kein Wort. Klasse machst du das. Wann wirst du denen endlich bei bringen, dass sie ihre Aufgaben erst ordentlich zu erledigen haben, bevor sie aus dem Haus verschwinden dürfen?“
Starr stand Norma in der Haustür. Sie sah auf den Schlüssel, mit dem sie eben erst aufgeschlossen hatte. Er steckte noch im Schloss. Gleich wieder gehen, schoss es ihr durch den Kopf. Die Kinder. Sie brauchen dich. Wutentbrannt hatte sich Stefan vor ihr aufgebaut. Wie gehetzt atmete er ein und aus. Norma sah ihren Mann an. Ihren Mann? Wo war der Mann, der ebenso gehetzt geatmet hatte, als sie mit ihm die beiden Kinder gezeugt hatte. Die Kinder, die er jetzt als die Brut bezeichnete. Norma sah seine Fäuste. Geballte Hände. Zusammengeschlossene Finger, deren Knöchel weißglühend waren. Würde er zuschlagen? Ihre Blicke begegneten sich. Norma musste jetzt reden. Doch jetzt fehlten sogar die Worte im Herzen. Leere, nichts als Leere. Nichts war mehr da, das ihr über die Zunge hätte gehen sollen. Ohne sie aus seinem Blick zu entlassen, öffnete Stefan plötzlich seine Hände, überdehnte die Finger um sie aus den Fäusten zu entkrampfen. Immer noch ihrem Blick widersprechend, riss er sein Jackett vom Hacken, zog ihren Schlüssel aus der Tür, nahm seinen ebenfalls und ging. Die Haustür krachte ins Schloss. Kurz darauf riss er sie wieder auf. „Geschäftstermin“ blaffte Stefan ins Haus und ließ die Haustür zum zweiten Mal krachend ins Schloss fallen.

In der Nacht, eingesperrt im eigenen Leben, löste sich ihr Herz in Tränen auf. Nur ein Gedanke hatte noch Platz – nicht mehr Leben wollen. Wozu gibt es mich noch. Wozu. Ich mag nicht mehr. Ich bin so müde, so kaputt. Oh Gott, bitte, bitte. Gib mir einen schnellen Weg. Und wieder und wieder millionenfache Tränen. Warum ist alles so gekommen. Die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit ist schmerzlicher als jede tiefe körperliche Wunde. Warum passiert das alles so. Hab ich doch nichts Falsches, nichts Böses gewollt oder getan. Warum um alles in der Welt passiert ausgerechnet mir das? Was habe ich falsch gemacht? Alles hat sich doch so gut angefühlt. Es war warm und sicher und geborgen. Es war Liebe. Jetzt ist nichts weiter da als Hass. Ich bin im Weg. Ich fühle nichts als Schmerz und ich verursache nichts als Schmerz. Ich bin nur unnütz. So geliebt habe ich ihn und nun?

In einem Schleier von Tränen eingehüllt griff die junge Frau beinahe traumwandlerisch in ein Schränkchen im Bad. Ein dickes rotes Kreuz prangte darauf. Norma musste nicht einmal lange darin wühlen. Zwei Packungen Digimerck Tabletten, Wirkstoff Digitoxin. Ihre Herztabletten. Sie leerte sämtliche Blister aus und machte sich unter Schluchzen ein Tablettenhäufchen auf dem Waschbeckenrand. Ihr Zahnbecher voll Wasser würde vermutlich nicht reichen. Sie würde sich einen von den Kindern dazu nehmen müssen. Welchen sollte sie nehmen? Sannes oder Leos? Sie nahm die Zahngläser der Kinder in die Hände und besah sie von allen Seiten. Die Kinder. Sanne, Leo.

„Oh mein Gott!!!!“ Norma schrie es mit aller Gewalt und schleuderte mit ebensolcher Gewalt die Zahnbecher an die Wand des Badezimmers. Splitternd gingen die Becher zu Bruch. Selbst die Fliesen waren geplatzt. Norma zitterte am ganzen Leib. „Sanne, Leo“ mit gellender Stimme rief sie die Namen ihrer Kinder. Sie wollte aus dem Badezimmer stürmen, doch der Anblick des Tablettenhäufchens hielt sie noch einmal zurück. Rasch raffte sie alle zusammen, lief damit zur Toilette und spülte sie hinunter.
Kurz, tief einatmen, Luft anhalten. Augen geschlossen. Herzschlag spüren. Ausatmen.

„Mama?“ Zwei Paar erschrockene Kinderaugen sehen entsetzt, dass ihre Mutter mit blutenden Füßen und verweinten Augen mitten in den Scherben ihrer Zahnbecher steht. Mehr nicht.

Stefan, der Stunden später nach Hause kam, begegnete am Ortseingang einem Kleinbus mit der Aufschrift „Frauenhaus“. Er hatte ihn gesehen, aber auch nicht gesehen. Minuten später stand der Mann, der sich seine Wut über seine dumme Familie von einer klugen selbständigen Frau weg streicheln ließ, in seinem seltsam stillen Haus. Stefan lief langsam mit verbittertem Gesicht durchs Haus. Die leeren Zimmer riefen ihm den Kleinbus ins Gedächtnis. Sein Mund zog sich zusammen. Sein Genick kroch in die Schultern. Die Fäuste ballten sich wieder. Verbitterung wucherte zu unermesslicher Wut. Gleich würde er sich nicht beherrschen können – und im nächsten Moment zerfiel all das zu Nichts. Stefans Schultern sanken herab, seine Augen weiteten sich, er schluckte schwer. Der große hasserfüllte Mann war für einige Sekunden wie versteinert. Um dann haltlos am Türrahmen im Bad in sich zusammen zu sinken. Normas blutverschmierte Fußabdrücke in einem Meer aus Zahnbecherscherben seiner Kinder, leere Digitoxinschachteln, ein Zettel mit nur zwei Worten darauf und die Erinnerung an ein Gespräch hatten ihn zusammenbrechen lassen.

Vor kurzem gab es eine Radiomeldung. Eine junge Mutter, hatte sich mit ihren beiden Kindern von einem zehnstöckigen Hochhaus gestürzt. Alle Welt war bestürzt. Niemand konnte so etwas verstehen. Auch er hatte sich entrüstet. Wie konnte diese Frau so etwas Verantwortungsloses tun! Warum musste sie die Kinder mit ins Unglück reißen? Wenn sie sich unbedingt das Leben nehmen wollte. Dann bitte. Manche waren ja krank im Kopf. Wenn man es denen nicht ausreden konnte, dann in Gottes Namen, dann war es auch nicht schade um die. Sollte sie doch. Aber die Kinder, nein das konnte niemand verstehen. Die hatten doch noch ihr ganzes Leben vor sich.
Aber Norma war wie immer nur stumm da gesessen und hatte dann irgendwann gefragt: „Und wenn sie niemand auf der Welt weiß, bei dem ihre Kinder gut aufgehoben wären?“ Er hatte sie wie immer nur kopfschüttelnd angesehen. „Was?“ er glaubte sich verhört zu haben. Norma hatte ihn mit offenem Blick angesehen „Ich verstehe die Menschen, die ihre Kinder mitnehmen. Sie wollen ihre Kinder beschützen. Vor denen die noch leben.“ Beinahe geschlagen hätte er sie dafür, er hielt sie für komplett verrückt.
Und nun musste er lesen, dass er nur hätte reden müssen mit ihr.

„Suizid me!!!

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Tag der Veröffentlichung: 19.04.2010

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