Es sollte die spannendste Live-Übertragung des Jahres 2022 werden. Nicht einmal die Fußball-WM konnte derart hohe Einschaltquoten erreichen. Die letzte und gleichzeitig tiefste Kammer der Cheops-Pyramide sollte durch einen Roboter geöffnet und mit Hilfe von Drohnen erforscht werden. Nach drei spektakulären Öffnungen schaute die gesamte Welt gespannt in Richtung Vergangenheit. Neben alltäglichen Gegenständen wie Kelchen und Besteck, fand man das was sie so besonders machte. Artefakte deren Funktion man nicht eindeutig einordnen konnte. Doch nicht nur der Zweck der Objekte war für die Archäologen wundersam. Während einige Objekte anscheinend mechanisch funktionierten, ließen andere vermuten, dass ihre Erfinder durchaus etwas von Elektronik verstanden. Weitere Objekte wiederum waren so wohlgeformt, dass sie auf einen organischen, jedoch auf keinen natürlichen Ursprung schließen ließen. Verwundert und hilflos blickte die Welt auf diese fantastischen Dinge, wie ein sonst so mutiger Hund, der zum ersten Mal vor einem lauten Staubsauger zurückschreckt. Modernste Technologie, die mehrere tausend Jahre ist. Wie war das möglich?
Der Medienrummel war entsprechend enorm. Sekten sahen das baldige Ende der Welt kommen. Talkmaster, Archäologen und Arbeitskollegen rätselten über den möglichen Zweck der Fundstücke. Falsche UFO-Sichtungen hatten Konjunktur und Fernsehsender stritten sich um die Übertragungsrechte der nächsten Öffnung.
In dieser fast apokalyptischen Atmosphäre traf der mexikanische Star-Philosoph Jose Gonzalez zum Archäologenteam, das die Öffnung vornehmen und filmen sollte. Er konnte nicht viel Sympathie erwarten, da die Archäologen nicht noch einen „Experten“ unter sich haben wollten. Ein Archäologe jedoch freute sich wie ein Kind. Der Millionär und langjährige Gonzalez-Fan Arvo Hiftström. Der Norwege liebte seine Bücher und versprach sich von ihm eine frische Denkweise. Geldverschwendung wie die anderen Archäologen dachten, doch Jose Gonzales Charisma sorgte schnell zumindest für eine lockere Atmosphäre.
„Was denken Sie welchen Zweck die Kammern hatten Herr Gonzales?“ fragte Hiftström. „Ich bin mir sicher, dass war mal eine Startup-Garage eines äußerst verwirrten und erfolglosen Ägypters.“ scherzte Jose. „Aber bitte erzählen Sie mir doch zuerst was ihre Forschungen über die vorherigen Kammern ergaben“. „Tja über den Zweck der Objekte können wir nur rätseln. Verwunderlich ist jedoch, dass wir auch Probleme mit der Datierung haben. Alles weist darauf hin, dass die Artefakte mehr als 10.000 Jahre alt sind. Vor 10.000 Jahren war die Menscheit jedoch noch in der Steinzeit. Die Mechanik mancher Objekte ist derart ausgeklügelt, wie ein Schweizer Uhrwerk.“ Gonzalez blickte etwas enttäuscht auf Hiftström. „Aber das weiß doch schon jeder aus den Nachrichten. Ich dachte sie könnten mir hier wirklich neue Rätsel anbieten.“ „Sehr gerne Herr Gonzalez. Was in den Medien kaum behandelt wurde, waren die Gase die sich in der Kammer befanden. Es war ein sonderbares Gemisch, das in der Natur so nicht vorkommt. Interessant ist auch das Material aus dem die meisten Gegenstände sind. Laut unseren neuesten Erkenntnissen scheint es aus einer speziellen Pilzkultur zu sein, sehr leicht, robust und stellenweise sogar leitfähig. Gleichzeitig ist es so geformt, als ob es in einem Guss genau für diesen Gegenstand gezüchtet worden wäre. Etwa so als wenn Sie sich ihren eigenen Kühlschrank im Garten wachsen lassen würden.“ Gonzales war erstaunt. Zuerst wollte er einen Witz machen, welches elektrische Gerät er sich im Garten gerne züchten würde, doch sein Kopf war bereits jetzt voll mit Theorien und Spekulationen, dass er die Scherze weg lies. „Was uns die größte Sorge macht, ist dass sich unserer Artefakte anfangen aufzulösen. Sie fingen nach einem Monat an leicht zu verstauben und zu bröckeln. Laut den Chemikern ist dieser Verfall langsam aber kontinuierlich. Wenn es so weiter geht, sind die ersten Objekte in zwei bis drei Jahren einfach verpufft. Es ist eine Tragödie. Die Entdeckung des Jahrhunderts und der Beweis doch nur von kurzer Dauer.“ sagte Hiftström.
„Aliens oder Jesus, Herr Gonzales?“ fragte der hineintretende Archäologe Felix Graf. „Aliens oder Jesus? Die meisten haben entweder die Theorie, dass hier ein göttliches Kapitel fehlt oder dass hier die Außerirdischen uns vor vielen Jahren besucht haben. Zu welcher Gruppe gehören Sie?“. „So wie ich meinen Auftrag hier verstehe ist es meine Aufgabe eine alternative Theorie auszuarbeiten. Eine die nicht schon in den Zeitungen ausgeschlachtet wurde.“ Gonzalez verstand, dass er hier nur einen Freund hatte und wurde schnell sehr sachlich.
„Welches Gas es auch war, es muss die Artefakte konserviert haben. Vielleicht sind dies ja gefährliche Waffen die man gut versteckt halten wollte oder wir sind auf eine Art Atommüll gestoßen, der mittlerweile nicht mehr strahlt. Auf jeden Fall war es eine hochentwickelte Zivilisation. Allein aus diesem sogenannten ‚Pilzmaterial‘ aus dem die Objekte sind, können wir selbst viel lernen. Nach der Stein-, Bronze- und Eisenzeit leben wir in der Plastikzeit. Was wenn diese Zivilisation noch weiter entwickelt war und naja eine ‚Pilzzeit‘ hatte in der das der Super-Baustoff war?“ „Aber Herr Gonzales“ grinste Felix Graf „Diese brisante Vermutung in einer Runde von Archäologen zu äußern finde ich sehr mutig. Wenn es eine Epoche dieses Materials gab, dann hätte man dazu bereits Ausgrabungen gefunden.“ entgegnete Felix Graf. „Ist Plastik schon der perfekte Baustoff?“ fragte Gonzales. „Denken sie an unsere Müllberge. Vom Joghurtbecher bis zum Einfamilienhaus bleibt alles nur kurz bei seinem Besitzer. Danach gibt’s wieder etwas Neues. Vielleicht waren schon damals die Produktlebenszyklen sehr kurz. Denken sie an die Müllinseln die auf den Meeren treiben. Manche erreichen einen Durchmesser von 30 Metern. Wäre es nicht toll wenn sich das alles einfach in Luft auflösen würde? Genau wie die Artefakte es tun? Und offenbar konnte man den Schwund kontrollieren.“
„Ich habe eine ganz andere Frage an Sie. Herr Hiftström“ sagte Gonzales „Wie kommt es dazu, dass Hochkulturen verfallen?“ „Nun es gibt verschiedene Gründe. Nehmen wir an es gibt Krieg. Dann sind die Menschen primär mit Überleben beschäftigt. Es sind vergleichsweise sehr wenige Menschen aktiv das bekannte Wissen weiterzugeben oder zu erlernen. Der Bierbraulehrling zieht in den Krieg und es gibt niemanden der noch lernt wie man ein gutes Bier braut. Wenn der Krieg noch länger dauert, dann stirbt irgendwann auch der Meister. Jetzt gibt es nur noch Bücher. Wenn der Krieg noch weiter anhält und Kinder nicht mehr in die Schule gehen können, verringert sich die Anzahl der Menschen die überhaupt noch lesen können. Diese beschäftigen sich in Zeiten der Not und des Mangels nicht mit Luxus wie etwa Bierbrauen, Kunst oder Forschung. So verliert das Wissen immer weiter an Relevanz bis niemand mehr die Bücher verstehen oder gar lesen kann. Bis schließlich die letzten Bücher verstaubt sind. Nach der Obten-Theorie benötigt es nur drei Generationen Bildungsentzug bis eine Zivilisation das Wissensniveau des Mittelalters erreicht hat.“ Gonzales überlegte und wollte den Einwand einbringen, dass Menschen sich auch ohne Schulen und Universitäten Wissen weitergeben konnten. Doch dann fragte er sich wer wohl in seinem Freundeskreis erklären könnte wie ein Fernseher funktioniere und ob er überhaupt irgendwelche Ackerbaumethoden seinen Kindern weitergeben könnte. Er stellte fest wie zerbrechlich die hochmoderne Zeit eigentlich ist und sagte nur: „Interessant.“
Viele Fragen standen im Raum. Die Antworten, die sich die Anwesenden in Gedanken selbst gaben, beunruhigten sie. Die Archäologen begriffen langsam was das alles hätte heißen können. Ihre gesamte Wissenschaft basierte auf Ausgrabungen und Überlieferungen. Jetzt gab es jedoch Ausgrabungen, die sich selbst ohne jegliche Spuren zerstörten, und Überlieferungen, die nie stattgefunden haben. Welche Hochkultur existierte vor unserer Zeit? Welche Epochen haben Sie verpasst?
„Wenn es eine Hochkultur vor 10.000 Jahren gegeben haben soll, was spricht dagegen, dass es auch eine völlig andere vor 12.000 Jahren gegeben hat? Vielleicht wechselten sich sogar Hochkultur und Steinzeit mehrfach ab. Eine Zivilisation entstand und fiel. Vor vielen Jahren dachten die Menschen wir sind der Mittelpunkt des Universums. Jetzt denken wir, wir wären der Höhepunkt aller Zeiten. Dabei könnten wir ebenso eine Episode einer Seifenoper sein die ständig mit den gleichen Storys daherkommt. Die Geschichte wiederholt sich.“ sagte Hiftström.
„Vielleicht hat diese Kammer ja genau diesen Zweck.“ kehrte Gonzales zurück mit einem neuen Gedanken. „Man wollte etwas für die Nachwelt aufbewahren. Eine Zeitkapsel, die uns vor der Rückentwicklung bewahrt.“ „Sie meinen die Kammern wurden für uns gebaut?“ fragte Hiftström. „Warum nicht? Es gibt auch in unserer Zeit Beispiele, wo genau das gemacht wird. Die deutsche Regierung lagert zum Beispiel historische Dokumente auf Mikrofilm ein. Vom Original des Grundgesetzes bis zu Beethovens Mondscheinsonate, alles luftdicht verpackt mehrere Meter unter der Erde in einem Bunker.“ entgegnete Gonzalez. „Vielleicht hatten Sie eine Vision. Wir Entdecker sollten die Generation sein die es besser weiß und die nicht die gleichen Fehler macht.“
„Nehmen wir an, wir öffnen die Kammer. Wir finden noch mehr Artefakte und innerhalb von zwei Jahren sind sie verpufft. Die Zeit reicht weder um alles zu erforschen, noch um ein Mittel gegen den Materialschwund zu finden.“ sagte Hiftström. „Man ging sicher nicht von einer so unterentwickelten Generation aus. Man ging davon aus, dass wir wenigstens die ‚Pilztechnologie‘ beherrschen müssten, wenn wir schon fähig sind 700 Meter tief in der Erde zu graben und durch einen Schacht zu kommen durch den kein Mensch passt.“ stellte Gonzales fest. Aus der Ecke von Felix Graf kam das was keiner in diesem Moment mehr hören wollte. - Die Wahrheit: „Wenn die Kammer eine Zeitkapsel ist, dann ist sie auf keinen Fall für uns. Wir sind einfach noch zu dumm!“
Es waren noch 10 Stunden zur geplanten Öffnung. Ihre Zukunft als Archäologen stand auf dem Spiel doch sie war nichts im Vergleich zur Zukunft der Menscheit. Um ihr eine Chance zu geben, konnten sie nicht mehr tun als die Finger von der Kammer zu lassen. Nach zermürbenden Gesprächen und etlichen Abstimmungen entschied sich das Team aus Archäologen, Fantasten und Skeptikern, was jetzt das einzig richtige wäre. Was waren schon Talk-Shows im Vergleich zur Rettung der Welt? Hiftström war ein reicher Mann und die Öffnung der Kammern ganz in seiner Regie, so war es für ihn in Ägypten ein leichtes die Wahrheit vertuschen zu lassen. Schwieriger würde es werden den richtigen Zeitpunkt zu finden die Kammern tatsächlich zu öffnen. Wann wären wir soweit? Und wer würde das Wissen um die Kammern über Generationen bewahren?
Gizeh, Ägypten 07.08.2022 – Die langersehnte Öffnung der vierten Kammer in der Cheopspyramide fand kurz nach dem Vordringen in den 700 Meter tiefen Schacht ein spektakuläres Ende. Laut Angaben des Archäologenteams traf der Bohrer auf eine unterirdische Wasserquelle. Das Wasser zerstörte abrupt das ferngesteuerte Gerät. Das Team geht davon aus, dass die sensiblen Artefakte nicht mehr zu retten sind. Der ägyptische Premierminister Ibrahim Mahlab erklärte das Gebiet zur Sperrzone um die Sicherheit der Cheopspyramide zu bewahren und verbiet bis auf Weiteres jegliche archäologischen Untersuchungen im Umkreis von drei Kilometern.
Texte: Daniel Fritzler
Cover: Les Anderson, Unsplash.com
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2018
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