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Die Zeugin

Die letzte Woche war anstrengend. Als Chefin eines Kleinunternehmens war sie Stress gewöhnt, doch vier Tote in Folge waren eine neue Dimension von Stress. Da sie alle vier persönlich kannte, konnte sie auch das Gefühl von Angst nicht unterdrücken. Auch wenn sie selbst nicht alle so bezeichnen würde, so waren es allesamt Konkurrenten in ihrem hart umkämpften Markt der Biochemie. Spätestens beim dritten Mord verstand sie, dass es eine Liste von Unternehmern gab auf der sie mit aller Sicherheit auch drauf stand. Sie brauchte Hilfe und sollte sie nun in diesem Polizeirevier bekommen. „Frau Anke Schuster, zunächst ein Mal brauchen wir ihre Hilfe. Sie sind ebenfalls Biochemikerin, aber was genau verbindet sie mit den Mordopfern?“ fragte der 40 jährige Kriminalpolizist Peter Ludwig. „Bei den vier Toten handelt es sich um Kollegen von anderen Unternehmen, die ich von Fachtagungen oder Konferenzen her kenne. Alle sind involviert in der Stammzellenforschung und waren, so wie ich, drauf und dran die bessere Lösung zu entwickeln, Stammzellen länger haltbar zu machen. Ein schwieriger und sehr profitabler Arbeitsbereich.“ antwortete Anke. Der Polizist notierte sich „Stammzellenforschung“ in seinen Notizblock und fragte: „Wer könnte ein Interesse daran haben, dass diese Experten sterben?“ Anke tat so als ob sie kurz überlegen müsse, doch gerade diese Frage, hatte sie die letzten Tage beschäftigt: „Die Stammzellenforschung ist in der Bevölkerung nicht unumstritten. Viele denken gleich ans Klonen, Kindern aus dem Reagenzglas. Es gibt einige Aktivisten, die zutiefst dagegen sind. Ich kann mir aber auch religiöse Extremisten gut vorstellen. Beide standen in der Vergangenheit unseren Forschungsfragen im Weg. Ich kann aber auch die einfache Wirtschaftsspionage nicht ausschließen. Je weniger Experten es in einem Bereich gibt, umso teurer kann man seine verbesserte Lösung verkaufen.“ Anke überlegte kurz, was sie eben gesagt hatte. Würde man sie jetzt verdächtigen? Würde man ihr Haus durchsuchen? Ihr Stresspegel stieg weiter an. „Wer kennt sich noch mit dieser Stammzellenlösung aus?“ fragte Ludwig. „Bis auf mich ist mir niemand weiteres bekannt. Natürlich gibt es Alternativen auf dem weltweiten Markt, allerdings sind sie technologisch etwa 10 Jahre hinterher, was mir eine Art Monopolstellung gibt. Aber glauben Sie mir, ich möchte dafür nicht mit dem Leben bezahlen!“ „Natürlich Frau Schuster“ antwortete Ludwig um Sie zu beruhigen. Es half nicht.

Es wurde sehr spät. Die Fragen des Beamten schienen nicht enden zu wollen. Sie wollte endlich weg, aber zu Hause fühlte sie sich nicht mehr sicher. Nach dem zweiten Kaffee kam Ludwig zu ihr und sagte: „Frau Schuster, wir können Sie in den nächsten Tagen unter intensive Bewachung stellen, eine rund um die Uhr Überwachung können wir ihnen aber langfristig nicht anbieten. Sie können schauen ob sie eventuell Bodyguards anstellen möchten. Es gäbe allerdings noch eine letzte Variante, die wir einrichten könnten. Wir könnten für sie ein Zeugenschutzprogramm erstellen. Sie bekämen einen neuen Namen, neue Dokumente und einen neuen Wohnort, der mindestens 400km entfernt ist. Sie müssten allerdings ihren Beruf ändern.“ Polizeiüberwachung, Bodyguards – Sie fühlte sich wie in einem Actionfilm. Es wurde ihr langsam zu viel. Eine neue Identität – dieser Gedanke gefiel ihr. Ein Neuanfang. Sie könnte an die Ostsee ziehen. Als Kind verbrachte sie hier einen Campingurlaub mit ihren Eltern. Warum nicht dahin? Sie könnte wieder mit dem Reiten anfangen. Wieder Klavier spielen. Sie würde neue Leute kennen lernen und echte Freunde finden. Das Segeln lernen und nach Dänemark fahren. Einen Fisch selber fangen. Brot backen! Sie würde wieder viel Lesen und sich in einer Lesegruppe darüber austauschen, mit Menschen, die sie wirklich verstehen würden. Sie würde Gedichte schreiben, die sie jedoch niemandem zeigen würde. Sie würde im Verein Kindern das Schwimmen beibringen. Den Beruf ändern? Sie würde auf dem Fischkutter arbeiten und auf hoher See richtig anpacken. Oder sie würde sich hocharbeiten als die beliebteste Tierpflegerin bei den Affen im Zoo. Alle Optionen, die sie sich ausmalte gefielen ihr. Anke fühlte einen tiefen Rausch bei dem Gedanken an ein neues Leben. Es war nicht das Gefühl wieder in Sicherheit zu sein. Es war das Gefühl von totaler Freiheit. „Bitte geben Sie mir einen neue Identität.“ antwortete Sie dem Polizeibeamten. Die Sorgen waren weg. Sie malte sich die beste Version von sich selbst aus. Während Sie sich die letzten Tage nur mir der Frage beschäftigt hatte, wer die Mörder waren, so wich die Frage einer gänzlich anderen. Was genau hat sie die ganzen Jahre von ihrem Traumleben abgehalten?

 


 

Impressum

Texte: Daniel Fritzler
Bildmaterialien: Thomas Charters, Unsplash
Tag der Veröffentlichung: 27.12.2017

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