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18.42 Uhr. Noch eine Minute bis zum Wahnsinn. Schneidende Kälte auf dem Münsterplatz. Schneeflocken trudeln wie besoffene Elfen durch die Nacht, schwingen sich durch die kahlen Bäume, verfehlen Fenstersimse und stürzen klamm heimlich in die Tiefe – geradewegs in mein Gesicht. Sie kitzeln. Einige zerfließen über den Nasenrücken, schlittern den Lippen entlang. Andere krallen sich an den Wimpern fest. Ich blinzle sie weg. Dann schaue ich an mir herunter. 8137. Die Nummer ins Verderben hängt ziemlich schief am Sweatshirt. Das Ding ist viel zu groß. Sonderangebot eben. Restposten. Wie die berühmte Couch bei Frank Belami. Ich sehe ihn vor mir, meinen Seelenklempner, eine Mischung aus Muhammad Ali und Tolstoi. 

 

Frank stellte sich wie immer auf die Zehenspitzen, um auf Augenhöhe zu kommen, und drückte mich in den Sessel. Immerhin. Die Couch war weg. Ein neuer Seelenfrieden war nun möglich. Er ermahnte meinen Geist. Ich ließ den Korken knallen, feierte meine Absetzung als Hausautor am Theater. Und seine Renovierung: Frische Farben an den Wänden. Moderne Möbel. Junge Assistentin, blutjung. Süße Kirsche, Leder, Brombeerkonfitüre, verblühte Rosen und Toast auf der Zunge. Im Glas meist Barbera, mal Nebbiolo, viel Piemont. Die Ohren voll Lachen, Witze, Stumpfsinn. Frank wettete. Er bot mir ein neues Leben an, wenn ich an einem bestimmten Tag durch die Stadt rennen würde. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich schlug ein. Abgemacht. Gleichwohl fallen mir jetzt mindestens 8137 Gründe ein, um auszusteigen. 

 

Neben mir langt ein Mann in den Kinderwagen. Er brabbelt unverständlich und nickt dazu mit dem Kopf. Was tue ich hier eigentlich? Vor mir ein Meer aus Leiber. Wollmützen und Stirnbänder. Fünfkommafünf Kilometer. Laufen! Ich? Unmöglich. In der Statistik sorge ich eisern dafür, dass wir im Durchschnitt nicht mehr als achthundert Meter zurücklegen. Tagtäglich. Und doch, ja, da sind Laufschuhe, ganz neu, funkelnagelneu. Ich sehe sie, dort unten. Sie schnüren meine Füße ein. Ich muss verrückt sein! Frank steht in der ersten Reihe hinter der Absperrung und prostet mir zu mit seinem Glühwein. Schöner Freund. Hast mich angeschmiert. Wahrscheinlich. Egal. Was kann ich schon verlieren? Nichts. Eben. Also nehme ich mein Schicksal in die Hände, wohl eher unter die Füße. Schließlich waren die Dinger verdammt teuer. 

Supernova. Dritte Generation. Geo-Fit für eine anatomisch korrekte Polsterung und mehr Komfort. Keine Chance für Blasen und Hautirritationen. Dafür hat der Preis mein Budget etwas durcheinandergebracht. Einhundertfünfundsiebzig Schweizer Franken. Nach Abzug von Euro-Rabatt und Franks Empfehlungs-Diskont. Dennoch, allein der Name des Geschäfts war mir irgendwie suspekt. Erinnerte mich an einen kastrierten Wiederkäuer. Ein Arbeitstier. Drinnen hetzte ein sogenannter Coach in Jogginghose die Fläche ab, suchte für mich in den endlosen Regalen nach dem passenden Outfit und schleppte tonnenweise Material heran. Frank versank neben mir im Sessel. Er lächelte wie ein Krokodil. Ich rackerte mich ab. Sie hingegen steckte den Marathon einfach weg. Herzlichen Glückwunsch. Die Worte der Läuferin hallten wie Glockenschläge in mir nach. Sie klatschte sogar, freute sich mit Leib und Seele, während mich ihre Reihen perlweißer Zähne blendeten. Im Freudentaumel hüpfte die Kapuze im Nacken auf und nieder. Unbegreiflich. Auch der riesige Zitronenhaken wellte über das weite Feld in Pink des Pullis. Eine etwas zerknitterte Siegesgöttin. Englands Victoria stand wohl Patin. Letztlich drückte mir aber eine Fabienne die Tüte mit den Schuhen in die Hand. Die Schachtel sollte bleiben. Abgehakt. Frank hingegen wippte ständig auf den Füssen, vor und zurück, vor und zurück, die Arme hinter dem Rücken, wie ein Prüfer, der gleich testen will, ob der Zitronenhaken die wichtigen Punkte für richtig erklärt. Die Augen im Röntgenblick-Modus, scharf gestellt. „Auf die Gipfel rosiger Glückseligkeit.“ So ein blöder Spruch kann auch nur Frank vom Stapel lassen. 

 

Mit der Tüte in der Hand gings weiter zur Anmeldung. Frank klopfte mir auf die Schulter. „Du wirst sehen, heute lösen sich alle deine Knoten.“ Er kannte meine Knoten doch gar nicht. Samariter, Affenfaust, Roringstek, Doppelter Spierenstich – Matthew Walker. Verknüpft mit Flops. Zu oft ins Klo gegriffen. Letztlich Schiffbruch erlitten. Entgleist, verwaist, gefeuert. Vor Monaten schon. Unbewohnt, verblasst, vom Winde verweht. Auf der Suche nach einer Lücke im Hohlraum, einem Ausweg in die Freiheit. Matthew Walker. Schon wieder.

 

Ein Schuss. Scheiße. Die Masse bewegt sich. Der Mann neben mir löst die Bremse am Kinderwagen und sprintet los, in Zeitlupe. Ich komme kaum mit, spaziere gemütlich über die Startlinie. Gar nicht mal übel, bis jetzt. Leute winken mir zu. Ich winke zurück. Ups, die Meute vor mir galoppiert davon. Jetzt muss ich mich wirklich sputen. Ein Knoten löst sich. Matthew Walker.

 

Legendärer Takelmeister auf einer britischen Schiffswerft. Zum Tode verurteilt. Auf den Chincha-Inseln vor der Küste Perus. 1869. Der Krieg um Vogelscheiße zwischen Peru und Spanien war verrauscht, als die HMS Hyperion randvoll mit Guano die letzte Nacht in der Bucht am Anker dümpelte. Walker und der alte Burbeck würfelten auf Teufel komm raus, soffen Rum und spannen Seemannsgarn. Neben Burbeck lag der Albatros, den er tags zuvor mit der Armbrust vom wolkenlosen Himmel geholt hatte. Neun Augen. Walker verspielte seine ganze Heuer. Burbeck hängte dem Verlierer den Albatros an den Hals. Da fielen dem Alten eine Handvoll abgegriffene Würfel aus dem durchgeschwitzten Hemd. Walker war auf einen Schlag nüchtern. Burbeck spielte falsch. Walker zog den Dolch und ging im Zwielicht der Hütte auf Burbeck los. Schreie. Blut. Tausend Hände drückten Walker auf die Bretter. Nach einer harten Nacht in einer Kloake stand er vor dem Tribunal und staunte. Der ehrenwerte Richter Lovell fuhr einst auf demselben Schiff wie Walker zur See. Lovell stellte ihm Gnade in Aussicht – falls Walker einen Knoten knüpfte, den Lovell nicht kannte. Walker bat um ein 20 Meter langes Tau. In der Stille seiner Zelle drehte er das Tau zur Hälfte auf, band die drei freigelegten Kardeelen zu einem doppelten Taljereepsknoten und verdrillte die losen Enden wieder zu einem Stück. Keine Schlinge ließ sich aufziehen. Lovell sprach Walker frei, der zum nächsten Schiff rannte.

 

Meine Lungen rasseln. Ich schwitze wie ein Schneemann in der Wüste. Mein Herz quietscht wie eine alte Kommode und rumpelt. Die Füße schmerzen. Ich brenne. Auf der Brücke pralle ich gegen den eisigen Wind. Eine Leuchtjacke bauscht sich neben mir und fängt mich auf. „Wie lange noch?“, höre ich mich stammeln und gleichzeitig nach Atem ringen. „Nur noch fünf Kilometer.“ Ein Lächeln hilft mir auf die Beine. Ein hässliches, nervtötendes, hinterhältiges Lächeln – Burbecks Lächeln? Mir fehlt die Kraft. Ich kann nicht mehr. Jungs in kurzen Hosen fliegen an mir vorbei. Ein Strom wie aus Pech kriecht weit unter mir hindurch. Der Rhein. Leises Klingeln. Himmlische Heerscharen? Nein, eine Herde in Rot-weiß. Wallende Bärte, flatternde Soutanen. Ach nein, die kleiden Angehörige einer anderen Abteilung. Seltsam, weit und breit kein Ruprecht zu sehen, keine Paarhufer. Nur Renntiere. Ohne Schlitten, ohne Geschenke. Dafür mit Streifen, drei an der Zahl, um genau zu sein, an den Füßen. Dieselben wie ich. 

 

Nach vorn gebeugt, den Blick stur auf die Streifen geheftet, folge ich der Spur, biege in eine Gasse. Kopfsteine. Andere Striche. Drei Frauen. Endlose Stiefel. Rote Lippen. Ich habe mich verirrt, bin vom Weg abgekommen. Dort vorne ist das gelbe Absperrband. Mit letzter Kraft schleppe ich mich zurück auf die Marschroute. Auf einem Poller ruhe ich mich aus. Schmerzen überall. Seitenstechen. Ich sterbe hier. Ausgerechnet. Ärgere mich über die viel zu teuren Laufschuhe. Dann sehe ich die Szenen ganz deutlich vor mir. Drei Frauen, eine Waschküche und der neue Mieter in 7B. „Das ist es! Das neue Stück! Verschwörung in der Waschküche.“ Ich muss sofort alles niederschreiben …

 

Auf dem ganzen Weg in meine Wohnung schnattern mir die drei Frauen den Kopf voll. Sie buhlen um die Gunst des Mieters in 7B. Ein mysteriöser Mann, der viel unterwegs ist. Ein Agent? Ein Stripper? Ein Pilot? Keine Ahnung. Die Frauen sind schon mal seinem Charme erlegen. Sie versuchen, sich gegenseitig auszustechen. Das Telefon klingelt. Nicht jetzt. Moment! Ich komme ja schon. Es ist Frank. 8137 – wie zerknittert die Nummer an mir hängt. Ich versuche es ein anderes Mal, versprochen. Keine Knoten mehr im Hirn. Bin gerettet. Wunderbar. Auf zu neuen Ufern!

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Tag der Veröffentlichung: 12.04.2023

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