Selbst in diesem kalten Loch höre ich die wunderschöne Melodie. Sie wärmt meine steif gefrorenen Sinne und hüllt mich ein in den himmlischen Schlaf der Berauschten. Ich träume, gleite schwerelos dahin auf den Schwingen der lieblichen Harmonie. Anienne singt. Ach, wie gerne höre ich ihre Stimme … ich kann nie genug bekommen. Sie verzaubert mich, streichelt mein Herz und durchflutet meine Seele wie helles Licht. Mein Körper fiebert. Ich atme rasch. Reifen quietschen. Ein fürchterlicher Schrei hallt in meinem Kopf. Anienne verstummt. Die Melodie stirbt. Meine Hand zittert. Der Stift fällt mir aus den Fingern auf das weiße Blatt vor mir. Wieder steigt die Erinnerung an das Unglück in mir auf, würgt mich im Hals, wuchert in meiner Brust wie ein eiterndes Geschwür, das mich allmählich auffrisst, und vergiftet den Liebreiz, der meinen Geist nährt. Mich fröstelt. Ich reiße ein Streichholz an und starre in die Flamme, die etwas unruhig flackert. Gedanken kreisen. Letztlich stecke ich die Zigarette in Brand.
„Du musst dich befreien. Schreibe alles nieder“, schreit mir jemand ins Ohr. Doch da ist niemand. Ich fülle meine Lungen mit dem scheußlichen Tabak. „Fange endlich damit an!“ Ich nicke, nehme den Stift auf und beginne die Erinnerungen aufzuschreiben, die mich foltern, mir den Schlaf rauben – und schließlich mein Leben zerstört haben.
Dienstag, 23. März. Ich schaute dem Mörder meiner Tochter direkt in die Augen. Keine Spur von Reue, keine Anzeichen von Mitgefühl, wie üblich. Dennoch erschreckten mich diese so vertrauten Augen. Sie funkelten wie polierte Bernsteine aus abgründigen Höhlen, glühten voller Zuversicht und brannten mir ein Loch ins Herz. Schnell presste ich die Lippen aufeinander. Der Schrei erstickte in meiner Kehle. Meine Augen füllten sich und ich sah durch den feuchten Schleier meiner Wut die Verwegenheit, die sein spitzes Kinn umspielte. Zielstrebig stieg er die Stufen zum Gericht hinauf, das Haar sauber geschnitten, die Wangen glatt rasiert. Er kam immer näher. Kameras klickten. Er lächelte, jovial und diabolisch süß. Die Menge vibrierte. Er winkte, wie Politiker eben nur winken, und platzte vor Selbstgefälligkeit beinahe aus dem schicken Anzug. Noch immer will ich seinen Namen nicht aussprechen. Ich möchte mir den Mörder meiner Tochter vom Leib halten, Distanz schaffen.
„Wolfgang, er kommt davon“, flüsterte ich. Meine Hand tastete ins Leere, ballte sich zur Faust. Wolfgang stand nicht mehr neben mir. Unsere Liebe ist an meiner Trauer gescheitert. Der Schmerz hatte mich ausgezehrt und trieb mich immer weiter an den Abgrund, bis ich Wolfgang schließlich verlor. Er musste gehen, um sich zu retten.
Ich hätte alleine vor die Richter treten und mir ein Urteil anhören müssen, das ich schon kannte. Der einflussreiche Mann bekäme eine Haftstrafe, bedingt auf zwei Jahre, sowie eine unbedeutende Geldbuße. Mehr nicht.
Er hat meine Tochter getötet! Mein Kopf dröhnte. Immer wieder stach mir ein Gedanke ins Hirn, trieb mich unweigerlich vorwärts. Er hat Anienne einfach überfahren. Auf dem Zebrastreifen. Am 3. Oktober um 21.38 Uhr. Sie war erst fünfundzwanzig.
Ich zerknülle die leere Packung, brauche neue Zigaretten. Die Frau im blauen Hemd bringt auch gleich einen Stapel lose Blätter. Sie lächelt, ehrlich. Aus einem Röhrchen schüttle ich zwei, drei Tabletten in meine Hand. Der Arzt sagt, sie halten böse Gedanken fern. Ich spüle die Dinger mit schwarzem Kaffee runter und schenke nach. Ich trinke viel zu viel davon. Die Frau redet mir gut zu, also erinnere ich mich an die glücklichen Tage, die längst vergangen sind. Eine Zukunft habe ich nicht.
Anienne lebte in Bern und studierte Musik und Gesang an der Hochschule der Künste. Sie besaß einen wohlklingenden Sopran, ein feines Vibrato, und träumte von einer Karriere als Opernsängerin. Anienne war jung, anmutig und schön. Die hellen Locken umflossen ihr anziehendes Wesen wie reines Gold, die sprechenden Augen leuchteten im tiefsten Blau des Ozeans und die weichen Lippen zauberten für mich das schönste Lächeln der Welt auf ihr bildhübsches Gesicht. Sie war glücklich, liebte das Leben, italienische Opern und die Toskana. Anienne war der Stolz meines Lebens, mein kostbarster Schatz, mein einzigartiges Kind.
Gemeinsam fuhren wir jedes Jahr nach Florenz und besuchten das Musikfest Maggio Musicale Fiorentino, schlenderten Arm in Arm durch die Gassen der Altstadt, saßen im Caffè della Luna bei einem Cappuccino zusammen, lachten und plauderten, schmiedeten Pläne für die nächsten Stunden und freuten uns ganz einfach an diesen Tagen, die wir Seite an Seite in Firenze verbringen durften. Später traf ich in der Loggia dei Lanzi sogar die Liebe meines Lebens – Wolfgang Frey.
Das war vor zwei Jahren. Kurz nach unserer Ankunft in Florenz standen Anienne und ich vor Perseus, bewunderten die bronzene Skulptur von Cellini, als ein schlanker großgewachsener Mann durch die Arkadenhalle schritt. Die Augen starr auf den Baedeker in seiner Hand geheftet, kam er auf uns zu. Anienne und ich tauschten vielsagende Blicke. Ich hob die Augenbrauen. Anienne schmunzelte. Der Mann gefiel uns beiden, jedem auf seine Weise. Er trug ein Tweedjackett über einer karierten Weste und dazu eine Kordhose. Im offenen Hemdkragen glänzte ein seidenes Halstuch. Der Mann wirkte auf uns wie ein englischer Gentleman, im Gesicht die feinen Züge britischer Noblesse. Er war Schweizer, Herausgeber einer Zeitschrift, und mochte um die zweiundvierzig sein. Also etwa in meinem Alter.
Wir kamen rasch ins Gespräch. Wolfgang reiste nach Florenz für sein Magazin Limelight. Er schrieb einen Artikel über die Kunstsammlungen, die Gastronomie und das Musikfest. Anienne und ich waren begeistert. Wolfgang führte uns durch ein Florenz, das uns völlig unbekannt war, erzählte dabei die Geschichte jener etruskischen Siedlung, die sich zur Hauptstadt der Toskana entwickelte, flocht Anekdoten über die Herrschaft der Medici ein und begleitete uns in die Oper. Wolfgang war durch und durch ein Kavalier, geistreich und kultiviert, prahlte jedoch nie.
In diesen wenigen Tagen verliebten wir uns. Ich weiß nicht mehr, wer den ersten Schritt machte. Vermutlich war ich es. Da Anienne meine Gefühle schnell erkannt hatte und in mir las, wie in einem offenen Buch, ermunterte sie mich geradezu, den Klängen der Liebe zu lauschen und der Leidenschaft zu folgen. Anienne steckte mich immer wieder an mit ihrer Lebensfreude, ihrem Glück.
Dann kam der 3. Oktober letzten Jahres. Ein schrecklicher Anruf und das Glück zersplitterte in tausend Scherben, die uns tief in die Seelen schnitten. Herzen brachen. Gedanken löcherten das Gehirn. Hilflosigkeit zersetzte den Verstand und die gesamte Welt geriet aus den Fugen, bis alle Werte unwiederbringlich zerfallen waren.
„Frau Hannah Liebfelden?“
„Ja.“ Ich zitterte, ahnte Schlimmes.
„Mein Name ist Monika Seiler von der Luzerner Polizei. Es geht um ihre Tochter –“ Die freundliche Stimme erzählte etwas über einen Unfall in der Nähe. Ich hörte kaum noch hin. „Unmöglich. Meine Tochter kommt jeden Augenblick nach Hause.“ Anienne wollte das Wochenende bei uns verbringen. Sie musste gleich klingeln.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung widersprach höflich. Mir glitt der Hörer aus der Hand. Ich spürte einen brennenden Stich in der Brust, als ob mir jemand ins Herz biss. Ich rang nach Atem und schrie – lautlos. Tränen schossen mir in die Augen. Etwas in meinem Kopf klickte. Kein Bild mehr, keine Andenken. Nichts. Bloß ein heftiges Rauschen in den Ohren. Ich fiel.
Weit entfernt hörte ich Wolfgang. Er sprach knapp und ausdruckslos. Keine Sätze, nur Fragmente. Ja und hm. Dann schwieg er, streichelte mir sanft die Wangen und küsste mich auf die Stirn. Ich wollte ewig in seinen Armen liegen bleiben. Er hielt mich fest, alles war gut. Wir weinten.
Tränen fallen aufs Blatt, verwischen die Spuren jener glücklichen Tage aus der Vergangenheit. Denn jetzt kommt der schwierigste Teil meiner Aufzeichnung. Ich muss die furchtbaren Begegnungen, den Anblick meiner Tochter aus dem Kopf bekommen. Ich muss den Schrecken selbst zu Papier bringen. Aber wie? Wolfgang fehlt mir so sehr. Ich bin einsam. Mir gegenüber sitzt nur die Frau im blauen Hemd, die Papier und Zigaretten bringt. Sie spricht ruhig und bedacht. Ich mag ihre Stimme. Sie klingt so schön. Mein Blick verliert sich, bleibt auf dem silbergrauen Metallstreifen über der Brusttasche hängen. Monika Seiler. Der Name ist hinter dem Kantonswappen sauber eingraviert.
Wolfgang und ich fuhren zum Krankenhaus. Ich rannte einen endlosen Korridor entlang. Überall grelles Licht. Ein beißender Geruch aus Ammoniak und kranken Menschen brannte in meiner Nase. Ich schrie nach meiner Tochter. „Wo ist Anienne?“
Wolfgang holte mich ein. „Anienne, wo bist du?“ Ich warf mich Wolfgang an die Brust, schluchzte und weinte sein Hemd voll. Ein weißer Kittel bauschte sich neben mir. Ich klammerte mich daran fest.
„Wie geht es meiner Tochter?“ Das junge Gesicht über dem weißen Kittel runzelte die Stirn.
„Sie sind Frau Hannah Liebfelden?“ Ich nickte. „Kommen Sie. In meinem Büro sind wir ungestört.“
„Mich interessiert ihr Büro nicht. Ich will zu meiner Tochter, verdammt.“ Wolfgang drückte mich an sich heran. Wir folgten dem Arzt in sein Büro. In den bequemen Sesseln fühlte ich mich unwohl. Wolfgang hielt meine Hand. Der Arzt sah mir beinahe liebevoll in die Augen. Ich beruhigte mich.
„Es war ein Unfall, Frau Liebfelden“, begann der Arzt mit ruhiger Stimme, die schützend jene schrecklichen Worte einhüllte und die bitter in mich hinein tröpfelten. „Das Unwetter heute Abend war ziemlich deftig und reduzierte die Sicht auf wenige Meter. Zudem soll eine Straßenlampe defekt gewesen sein. Deshalb sah der Fahrer ihre Tochter auf dem Zebrastreifen erst im allerletzten Moment. Er bremste sofort, aber –“
„Er hat meine Tochter getötet“, schnitt ich dem Mediziner das Wort ab. Ich spürte keinen Schmerz. Ich fühlte gar nichts.
Der Arzt räusperte sich. „So würde ich es nicht sagen. Der Fahrer brachte den Wagen leider nicht rechtzeitig zum Stehen und erfasste ihre Tochter.“
„Anienne ist tot.“
„Ja. Sie starb vor wenigen Minuten. Ihre Tochter dürfte den Zusammenprall jedoch kaum wahrgenommen haben.“
Niemand sprach weiter. Ich sah zu Wolfgang hinüber, der seinen Kopf auf die Brust gesenkt hatte. Er spürte wohl meinen Blick. Er schaute mir unruhig in die Augen und nickte.
„Ich möchte sie sehen“, sagte ich leise. „Ich möchte meine Anienne noch einmal sehen.“
Meine Hand zittert. Ich lege den Stift weg und drücke den runter gebrannten Zigarettenstummel im Aschenbecher aus, der gar nicht mehr glüht. Ich presse den kalten Rauch aus den Lungen, hustend. Monika Seiler reicht mir ein Glas Wasser. Ich trinke gierig, wie damals im Krankenhaus. Das leere Glas scheppert auf den Tisch. Ich entschuldige mich.
Anienne lag reglos auf weißen Laken. Sie sah so friedlich aus, als schliefe sie. Wolfgang weinte neben mir. Still und heimlich. Ich fragte mich weshalb.
„Sie schläft doch nur, Wolfgang. Wie schön sie ist“, flüsterte ich, damit ich sie nicht aufweckte. Ich täuschte mich bewusst, stemmte all meinen Verstand gegen die brutale Wirklichkeit. Aber Anienne war kalt, kalt und hart wie gefrorener Schnee. Erschrocken zog ich meine Hand zurück. Und dann sah ich es auch. Anienne atmete nicht und ihr Gesicht war seltsam entstellt. Eine monströse Fratze, geschunden und zerkratzt und voller Narben. Nein keine Fratze, eher ein fleischiger Brocken, der vielleicht menschlichen Ursprungs war. Meine Augen mussten weiter, weg von diesem entsetzlichen Gegenstand, der unmöglich zu Anienne gehören konnte.
„Das ist nicht meine Tochter!“, schrie ich laut. „Nie und nimmer!“ Wolfgang starrte mich an, war ganz weiß im Gesicht. Er störte sich schon immer an meinen Gefühlswellen, die mich hoch hinauftrugen und tief ins Tal stürzten. Wolfgang schüttelte den Kopf, zog mich am Arm dicht an dieses Wesen auf den Laken heran. Ich kniff die Augen zu, wollte nicht sehen. Wolfgang zwang mich. Und da entdeckte ich in dieser zersplitterten Totenmaske die hellen Sterne. Leberfleck und Sommersprossen zeichneten neben das rechte Auge ein Sternbild in die Haut, das nur wir kannten.
„Der kleine Bär mit dem Polarstern. Du bist Anienne, mein Kind.“ Ich vergrub das Gesicht in den Händen und rannte aus dem kühlen Raum, flüchtete vor der Gewissheit.
Im Korridor hockte sich Wolfgang zu mir auf den Fußboden. Er wartete, geduldig und stumm, ehe ich über meine angewinkelten Knie zu ihm hinschielte.
„Anienne ist tot. Ich habe meine Tochter für immer verloren“, krächzte ich heiser. Meine Kehle war trocken. Wolfgang reichte mir einen Pappbecher. Ich trank das Wasser und sofort flossen die Tränen wieder. Wolfgang half mir auf die Beine. Ich ließ mich ins Büro führen und plumpste in den Sessel. Der Arzt gab mir eine Plastiktüte, auf dem ein Etikett mit meinem Namen klebte. Ich schaute hinein. Ein Paar Jeans, eine blutbefleckte Bluse, ein schwarzer Slip und ein schwarzer BH. Kleidungsstücke meiner Tochter. Ich schloss die Augen, sog den Duft tief ein. Alles roch nach Anienne, ihrem Parfüm. Und da war noch ein anderer Geruch, der mir unangenehm in die Glieder fuhr – Blut, Schweiß und Tod.
Ich habe richtig gehandelt, sage ich mir und kaue an den Fingernägeln, die schon lange bluten. Monika Seiler sieht mich verwundert an. Sie versteht mich nicht. Verständlich. Sie weiß nicht, was es heißt, das eigene Kind zu verlieren. Deshalb kann sie unmöglich den Schmerz eines solchen Verlusts kennen, der sich wie eine Amputation in wachem Zustand anfühlt. Sie senkt den Blick aufs Blatt vor mir. Ich kritzle Tränen hin, die wie Perlen über einem Zebrastreifen kullern, ein Herz, das ein Schwert entzweihaut, und eine Kugel, die in der Sonne glänzt.
Ich ging jeden Tag zum Tatort. Verweilte. Hockte mich auf den Bürgersteig und sammelte Perlen der Halskette meiner Tochter auf. Die Welt brauste an mir vorüber. Ich hörte nichts, sah nur Anienne auf dem Asphalt liegen und sterben. Dann lief ich zu meiner Tochter hin. Autos heulten und hupten wie verrückt. Die Warnsignale quengelten schrill in meinen Ohren. Leute kreischten und brüllten mich an. Flüche rauschten. Mir war das alles so egal. Ich kauerte nieder und berührte meine Tochter. Bloß grobe Fahrbahn. Enttäuscht schlenderte ich nach Hause. Wolfgang wartete schon an der Tür auf mich.
„Wo bist du gewesen? Ich habe dich schon überall gesucht.“
„Ich war bei Anienne. Drüben an der Straße“, sagte ich abweisend. „Ich habe sie nicht gefunden.“
„Mein Gott, Hannah. Anienne ist tot. Begreif das doch endlich.“
„Ja, und ich verfaule. Wundbrand sabbert mir aus den Poren. Ich kann nicht mehr.“
Wolfgang stritt mit mir, schüttelte mich durch und redete und redete und redete. Aber Anienne kam nicht zurück. Und am nächsten Tag wartete ich auf dem Bürgersteig, bis der Feierabendverkehr heran donnerte. Ich wollte eben zu meiner Tochter hinlaufen, als Wolfgang meinen Arm packte. Ich trommelte mit Fäusten auf seine Brust. Er vermasselte mir ein Wiedersehen mit Anienne, in dem er mich zurückholte in diese Welt gewissenloser Schurken.
Und dann kam auch noch die Wahrheit über den Unfall in die Zeitungen. Der Fahrer hatte gelogen. Die Straßenlampe war nicht defekt und der Wagen hätte auch auf trockener Fahrbahn nicht rechtzeitig gebremst werden können. Er war mit übersetzter Geschwindigkeit unterwegs.
„Anienne hatte nie eine Chance zu entkommen!“, schrie ich und warf Wolfgang die Zeitung hin. „Er hat sie getötet, vorsätzlich!“
Von diesem Tage an schnitt ich jeden Artikel aus, trennte dem Mörder meiner Tochter den Kopf ab und klebte die Berichte an den Kühlschrank. Wolfgang schmiss die Artikel weg. Ich holte sie wieder hervor, strich sie glatt und klebte sie an die Zimmertür meiner Tochter. Wolfgang riss sie weg, verbrannte sie im Kamin. Ich holte die Artikel aus dem Internet und steckte sie an die Pinnwand in der Küche. Der Mann, seine Tat sollte mir die letzten Gefühle der Trauer aus dem Leib brennen. Alles drehte sich nur noch um ihn, den Mörder meiner Tochter.
Er raste über Anienne hinweg, verschwand im Dunkel der Nacht und stellte sich einen Tag später der Polizei. Sein Anwalt bastelte an einer ehrenvollen Biographie, rührte die Leser durch die vielen karitativen Engagements seines Schützlings. Die Bilder zeigten einen sichtlich erschütterten Mann, der noch immer unter Schock stand. Er beteuerte, wie sehr der bedauerliche Unfall an seiner Seele nage. Er entschuldigte sich – widerstrebend und scheinheilig. Er war einer Katze ausgewichen, die einer lieben alten Frau gehört habe. Er konnte Anienne nicht sehen, weil sie dunkle Kleider trug und die regnerische Nacht sie vollständig aufgesogen hatte. Er dachte auch an seine kranke Mutter, die auf der Palliativstation lag. Sie litt an Blasenkrebs, im Endstadium.
„Unsinn! Ausflüchte!“, schrie ich. „Nichts als Lügen. Lügen. Lügen. Er hat Anienne getötet!“
Wolfgang zerfetzte die Artikel und warf mir die Schnipsel ins Gesicht. „Hör auf! Hör verdammt noch mal auf damit, Hannah! Wir verlieren uns. Lass Anienne in Ruhe –“
Ich schlug ihn. Er schlug zurück, mir ins Gesicht. Wir beiden waren völlig mit den Nerven runter, lebten wie Katz und Maus auf viel zu engem Raum und waren gegenseitig auf der Hut, stellten Fallen und spielten ein gefährliches Spiel, das nur aus der Regel bestand, den anderen zu verletzen. Schließlich gab Wolfgang auf. Er ging, ließ mich alleine auf der Treppe zum Gericht stehen.
Die Sonne schien. Keine Wolke am Himmel. Und da kam auch schon der Unschuldsengel heran geflogen. Immer noch lächelnd.
„Du kommst nicht davon, du nicht“, rief mir eine innere Stimme zu. Ich steckte die linke Hand in die Manteltasche, mechanisch, und griff nach dem kühlen Eisen. Ein Knall zerfetzte den Frühling, die feierliche Parade. Vögel flatterten auf. Er schaute mich an, überrascht. Ich lächelte nicht. Er fiel, hinterrücks die Stufen hinab, und blieb bewegungslos liegen. Ein roter Fleck verschmutzte sein weißes Hemd unter dem Herzen. Leute schrien. Blitzlichter regneten auf mich ein. Ich stand ruhig über ihm, bis mich große Hände wegschleppten.
Fertig. Ich lege den Stift auf das letzte Blatt. Ja, jetzt bin ich fertig mit dir und kann dich endlich vergessen. Müde stecke ich mir eine Zigarette an, atme tief ein und blase den Rauch in die Luft über mir, in dem sich das Ungeheuer auflöst. Ich habe den Mörder meiner Tochter erschossen. Erleichterung strahlt über mein ganzes Gesicht. Monika Seiler wendet sich ab. Sie sieht in mir bloß eine Täterin, die Selbstjustiz geübt hat. Ich hingegen sehe mich als Retterin meiner Seele. Mein Kopf ist nun leer, mein Herz frei. Ich fühle mich bereit und nehme die Schuld auf mich, meine noch verbleibende Zeit in dieser Zelle zu verbringen. Hier, nur hier bin ich Anienne so nah. Und ich höre ihre Stimme, die mich erfüllt.
Für andere singt Anienne nie wieder.
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2023
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