Wir sitzen in einer dunklen Ecke der Bar und schweigen. Ich starre vor mich hin. Aline zittert noch immer. Sie fingert am Glas herum, kaut auf den Lippen und stürzt den Whisky schließlich in einem Zug runter.
„Slainte bhath, sagen hier die Schotten“, sage ich dünn und versuche ein Lächeln, das völlig schief geht. Sie runzelt die Stirn. Ich schaue weg. Mein Blick wandert durch die Schankstube und bleibt an einem Mann hängen, der an der Theke hockt, eine Zigarette raucht und gemächlich in einer Zeitung blättert. Er trägt ein abgetragenes Tweed-Jackett und Gummistiefel. Wohl ein Farmer aus der Gegend, denke ich.
„Was war das?“, flüstert Aline aufgeregt, heiser. Der Schrecken hallt in der Stimme nach.
„Ich weiß es nicht.“
„Und dann dieser unheimliche Mann – mein Gott, er war so … so unwirklich.“
„Ja.“ Ich nippe am Tennent’s, ein helles Bier, nicht an meinem geliebten Guinness. Im Moment kann ich kein schwarzes Gebräu sehen, das mich an den verfluchten See erinnert.
„Ich verstehe dich nicht! Du bist total cool.“ Sie schluckt. Die sattgrünen Augen füllen sich und der Mund bebt. „Wir könnten tot sein!“
„Ach, Aline.“
„Das ist alles deine Schuld. Du wolltest unbedingt zu diesem See hinauf.“
„Schon gut, beruhige dich. Muss ja nicht gleich die ganze Welt mitbekommen.“
„Ich will nach Hause.“ Sie springt auf, zieht hastig den Reißverschluss der feuchten Jacke hoch und stülpt die Kapuze über die kurzen braunen Locken.
„Wie stellst du dir das vor? Wir sind in irgendeinem Nest irgendwo in der Pampa. Ich muss mich erst einmal zurechtfinden. Also, setze dich wieder hin. Bitte.“
„Jetzt sofort! Ich habe genug von den Highlands.“
„Konnte ich denn wissen –“
„Excuse me.“ Der Mann an der Theke schlurft herüber. Er riecht nach Alkohol und Schafen. Und er ist eine Frau. „Sie waren am Loch an Eich Dhuibh und haben das Geheimnis gesehen, nicht wahr? Ein gefährliches Geheimnis umgibt den schwarzen Drachensee. Und Lachlann Mòr MacMhuireadhach ist sein Wächter.“ Die englischen Worte schmirgeln und rasseln aus einer verstümmelten Kehle.
„Hey Sibeal, lass die Leute in Frieden. Und verschon sie mit deinen Schauermärchen“, ruft der Wirt, ein vierschrötiger Kerl mit rotem Bart und Armen wie Baumstämme. Er trocknet gelangweilt Gläser. „Achtet nicht auf die alte Hexe.“
Die Frau rückt näher. Sie mustert unsere Gesichter, eindringlich, stumm, und blickt uns tief in die Augen, als suche sie darin jemanden, den sie kennt. Dann lächelt sie, zahnlos.
„Ja, da ist der Tarff von Carnmore.“
Ein Tarff? Die Frau labert unglaubliches Zeug. Wie der Wirt schon sagte, ein Schauermärchen eben. Ich höre kaum noch hin. Und doch, haben wir nicht jenes widerliche Ding gesehen, das sie den Tarff von Carnmore nennt? Keinen blassen Schimmer. Was genau es war, lässt sich nicht beschreiben. Weder Mensch noch Tier. Eher ein Gebilde der Fantasie, jetzt. Lediglich der seltsame Mann mit dem unaussprechlichen Namen, der sich wie ein einziger endloser Kratzlaut anhört, saß auf einem Stein direkt vor uns. Wirklich? Ich bin mir nicht mehr sicher. Deshalb nimmt uns wohl auch niemand die Geschichte ab, die wir im schottischen Hochland erlebt haben. Außer diese Sibeal vielleicht. Aber wir sind entkommen, nur das zählt.
Eigentlich stand das ganze Abenteuer unter einem schlechten Stern. Nach dem Frühstück in der Jugendherberge stritten wir uns nämlich über die weitere Reise durch den Norden Schottlands, aber die Sonne betörte Aline und wischte die missmutige Stimmung aus ihrem Gemüt, das der Regen in den letzten Tagen etwas aufgeweicht hatte. Geschickt zeigte sich der Mai von seiner besten Seite. Die Landschaft blühte auf und über den azurblauen Himmel zogen kuschelige Wattebäusche dahin. Jetzt hatte ich leichtes Spiel, viel zu leichtes Spiel, und setzte mich wieder einmal durch, zerstreute Bedenken, raspelte Süßholz und verdrehte Aline den Kopf. Dabei hätte ich auf sie hören sollen. Andererseits konnte ich mir selbst in den schrecklichsten Albträumen kaum vorstellen, was dort draußen im Hochland auf uns lauerte.
Dann lächelte mich Aline an.
„In Ordnung, du hast mich überredet.“
„Du bist ein Schatz“, rief ich heiter und schloss sie in die Arme. „Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen. Die Great Wilderness ist das letzte unberührte Refugium mit klaren Bächen und wundervollen Seen, die zu Picknicks einladen. Dann die majestätischen Berge von An Teallach, verborgene Täler, weite Moore, Hirsche, Fasane, vielleicht sogar einen der seltenen Adler, märchenhafte Wälder mit knorrigen Eichen, ja selbst Feenhügel – also, Natur pur. Und der Fionn Loch muss einer der schönsten Seen der Gegend sein, wenn nicht von ganz –“
Aline küsste mich auf dem Mund. „Wir sollten aufbrechen, bevor ich es mir anders überlege.“
Der Feldweg führte uns in einen Hain aus silbernen Birken, saftigem Farn und wuchtigen Steinen, die von Flechten bewachsen waren. Sie wirkten in dem Grün wie graue Soldaten, nein, eher wie Aussätzige, die traurig und stumm dahockten. Vielleicht sind sie nur verhext, träumte ich vor mich hin und hörte sie beinahe murmeln, ein schwaches leises Seufzen. Nebenan plätscherte ein Bach, irgendwo in der Nähe rauschte ein Wasserfall.
„Ein richtiger Zauberwald“, sagte ich gedämpft, als fürchtete ich, die Steine könnten erwachen.
„Ja, phantastisch. Mir gefällt es hier sehr und ich bin wirklich froh, hast du mich für die Wanderung begeistert.“ Sie blieb plötzlich stehen. „O nein.“ Der Saumpfad wand sich in engen und ausgetretenen Serpentinen steil den Berg hinauf.
„Sieht schlimmer aus, als es ist. Ein Katzensprung“, bemerkte ich nachlässig. Aline warf mir einen schiefen Blick zu.
„Hm. Da fährt wohl keine Seilbahn hoch, oder?“ Ihre Lippen kräuselten sich und die Nase zuckte. Sie schmunzelte.
Ich schüttelte den Kopf. „Äh … nein.“
„Na schön, bringen wir es hinter uns.“
„Denk nur an die grandiose, überwältigende Aussicht, die uns auf dem Gipfel erwartet.“
„Das macht die Sache nicht unbedingt leichter. Gehen wir.“
Wir kamen schnell voran und erreichten kurz vor Mittag die Anhöhe, auf der sich ein weites Plateau erstreckte und sanft dahinwellte. Überall blühte Ginster tief gelb in der Sonne. Das spärliche Gras leuchtete intensiv grün und die kleinen Seen in der Ferne glitzerten indigoblau. Darüber spannte sich der endlose Himmel einem königlichen Baldachin gleich. Die ganze Szenerie strahlte wie ein üppig koloriertes Gemälde in starken, dick aufgetragenen Farben und wirkte daher etwas kitschig und beinahe surreal, aber gerade deswegen so überwältigend und atemberaubend. Eine leichte Brise strich nun über dieses bunte Kunstwerk der Natur. Es duftete nach Vanille und Frühling – und Regen.
„Es ist wunderschön. Der Aufstieg hat sich wirklich gelohnt“, schwärmte Aline. Sie konnte sich nicht sattsehen. Ich hingegen misstraute der Idylle und schaute hektisch zurück.
„Die Spielverderber rücken an.“
„Wer?“
„Na die finsteren Mistkerle am Horizont“, sagte ich und nickte zur Seite. Dort krochen schweren Wolken heran, prallten gegen das gewaltige Gebirge und türmten sich zu schwarzen Ungeheuern. Der Himmel verschwand. Im Nu legte sich die Dämmerung über die Landschaft, während uns auf einmal ein eisiger Wind scharf um die Ohren pfiff. Rasch zogen wir die Sturmjacken an und zurrten die Kapuzen unter dem Kinn fest. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick tobte das Unwetter. Eine Flut aus Regen und Schnee stürzte auf uns nieder. Wir kämpften eine Böschung hinunter und stapften durch völlig aufgeweichte Erde. Ich rutschte im Morast aus, biss auf die Zähne und fluchte etwas. Da sah ich die Hütte.
Kleine Flammen züngelten im Kamin. Aline und ich kauerten dicht am Feuer und wärmten unsere klammen Finger. Die nassen Sachen hingen quer im Raum an einer Schnur.
„Wir hätten nach Andalusien fahren sollen“, sagte ich bitter.
„Dann hätten wir bestimmt schon einen Sonnenbrand.“ Aline sah mich an. Wir brachen in schallendes Gelächter aus.
„Ach, Aline. Ich liebe deinen Humor. Komm her.“ Sie neigte sich zu mir herüber und ich küsste sie.
In dem Moment flog die Tür auf. Jemand warf sich hastig in die Hütte, triefend und schlammverschmiert, knallte die Tür hinter sich ins Schloss und stand reglos im fahlen Licht der Deckenlampe und keuchte angestrengt. Dann zerrten Fäustlinge die Kapuze vom Kopf.
„Hi!“, schnarrte eine Männerstimme in amerikanischer Manier. „Mann, was für ein verdammtes Scheißwetter. Eine einzige Katastrophe.“
Der Kerl in teurer Markenwäsche war mir gleich unsympathisch. Er hockte sich zu uns ans Feuer und redete und redete und redete.
Jonathan Albright kam aus dem sonnigen San Diego, studierte an der berühmten Universität in Berkeley, gewann letztes Jahr die kalifornischen Meisterschaften im Longboard-Surfing und spielte in einer Coverband, die selbstverständlich Songs der Beach Boys zum Besten gab.
„Und, was führt dich an diesen nasskalten Ort“, sagte ich, nur um etwas zu sagen.
„Die Neugier …“ Jonathan hielt inne, ausdrucksvoll, und versuchte Spannung aufzubauen. Er langweilte mich. „Ihr müsst wissen, bei uns drüben an der Uni ist Schottland absolut gefragt. Wir kippen nur noch Single Malts, klopfen gälische Sprüche und tragen Schottenröcke. Ich wollte natürlich einen Schritt weiter gehen, mich wie ein richtiger Highlander fühlen. Mel Gibson, Liam Neeson und Christopher Lambert haben es ja vorgemacht. Zudem wollte ich unbedingt in Ruinen nach Geschichten schnüffeln, Hügel besteigen, durch gottverlassene Landstriche ziehen und in einem abgeschiedenen Kaff ein Bier schlürfen und dabei mit den Einheimischen tratschen. Kurz entschlossen ging ich in den nächsten Outdoor-Shop, kaufte mir wasserdichte Kleidung und ein Buch mit anspruchsvollen Hiking Trails, hüpfte in den erstbesten Flieger nach Glasgow, folgte dem West Highland Way nach Fort William, fuhr in einem abgefuckten Bus weiter in den Norden und bin heute in Poolewe zur letzten Expedition in diese Wildnis aufgebrochen. Allerdings hatte ich nicht mit einem solchen Scheißwetter gerechnet.“
„Du kommst aus Poolewe? Wir wollen morgen dorthin. Wie sieht denn der Weg aus?“, fragte Aline gespannt und für eine Atempause verstummte der Kerl aus Kalifornien, der mir allmählich auf den Sack ging.
„Der Weg nach Poolewe? Na ja, da ist kein Weg. Nur tosende Bäche und Sumpf. Hätte ich keinen Kompass, ich hätte mich in dem entsetzlichen Gelände auf ewig verfranzt.“ Er spitzte den Mund, schnitt eine dämliche Grimasse und warf locker ein Holzscheit ins Kaminfeuer. Funken stoben auf, gierige Flammen loderten. „Im Übrigen braut sich da draußen ein hässlicher Schneesturm zusammen. So was kann ich meilenweit gegen den Wind riechen. Und der brüllt gerade ziemlich deftig, findet ihr nicht? Womöglich ist er stinksauer auf uns, weil wir es hier drin schön gemütlich haben.“ Jonathan grinste über seinen Witz ganz für sich allein und räusperte sich. „Okay, wie dem auch sei, wenn ich euch wäre, würde ich in der Hütte abwarten. Ich dagegen muss natürlich weiter und die Maschine in Inverness erwischen, die mich zurück nach Glasgow und letztlich in die Heimat bringt. Habe meine Studienreise abgeschlossen.“
„Schwätzer!“, sagte ich zu Aline. Er verstand kein Deutsch. „Ich wette, er kann den tollen Kompass gar nicht benutzen. So wie der aussieht.“
„Du bist gemein“, raunte mir Aline entgegen.
„Ist doch wahr. Der Weichkäse hat doch keine Ahnung. Er mag vielleicht auf dem Surfbrett eine halbwegs anständige Figur machen, aber die Highlands sind eine Nummer zu groß für ihn. Er kam angekrochen, als ginge er auf dem Zahnfleisch.“
„Jetzt übertreibst du aber.“
„Is was?“ Der Amerikaner hob die Augenbrauen. Aline schüttelte den Kopf, ich schaute ins Feuer. „Okay, Zeit für mich. Ich muss morgen früh raus und brauche meinen Schönheitsschlaf. War nett mit euch zu plaudern. Und falls ihr mal genug von dem Scheißwetter habt und ins sonnige Kalifornien kommt, dann klopft einfach bei mir an. Bye-bye and take care.”
Später kuschelte Aline im Schlafsack nahe an mich heran und legte den Kopf auf meine Brust. Ich sog den blumig feuchten Duft ihrer Haare ein.
„Meinst du nicht auch, wir sollten umkehren und zurück nach Corrie Hallie gehen?“, flüsterte sie und ich spürte ihren Atem auf meiner Haut.
„Aline, wir sind für alles gerüstet. Im Gegensatz zu dem Yankee. Der Penner kann bestimmt keine Karte lesen, sofern er überhaupt eine hat. Ich schon.“
„Und der Schneesturm?“
„Pah! Er wollte sich doch bloß wichtig machen, vergiss ihn. Schlimmstenfalls bekommen wir etwas mehr Regen. Ist hier nichts Ungewöhnliches, oder?“ Sie zögerte. „Komm Aline, wir haben uns doch so sehr auf den Trip gefreut. Unberührte Natur, Stille, Zweisamkeit. Aline, bitte. Vertrau mir.“
„Tue ich das nicht immer.“
Gegen acht Uhr brachte ich Aline eine Tasse Instantkaffee ans Bett. Wie immer mit zwei Stück Zucker und einem Spritzer Dosenmilch. Sie sah süß aus im Schlaf. Das Gesicht wirkte völlig entspannt, die braunen Locken standen wild nach allen Seiten und der Mund war leicht geöffnet. Ich führte die Tasse langsam an ihrer Nase vorbei. Sie schnupperte.
„Guten Morgen, Sonnenschein“, säuselte ich leise und küsste sie auf die Wange. Sie räkelte sich schnurrend. „Piep, acht Uhr. Sie hören die Nachrichten von BBC Special: Ein amerikanischer Blödmann, der gestern Abend ein freundliches Paar in der Schutzhütte bei Shenavall genervt hatte, wurde kurz nach Tagesanbruch beobachtet, wie er lässig über einen Stacheldraht springen wollte, daran hängen blieb und schließlich weniger elegant in ein Schlammloch klatschte.“ Sie schmunzelte, die Augen geschlossen. „Weiter. Das Frühstück ist fertig. Die Kleider sind trocken. Und der Himmel glänzt … in hellem Grau. Kein Regen weit und breit. Nirgends auch nur die kleinste Schneeflocke in Sicht. Von wegen, so was kann ich riechen, dieser Idiot. Wahrscheinlich hampelt er wie ein aufgescheuchtes Moorhuhn in der Gegend herum und sucht nach haushohen Wegweisern. Nun, das waren die erfreulichen Meldungen des Tages.“
„Und die schlechten?“ Aline gähnte. „Danke für den Kaffee.“
„Es gibt keine. Also, raus aus den Federn und rein ins Vergnügen.“
Die Schutzhütte konnten wir gerade noch sehen, als sich der Pfad in einem stark verästelten Fluss auflöste. Ein rauschendes Gewirr aus braunen Bächen floss schnell über die Heide, wusch tiefe Spuren in die schwarze Erde und spülte Binsen fort. Wir verstummten. Unsere fröhliche Plauderei, unser Lachen war wie weggewischt.
„Jonathan hatte recht.“ Aline starrte in die Sumpflandschaft. „Hier ist kein Weg. Lass uns umkehren.“
„Doch. Wir hüpfen einfach über die Steine.“
„Das schaffe ich nie. Sie liegen viel zu weit auseinander.“
„Dann waten wir eben hindurch. Das Wasser dürfte nicht sehr tief sein, etwas kühl vielleicht, aber kaum gefährlich.“ Ich legte den Rucksack ab und nestelte an meinen Schnürsenkeln.
„Tolle Idee. Was machst du da?“
„Na, Schuhe und Socken ausziehen, was sonst.“
Aline grinste. „Du bist verrückt, weißt du das? Du willst da wirklich rüber.“
„Ja.“ Ich lächelte zurück. „Und du auch.“
„Nie im Leben.“ Sie schüttelte lachend den Kopf.
„Keine Sorge, hier gibt es weder Piranhas noch Krokodile. Nur Lachse, Forellen und irisches Moos.“
„Irisches Moos. In Schottland.“
„Tja, in Zeiten der Globalisierung ist alles möglich.“ Ich krempelte die Hosenbeine übers Knie hoch, stopfte die Socken in die Wanderschuhe, knüpfte die Schnürsenkel zusammen und hängte mir das Bündel um den Hals. Schließlich warf ich mir den Rucksack an die Schultern. „Ich gehe vor.“
„Nur zu.“ Aline kicherte. Ich musste wohl wie ein Kranich ausgesehen haben, da ich umständlich über den schwammigen Boden stakste und dabei den Kopf vor und zurück schob. Ging nicht anders. Die Füße sanken immer wieder im nassen Torf ein und ein braunschwarzer, grün gesprenkelter Brei quoll schmatzend durch die Zehen. Sah eklig aus, ließ mir jedoch nichts anmerken. Ich tappte in den Fluss hinein. „Boah!“
„Das Wasser ist sicher eiskalt.“
„Herrlich!“ Ich sog die Luft zwischen den Zähnen ein. „Komm rein. Kneippen und Aqua Jogging sind gesund und erfrischend anders. Also, was stehst du da noch rum?“
„Du bist echt irre. Ich komme ja schon.“
Eine Viertelstunde später lagen die vielen Bäche und Sümpfe hinter uns. Wir hockten Schulter an Schulter auf einem Stein, wischten die Füße mit dem Badetuch sauber und lachten. Keiner von uns bemerkte die Schneeflocken, die vereinzelt im Wind tänzelten.
„War doch gar nicht mal so übel, oder?“ Ich schaute Aline an. Sie hob die linke Augenbraue.
„Na ja, hatte mir eine Thalasso-Therapie eigentlich anders vorgestellt. In einem sonnigen Wellness-Hotel mit Sicht aufs Meer und warmen Bädern. Wie in Andalusien.“
Sie lächelte mich an. Die Augen glänzten und die Wangen glühten. Wir küssten uns. Ich schmeckte das Salz auf ihren Lippen und umspielte ihre Zunge, sanft und liebkosend. Meine Kopfhaut kribbelte. Ein Gefühl der höchsten Wonne entfachte das Feuer der Leidenschaft und schoss mir heiß ins Gesicht. Ich spürte ein Prickeln, erst anregend und zärtlich, dann nass und kalt – lästig.
Das Feuer erlosch. Rasch schlug ich die Lider auf und musste blinzeln. Schneeflocken wirbelten in dichten Strömen herum, ein feines Gestöber wie kristallisierter Zucker, der auf der Haut sofort dahin schmolz.
„Schlechtes Wetter zieht auf. Wir sollten uns auf die Socken machen“, sagte ich trocken und blickte argwöhnisch gegen den Himmel. Hastig zog ich meine Schuhe an.
„Der Schneesturm kommt“, sagte Aline. „Jonathan hat uns ja gewarnt.“
„Ein Kalifornier. Vergiss ihn endlich.“
Der schöne Augenblick der Nähe zwischen uns war weit weg. Genau wie die Schutzhütte, die nach und nach im Schneetreiben versank. Immer dichter, immer heftiger viel die weiße Pracht und deckte ziemlich rasch die Landschaft zu. Die Temperaturen fielen schlagartig.
„Wir kehren um zur Hütte, ja“, sagte Aline mit Nachdruck.
„Nein, wir gehen hier lang.“
„Wieso nicht?“
„Willst du nochmals durch die Sümpfe?“ Aline schüttelte den Kopf. „Es gibt da noch eine andere Hütte bei Carnmore, besser gesagt, eine alte Baracke, etwa drei Kilometer von hier. Dort sind wir sicher.“ Aline atmete schwer und ließ den Kopf hängen.
„Alles okay?“ Ich hob ihr Kinn an. „Wir schaffen das.“ Sie nickte.
Ich stapfte davon, stemmte mich energisch gegen das Unwetter. Der Wind zerrte an meiner Jacke und peitschte mir Hagelkörner ins Gesicht.
„Warte auf mich“, rief Aline. Sie hörte sich leise an.
Die Stirn gerunzelt drehte ich mich um. Wo war sie? Wo war ich? Ein undurchdringlicher grauer Schleier hüllte mich ein. Das Herz begann zu rasen, schlug in meinem Hals. „Aline, wo bist du?“ Ich brüllte mir die Seele aus dem Leib, rannte zurück und fand sie nicht. War ich noch auf dem richtigen Weg? Ein Weg? Ich sah kaum die Hand vor Augen. Wie sollte ich da Aline sehen? Ich könnte glatt an ihr vorbeigelaufen sein, vorhin.
„Ich bin hier.“ Sie schrie und ich konnte ihre Angst hören.
„Wo denn?“ Ich schluckte jede Menge Schnee.
„Hier.“
Plötzlich fiel mich etwas an. Aline. Ich drückte sie fest an mich, wollte sie nie mehr loslassen. Sie weinte in meinen Nacken.
„Ganz ruhig. Ich halte dich.“
Nach einer Weile, in der wir eng umschlungen da standen, sagte Aline: „Was nun?“
„Mach dir keine Sorgen. Wir haben eine Karte und einen Kompass. Ich verspreche dir, wir finden unseren Weg. Gib mir deine Hand.“
Elend langsam tappte ich durch den Schneesturm, führte Aline beinahe wie ein Blinder und folgte seit Stunden dem Kompass nach Westen, geradewegs der schützenden Baracke entgegen. Ich spürte ihre Hand in der meinen. Hin und wieder hielt ich Ausschau, sah jedoch nichts als einen Vorhang aus Schnee und Graupel, der immer wieder die Sicht auf die Gegend verbarg. Dennoch hätten wir längst in Carnmore sein müssen. Auf einmal beschlich mich eine düstere Vorahnung, eine innere Stimme, die zweifelte und doch wusste. Die Gewissheit traf mich dann auch wie ein Fausthieb in die Magengrube. Langsam drehte ich den Kompass in alle Himmelsrichtungen. Die Nadel zeigte stur auf Westen.
„Ich kann nicht mehr“, stöhnte Aline. Sie blieb stehen und massierte die Oberschenkel. „Meine Beine brennen und die Füße tun mir weh. Ich bin total erschöpft. Können wir nicht eine Pause einlegen?“
„Ja … äh … sicher“, stotterte ich und biss mir auf die Lippe. Ich durfte mir auf keinen Fall etwas anmerken lassen. In diesem Augenblick schob sich eine dunkle Silhouette mächtig aus dem Schneetreiben. „Gehen wir zu den Felsen hinüber. Dort sind wir geschützt und können uns ein wenig ausruhen. Ich koche uns eine schöne heiße Suppe. Was sagst du dazu?“
„Klingt großartig.“ Sie seufzte.
„Wir sind bestimmt bald da“, log ich und erwähnte mit keiner Silbe den defekten Kompass. Vielleicht waren wir ja tatsächlich in der Nähe der Hütte. Vielleicht aber auch meilenweit davon entfernt. Jedenfalls wollte ich Aline nicht unnötig beunruhigen und Zeit gewinnen. Denn sobald sich das Wetter beruhigte, würde ich mich anhand der Landkarte sicher recht schnell orientieren können. Also schwieg ich.
Die Höhle war nahezu gemütlich. Aline saß neben mir auf einem riesigen verdrehten Ast, der wie eine Bank unter dem gewölbten Felsendach stand. Wir schlürften Gemüsesuppe und sahen in den Sturm hinaus, der unablässig Schneeregen vor sich her trieb. Wir hockten im Trocknen.
„Magst du auch?“ Ich hielt Aline einen offenen Beutel mit Butterkeksen hin.
„Gerne.“ Sie knabberte genüsslich an dem Keks. Wir schwiegen lange, während draußen der Sturm nachließ. Nur noch wenige Schneeflocken schwirrten herum. Auf der Wanderkarte suchte ich nach den markanten Punkten der Landschaft. Der Sturm war vorüber, die Sicht klar. Ich erkannte nichts.
„Wo sind wir?“, fragte Aline und schaute auf die Karte.
„Wenn ich das wüsste.“
„Soll das ein Scherz sein? Da vorne ist ein See.“
„Hier sind viele Seen eingezeichnet und ich weiß nicht, welcher er ist.“
„Aber … aber die Form dieses Sees ist doch sehr ungewöhnlich, sieht aus wie ein schwarzer Drachenkopf. Der müsste doch auf der Karte zu finden sein“, stammelte Aline erregt.
„Eigentlich schon. Fragt sich nur, befinden wir uns noch im Gebiet dieser Karte?“
„Was soll das heißen? Wir haben doch einen Kompass.“ Aline fixierte mich. Mir blieb keine andere Wahl, ich musste nun alles erzählen.
„Aline, der Kompass ist futsch.“
„Was? Ein Kompass geht doch nicht einfach so kaputt. Zeig mal her.“
„Glaub mir, die Nadel hängt fest. Ich weiß auch nicht –“ Aline schnappte sich den Kompass, schüttelte ihn heftig hin und her, starrte auf die Windrose, schüttelte nochmals und drehte sich. Die Nadel zeigte in jeder Richtung nach Westen.
„So ein Mist! Ich habe dir ja schon in der Jugendherberge gesagt, wir sollten die Finger von der Wildnis lassen. Aber du, du hast es wieder besser gewusst.“
„Ich kriege das schon irgendwie hin.“
„Wie denn?“
„Lass mich nachdenken. Es gibt immer eine Lösung.“ Mein Blick verlor sich in der Karte.
„Natürlich, wir gehen schnurstracks zur nächsten Busstation und steigen in den 35er.“ Aline warf die Arme in die Luft. „Ach, jetzt kommt auch noch der Nebel. Und wer ist das?“
Ich riss den Kopf hoch. Da tauchte plötzlich ein Mann aus dem Nichts auf, ein Hüne. Und er kam auf uns zu. Er war fest eingehüllt in ein dreckverkrustetes Plaid und hielt einen schweren Stab in den großen Händen. Ein Schäfer, sagte ich mir, der kennt sich hier aus.
„Dia dhaoibh. Ta an la go deas.“
„Was hat er gesagt?“, fragte mich Aline. Ich zuckte die Achseln. Der Mann setzte sich auf einen Stein und sprach leise weiter. Er war blass wie eine Totenmaske. In dem schmalen Gesicht leuchteten große Augen von ungewöhnlich heller Farbe, die leicht vorstanden. An der Mütze baumelte etwas Glitschiges. Erinnerte mich an Algen oder Tang. Erst jetzt entdeckte ich sein langes Haar, das über Schultern und Brust an dem schmutzigen Umhang klebte. Darunter tropfte der Saum des karierten Rocks. Ein Rinnsal, dickflüssig und braun, kroch dem Mann die blanken Beine hinab. Er trug keine Schuhe. Die Füße waren breit, pelzig. Wahrscheinlich sah er verwildert und schmuddelig aus. Ich kümmerte mich nicht darum, hörte nur noch zu.
„Gälisch“, flüsterte ich benommen. „Er spricht Gälisch, die Sprache der Kelten.“ Seine Worte rieselten weich aus dem kantigen Mund. Ich verstand rein gar nichts, lauschte einzig dem Klang seiner Stimme, die lockte, verführte und mich schließlich auf einer Woge der absoluten Entspannung davontrug in eine andere Welt, eine aquamarine Welt voll Schönheit, die mich berauschte, geschmeidig umfloss und Schritt für Schritt in die Tiefe zog. Ich ertrank. Spürte keine Angst, keinen Schmerz. Nur Leichtigkeit. Um mich herum schimmerte ein unbekanntes Universum, türkisfarben und smaragdgrün. Musik. Harmonie. Glück. Und mitten drin jene übernatürliche Stimme, die mich wohlbehütet durch die Dunkelheit führte. Carnmore war zum Greifen nahe.
Dann stieß mich jemand in die Seite. Ich strudelte zurück an die Oberfläche, tauchte prustend auf und hustete, als hätte ich Wasser in den Lungen. Was für ein seltsamer Anfall. Lichtblitze zuckten vor meinen Augen. Fragmente aus Bildern flammten auf und erloschen sogleich. Ich stieg aus den Fluten des drachenköpfigen Sees. Eine Sinnestäuschung, flüchtig und kaum wahrnehmbar. Keine Erinnerung mehr.
„He, warte einen Moment. Und hör mir endlich zu“, zischte Aline.
„Uns bleibt uns keine Zeit. Wir müssen vor Einbruch der Nacht in Carnmore sein und er bringt uns hin.“ Ich schmiss unser Zeug blindlings in den Rucksack, sprang auf und musterte Aline vorwurfsvoll, die seelenruhig auf dem Ast saß und an einem blöden Zweig rumfummelte.
„Wie willst du das wissen?“ Der Zweig brach. „Wir verstehen den Mann doch gar nicht.“
„Ich weiß es eben“, sagte ich etwas schroff und spürte die Ungeduld in meinem Kopf hämmern. Aline wich zurück. „Entschuldige. Ich meine, der Stock, die Kluft … er ist ganz offensichtlich ein Schäfer und somit der einzige Mensch, der den Weg kennt. Ich fühle es.“
„Ist er das? Ist er wirklich ein Mensch?“
„Ha, du bist ganz schön ketzerisch. Aber jetzt komm.“
„Ich gehe nicht mit ihm mit. Wir beide sollten nicht mit ihm mitgehen“, sagte Aline nüchtern.
„Warum, um alles in der Welt?“
„Er ist mir unheimlich.“ Aline senkte den Blick. Sie zeichnete mit dem Zweig eine Spirale in den Staub, scheuerte sie weg und begann von vorn. Keltische Muster. Da erhob sich der Mann.
“Come, Lachlan Mòr MacMhuireadhach will show you the way to Carnmore.” Er ging davon, langsam, schleppend. Die Füße berührten kaum den Boden. An der Nebelgrenze blieb er stehen, schaute über die Schulter und winkte uns zu sich.
Ich biss die Zähne zusammen und beugte mich zu Aline hin, versuchte, meinen Ärger über ihre Sturheit zu unterdrücken.
„Was ist nun? Er wartet bestimmt nicht ewig auf uns.“
„Besser so. Er soll verschwinden.“
„Und wer, glaubst du, führt uns hier raus?“ Ich packte sie fest an den Schultern. „Der Weihnachtsmann? Oder die gute Fee?“
„Aua! Du tust mir weh!“ Ich ließ sie los.
„Aline. Er und nur er kennt sich in diesem abwegigen Gelände aus, okay? Und er kann uns zur Schutzhütte bringen. Wir sind wohl kaum dazu in der Lage, wissen nicht einmal, wo wir sind.“
„Das sehe ich ja ein. Nur, etwas stimmt nicht mit ihm. Er macht keine Geräusche, keine, weder im Gehen noch im Sitzen noch sonst. Und er riecht nicht, er riecht überhaupt nicht. Alles an ihm ist unwirklich, leblos, wie ein Schreckgespenst. Er macht mir Angst.“
„Du brauchst keine Angst zu haben. Er ist alt und schlecht in Form.“ Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. „Außerdem bin ich auch noch da. Und du hast einen Zweig der Eberesche.“
„Was soll das?“
„Nun, die Kelten sagen, die Eberesche habe magische Kräfte gegen bösen Zauber. Also, was kann uns schon passieren?“
„Du machst dich über mich lustig.“
„Nein, bestimmt nicht. Ich will uns einzig in Sicherheit bringen. Raus aus dem Nebel, raus aus dieser Sackgasse, zurück in eine warme Stube, an ein knisterndes Kaminfeuer, heißen Kaffee trinken und den ganzen Trip so schnell wie möglich vergessen.“
„Das möchte ich auch.“
„Dann komm. In der Schutzhütte bei Carnmore ist das alles möglich. Ehrenwort. Und der Mann bringt uns dort hin.“ Ich reichte Aline die Hand. Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen, nickte und nahm meine Hand, zögernd und schwach zwar, dann fest vertrauend, angespannt. Und ich brachte sie in Lebensgefahr, aus der sie uns beide retten musste.
Wir liefen dem Mann entgegen. Er drehte sich um und glitt in den Nebel hinein, in dem er auf der Stelle verschwand, kam jedoch kurze Zeit später wieder zum Vorschein, winkte und rief uns beharrlich die eine verheißungsvolle Botschaft zu, die gleichförmig und durchdringend über die Heide waberte wie ein Leitfeuer.
“Come, Lachlann Mòr MacMhuireadhach will show you the way to Carnmore”
Wie schnell wir auch rannten, den Mann holten wir nicht mehr ein, sahen nur die Umrisse seiner schmächtigen Gestalt aus dem Nebel schimmern und folgten seiner Stimme.
„Da vorne ist er. Komm Aline, schneller, sonst verlieren wir ihn“, keuchte ich und wunderte mich über die Geschwindigkeit, mit der sich der alte Mann im Morast bewegte. Er war eindeutig besser in Form als ich dachte. Dann passierte es. Nahe am See löste sich der Mann im Nebel auf, endgültig.
„Wo ist er? Siehst du ihn noch?“ Regen lief mir in die Augen. Ich hielt inne, spähte nach allen Seiten. Nichts. Er war spurlos verschwunden.
„So eine Scheiße, verdammt. Jetzt haben wir ihn verloren“, sagte ich aufgebracht. In Gedanken gab ich Aline die Schuld, weil sie viel zu langsam gewesen war. Sie fasste mich am Arm. Ich riss mich los, stampfte wie ein wild gewordener Pavian dem Ufer entlang und suchte nach dem Mann, der uns nach endlich Carnmore führen sollte. In meinem Rücken hörte ich Aline. Sie folgte mir.
„Wo rennst du denn hin?“
„Ich muss ihn finden. Warte hier auf mich“, rief ich Aline über die Schulter zu und rannte weiter.
Mit einem Mal zerfetzte ein ohrenbetäubendes Knurren die Stille, grollte und fauchte in endlosen Wellen über das Moor. Hörte sich an wie ein Gewitter. Aline schrie mir etwas nach, das ich nicht verstand. Die Erde bebte. Der Regen löcherte den Nebel. Ein schwarzer Fleck nahm Gestalt an, scharrte und schnaubte, bockte und bellte. Mein Magen rebellierte. Ich blieb stehen, starrte wie paralysiert auf das Gebilde, das sich mehr und mehr zu einer unbegreiflichen Erscheinung fortpflanzte und mich unweigerlich in den Bann zog. Mein Verstand spielte verrückt. Ich sah vor mir ein Fabelwesen, ein Ungeheuer – eine Ausgeburt der Hölle.
Die großen hellen Augen glühten und funkelten unter der breiten Stirn, aus der ellenlange und verbogene Hörner wuchsen. Gewaltige Hauer krümmten sich über geifernde Lefzen. Es öffnete die mächtigen Kiefer und bleckte die scharfzackigen Reißzähne. Am Hals pulsierten Kiemen. Der Fächer auf dem Rücken raschelte und der lange Fischschwanz flappte gefährlich hin und her. Ein tiefes Brummen drang aus dem borstigen Maul. Der Anblick erschreckte und fesselte mich zugleich, ließ mich nicht mehr los und wirkte seltsam vertraut. Die Augen, ich kannte diese gelben Augen, in denen nun Schwefel zu brodeln schien, und die jetzt aus einem anderen Gesicht hervortraten, einer dämonischen Fratze. Es bäumte sich auf die pelzigen Hinterhufe, raunte und fletschte die Zähne, spreizte die riesigen Pranken und fuhr die Krallen aus. Die Schuppen am Bauch glitzerten silbern in der Bewegung. Ich sah gerade noch Atemwolken aus geblähten Nüstern quellen, als Aline mich anschrie und in den Sumpf stieß. Die Pranke schoss nahe an meiner rechten Wange vorbei.
„Hau ab! Verschwinde, du Mistvieh“, kreischte Aline. Sie schleuderte Steine und wedelte heftig mit den Armen. Die Kreatur wich immer wieder zurück, trampelte herum und schnappte nach ihr. Die Hufe schlugen neben mir ein. Ich blieb einfach liegen und versuchte zu begreifen, was da geschah. Dann folgte ich einem natürlichen Trieb, rollte mich von dem grässlichen Ding weg, stand auf und rannte fort, strauchelte über die eigenen Füße und sah in das aufgesperrte Maul, das nach mir biss. Ich kreischte. Es bohrte seine Zähne in meinen Rucksack, zerrte daran und schüttelte mich wie eine Stoffpuppe.
Ich hing still in der Luft. Unter mir krallten sich Pranken in die Erde und über mir hörte ich wütendes Schnaufen und Gurgeln. In diesen Sekunden der tödlichen Gefahr dachte ich plötzlich an den Union Jack. Die britische Nationalflagge hatte Aline nach unserem letztjährigen Urlaub in Cornwall am Rucksack aufgenäht und dürfte nun von der Kreatur vollständig ruiniert sein. Schade darum.
„Lass los!“, rief Aline herrisch und holte kräftig aus. Der Zweig der Eberesche sauste nieder. Die Kreatur brüllte gepeinigt auf. Ich fiel in eine Wolke aus Wolle. Aline drosch wieder und wieder auf das Wesen ein. In das schöne schwarze Fell schnitt der Zweig klaffende Wunden, die schwitzten und eiterten. Kein Blut. Es schrie fürchterlich und sprengte schließlich davon. Aline half mir auf die Beine. Da lag das Plaid des alten Mannes neben dem Stab.
„Nein, es kommt zurück. Wir müssen weg hier“, sagte Aline und riss mich fort. Ich stand noch immer völlig neben mir, trottete willenlos hinter Aline her wie ein Betrunkener. Wir liefen und liefen, soweit uns die Beine trugen. Aline führte mich querfeldein durch das Hochmoor. Stechginster schrammte über meine linke Hand, Heidekraut knickte unter den Schuhen. Ich strauchelte. Aline zog mich hoch. In meinem Kopf klickte es endlich.
„Weg von diesem schwarzen See, nur schnell weg von dieser grässlichen Kreatur“, stammelte ich gegen den feuchten Dunst, der auf die Ebene kroch, alles in sich aufsog und jenes widerliche Wesen ausradierte. Zurück blieb eine unklare Erinnerung, ein Trugbild, das nach und nach verblasste.
Wir rannten einer lose aufgeschichteten Steinmauer entlang, an der Disteln und Heckenrosen blühten, als am Ende die ersten Häuser aus dem Dämmerlicht stiegen. Zivilisation. Realität. Befreiung. Ich stieß die Tür in einen Pub auf und suchte eine dunkle Ecke, in der wir uns versteckten. Dort setzte sich Aline mir gegenüber. Wir hatten es geschafft, hatten dem Tod ins Auge geschaut und überlebt.
Auf dem Flughafen in Inverness nehme ich irgendeinen Wälzer vom Stapel einer Buchhandlung, während Aline im Laden nebenan zwei Flaschen Mineralwasser kaufen geht.
Märchen aus Schottland. Ich lege die Stirn in Falten und schmökere etwas darin. Auf Seite 311 bleibt mein Blick an einem einzigen Wort hängen: Carnmore. Rasch überfliege ich den Text, blättere atemlos und lese gebannt, fiebrig.
Der Tarff von Carnmore ist ein furchterregendes Untier, tausendmal schrecklicher noch als das Monster von Loch Ness, und lebt in einem tiefschwarzen See, der wie ein Drachenkopf im Moor liegt, dem sagenumwobenen Loch an Eich Dhuibh. Der Legende nach nimmt der Tarff von Carnmore die menschliche Gestalt eines alten Schäfers an und lockt Eindringlinge von jenseits der Cheviot Hills an den See. Dort verwandelt er sich zurück in ein Ungeheuer, schnappt die Störenfriede, zieht sie auf den Grund des Sees und verspeist sie dort.
„Hier steht es Wort für Wort, was uns die Frau, wie hieß sie noch gleich, ach ja, Sibeal … ja, das hat Sibeal uns erzählt, bevor sie der Wirt aus dem Pub warf“, sage ich vor mich hin. „Und genau das ist mir passiert, jedenfalls beinahe.“
„Was liest du da?“ Aline steht plötzlich neben mir. Ich blicke auf.
„Die Wahrheit über unsere Begegnung am schwarzen See.“
„Hör auf damit. Und sieh mich nicht so an.“
„Sibeal wusste Bescheid. Sie –“
„Sie war sturzbetrunken.“
„Im Gegenteil. Mit einem Blick auf den Rucksack erkannte sie in uns die Eindringlinge aus dem Buch hier, die von jenseits der Cheviot Hills aus England kamen und die sich der Tarff von Carnmore auf den Grund des schwarzen Sees holt. Der verdammte Union Jack hat uns verraten.“
„Was redest du da?“
„Aline. Ich sah den Schlund des Drachensees, ein betörend schöner Abgrund, und sank immer tiefer hinein, geradewegs dem Tod entgegen. Steht alles hier drin.“
„Leg das weg.“ Sie nimmt mir das Buch aus der Hand. „Das ist ja ein Märchenbuch.“
„Nein, unsere Geschichte“, flüstere ich Aline ins Ohr. Mein Atem stockt. „Das Wesen war echt. Wir haben es beide gesehen.“
„Ich will nichts mehr davon hören. Denn wer würde uns glauben? Niemand. Besser wir vergessen wir die ganze Sache.“
„Sibeal schon. Lass uns zurück in den Pub gehen. Vielleicht erfahren wir noch mehr über –“
„Nein. Niemals. Hast du gehört? Nie-mals“, sagt Aline fest und nimmt mein Gesicht in die Hände. Sie schaut mich an. „Es ist vorbei. Wir haben es nie gesehen.“
In ihren Augen sehe ich den schwarzen See grün schimmern. Die Kreatur versinkt. Mein Kopf ist leer. Dann höre ich in weiter Ferne unsere Flugnummer über die Lautsprecher ansagen. Die Stimme einer Frau.
Sibeals Stimme.
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2022
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