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Die Fotografie in meiner Hand zittert. Vergilbtes Papier, ein blasses Gesicht und schon ganz rissig. Ich schließe die Augen, verborgene Bilder tauchen auf. Das harte Holz der Kirchenbank spüre ich nicht mehr und der Gesang verändert sich in meinen Ohren.

Kreischende Möwen in salziger Luft. Das Meer rauscht und wirft sich gegen die Felsen. Etienne schreit gegen die Brise, die mir kalt ins Gesicht schneidet. Ich packe ihn am Wintermantel. Er sieht an mir vorbei, wirft den Kopf in den Nacken und breitet die Arme aus, als wolle er davonfliegen. Er lässt sich rückwärts fallen, ich halte meinen Freund, dieses eine Mal, an jenem unbekannten Ort. Blüten, überall schweben Blüten auf der See und in meinen Augenwinkel schiebt sich der Leuchtturm, weiß und rot.

Du hast eine rot-weiß geringelte Wollmütze getragen, damals, mitten im Schnee. Ich höre dein helles Lachen. In deinen Augen schimmert die Farbe der Hoffnung. Lebendig.

Ich schaue nach vorne ins Halbrund. Auf dem Altar ruht ein Meer aus weißen Rosen. Mir schwindelt. Eine fremde Hand legt sich auf meinen Unterarm. Sie ist angenehm und leicht.
„Ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich –“
„Kommen Sie, etwas frische Luft wird Ihnen guttun.“ Die Frau neben mir führt mich hinaus. Ich atme rasch. Die Sonne streichelt über mein Gesicht und der Wind spielt in meinem Haar. Wir setzen uns auf eine Bank.
„Zehn Jahre, seither sind zehn Jahre vergangen. Eine lange Zeit, doch die Wunden heilen schlecht. Denn ein Abschied war nicht möglich, für niemanden, am allerwenigsten für Etienne. Er ist daran zerbrochen. Und ich? Ich bin entkommen.“ Ich blicke in den Himmel. Kondensstreifen.
„Sie hieß Angélique.“
„Sie meinen Angélique Bouvier? Ich habe sie leider nur sehr flüchtig gekannt. War sie eine Bekannte von Ihnen?“
„Ja, sie war die schönste Frau, die ich in meinem Leben gesehen habe. Angélique. Die Engelhafte. Wie passend für eine Flugbegleiterin, finden Sie nicht auch?“ Die Frau lächelt milde. Ich möchte mich an dieses Lächeln anlehnen. „Etienne hat sie Papillon genannt. Etienne. Von einer Therapie wollte er nichts wissen. Er vertraute nur mir. Ausgerechnet mir. Was habe ich bloß getan?“ Meine Hände sind rau, voller Kratzer. Die Spuren meiner Arbeit im Weinberg.

Ich knie in der Erde und schneide Weintrauben. Auf einmal sehe ich Etienne. Er kauert zwischen den Reben, hält sich an den eigenen Armen fest und schaukelt leicht vor und zurück. Ich traue meinen Augen nicht, er trägt gerade mal eine Pyjamahose. Er schaut auf.
„Salut Joël.“
„Etienne? Was machst du hier?“
„Papillon … mein Papillon hat sich die Flügel gebrochen und ist ins Meer gestürzt, Joël.“ Tränen rieseln ihm über die Wangen. „Joël, wo bist du?“ Er bricht zusammen.
Ich knabbere an meiner Unterlippe, als wir uns später die Nachrichten anhören. In seiner Küche sitzt Etienne auf einem Stuhl, stiert zum Radio hinüber und bebt am ganzen Körper. Schließlich wirft er die Vase samt Wiesenblumen gegen die unsichtbare Stimme.

„Wissen Sie, das Sträußchen hatte Etienne an jenem Morgen frisch gepflückt. Er wartete auf Angélique. Sie wollten heiraten und hätten noch Vorbereitungen treffen sollen. Stattdessen flogen wir nach Kanada in die Nähe der Absturzstelle. Als wir zurückkamen, veränderte sich Etienne. Er schickte seine Musikschüler weg und ging auch nicht mehr zu den Proben des Kammerorchesters. Er wollte niemanden sehen, schloss sich ein in sein Haus. Nur mich rief er jede Nacht an und fragte, wann Angélique auf dem Flughafen in Genf landen würde, er wolle nicht zu spät kommen. Jede Nacht. Ich besuchte ihn. Wir saßen am Küchentisch und schwiegen. Wie oft wollte ich mit ihm über das Unglück sprechen, wie oft habe ich versucht, ihn aus dem Elend zu ziehen, in dem er allmählich unterzugehen schien. Etienne hat mir nie zugehört. Dennoch stieg ich Tag für Tag hinauf in seine Hütte, die oben im Weinberg stand. Er liebte diesen Ort. Mit dem Duft welker Traubenblätter. Es war der Geruch unserer Jugend. Ich setzte mich ihm gegenüber. Irgendwann würde Etienne sein Schweigen brechen und reden wollen. Ich musste da sein für ihn. Und für mich. In mir stellte sich vermehrt ein Gefühl des … Glücks ein. Er hatte angefangen zu trinken, wirklich viel zu trinken. Dabei legte er stets dieselben elf Fotos von Angélique aus, die Rückseite nach oben, und reihte sie sorgfältig aneinander. Sein Zeigefinger kreiselte darüber hinweg. Langsam. Beständig. Von rechts nach links, von links nach rechts. In der Mitte hörte auf, rieb den Zeigefinger am Daumen. Er neigte den Kopf zur Seite, als ob sich dort seine Violine befände. Aber, er spielte nicht mehr, keine einzige Note. Er hatte seine Guarneri auf dem Steinfußboden zerschmettert. Da er nie wieder für Angélique spielen könne, wolle er für niemanden andern spielen. Und plötzlich stach er zu, zog das auserwählte Foto zu sich heran. In dem Moment schaute er mich an und lachte kurz auf. Ha, ich habe eine, sagte er, und drehte das Foto um. Angélique. Seine Fingerkuppen streichelten über ihr Gesicht. Er blickte mir in die Augen und forderte mich auf, ebenfalls ein Foto auszuwählen. Als ich meines umgedreht hatte, verließ Etienne den Raum. Es war ein Spiel. Ich habe es lange nicht verstanden. Erst als mir Etienne an unserem letzten Abend ein Foto von Angélique zuschob und die restlichen einsammelte, begriff ich.“
„Was für ein Spiel?“ Der Frau neben mir kräuseln sich Falten auf der Stirn.
„Nun, es ging um Angélique. Wir beide haben sie verloren, nicht nur Etienne. Ich etwas früher. Wohl deswegen bereitete mir sein Leiden manchmal Vergnügen. Ich … ich trage die Fotografie noch heute bei mir.“ Laub wirbelt im Wind wie Flocken. Gedanken fliegen.

Es schneit schon den ganzen Vormittag. Etienne steht vor meiner Tür. Er trägt eine Mütze aus Schnee und lächelt.
„Mir ist ein Schmetterling zugeflogen, Joël. Ein wunderschöner Papillon.“
„Mitten im Winter?“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
„Ja. Mit grünen Augen und kupferroten Haaren.“
„Na schön. Und wo hast du ihn?“
„Hier.“ Etienne zieht eine Frau zu sich heran. „Joël, ich möchte dir Angélique Bouvier vorstellen. Papillon, das ist Joël Despont. Er ist Winzer. Hüte dich vor seinem Mystère. Dieser Wein ist gefährlich und verleitet dich zur Sünde.“
Die Welt um mich herum löst sich auf. Ich stecke fest. Mir ist kalt, ich brenne. Der Kopf ist leer. Ich habe bloß Augen für sie. Unter der roten Wollmütze mit weißen Querstreifen kringelt neckisch eine Locke hervor und schmiegt sich an die hohen Wangen, die ich so gerne berühren würde. Der samtgrüne Blick wie Pfefferminze wärmt und kühlt mich. Die geschwungenen Lippen schenken mir ein Lächeln, das mich vollkommen berauscht. Mein Herz sprudelt über, der Verstand predigt. Ich höre nicht hin.
„Du solltest dich sehen, Joël, bist ganz weiß im Gesicht. War doch nur Spaß. Komm, entspanne dich wieder.“
Mir versagt die Stimme. Ich räuspere mich und bitte die beiden mit einer ungeschickten Handbewegung hinein.

„Etienne hatte natürlich Recht, es war der Wein. Seit der ersten Begegnung dachte ich immerzu an Angélique. Ich ging ihr nach, beobachtete sie aus sicherer Entfernung und traf sie wie zufällig, lud sie ein zu einem Kaffee. Bald schon genügten mir diese flüchtigen Treffen nicht mehr. Ich vergrub mich in die Arbeit, blieb der Stadt fern und versuchte Angélique zu vergessen. Doch wenige Tage vor dem Unglück vergas ich mich. Wie häufig an jenen spätsommerlichen Tagen schauten sie beide auf einen Aperitif bei mir vorbei. Wir saßen auf der Terrasse, tranken Wein und freuten uns über die Genüsse des Lebens. Die Sonne stand dicht am Horizont, als Etienne sich erhob. Er küsste Angélique auf die Stirn und fuhr zu den Proben des Orchesters. Angélique blieb, diesmal. Ich füllte die Gläser. Wir lachten und tranken. Sie erzählte mir von sich, der Arbeit im Flugzeug, Mode. Ich schnappte jedes Wort gierig in mir auf. Mitten hinein in dieses Verlangen öffnete ich eine Flasche Mystère und die süße Verführung der Edeltrauben vernebelte mir die Sinne. Meine Zunge war schwer und im Kopf surrte ein Wespennest. Gleichwohl fand ich Worte, die mich Angélique näher brachten. Ich legte meine Hand auf ihre und gestand meine Liebe. Ich wollte –“
Ich sehe die Szene deutlich vor mir und streiche mir übers Gesicht. Ich atme den würzigen Duft von Herbstlaub ein. „Angélique streichelte mir die Wange und schüttelte den Kopf. Sie sagte mir, dass sie Etienne heirate. Sie stand auf und ging. Ich rannte ihr nach, riss sie an der Schulter herum und küsste sie, presste meine Lippen auf ihre, bis es schmerzte. Sie schlug mir ins Gesicht. Ich kam zu mir. In ihren Augen erkannte ich Bestürzung und unendliche Traurigkeit. Ich stammelte eine Entschuldigung nach der anderen, flehte sie an. Sie fuhr weg, ohne etwas zu sagen. Ich sah Angélique nie wieder.“
Ein Telefon klingelt. Die Frau neben mir schaltet es ab. Es klingelt weiter, in meinem Kopf. Eindringlich.

Ich liege im Bett und blicke zum Wecker hinüber. Mitternacht, wie üblich. Ich drehe mich auf die andere Seite. Es klingelt immer noch. Ich krieche unter die Laken. Es ist Etienne. Ich will nicht ran gehen. Das Klingeln macht mich verrückt. Ich renne zum Apparat, bleibe stehen und schreie das Ding an. „Hör endlich auf! Lass mich in Ruhe, Etienne!“ Das Klingeln verändert sich in meinen Ohren. Ich hebe ab.
„Salut Joël.“
„Etienne, sie kommt nicht zurück. Angélique ist tot.“
„Ich weiß. Du freust dich ja jedes Mal darüber, wenn wir uns sehen, nicht wahr? Ich sehe es an deinen Augen, Joël. Aber, ich bin dir nicht mehr böse. Nur enttäuscht.“
„Was redest du da? Du bist betrunken.“
„Das ist dir also entgangen. In letzter Zeit steht keine Flasche mehr auf meinem Tisch. Du hattest eben bloß Augen für Angélique.“
„Hör zu –“
Etienne hängt ein. Ich stehe im Flur, den Telefonhörer in der Hand. Die Zeit verrinnt. Ich lege auf und irre umher. Gedanken kreisen in meinem Kopf, bleiben plötzlich hängen. Etienne! Ich ziehe mir schnell was über, stecke die Schlüssel ein und laufe in den Schuppen nebenan, steige aufs Motorrad und fahre den Schotterweg hinauf zu seinem Winzerhäuschen. Ich drehe den Gasgriff bis zum Anschlag auf. Der Lichtkegel der Honda fliegt über die spröde Steinfassade. Ich rüttle an der Tür. Abgesperrt, natürlich. Mit dem Ellenbogen schlage ich das Fenster ein und klettere in die Diele.
„Etienne?“ Ich lausche in die Dunkelheit. Nichts, kein Laut. Ich schalte das Licht ein und gehe zur Küche. „Etienne bist du da –“ Er liegt in der Badewanne im Wasser. Die Pulsadern aufgeschnitten. Er lächelt in sich hinein. Überall Blut, so viel Blut. Ich renne aus dem Haus und übergebe mich.

„Mein Gott, wie schrecklich. Ich hoffe sehr, Ihr Freund hat überlebt, oder?“
„Wenn ich das wüsste.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich bin abgehauen. Über die Grenze. Jetzt bleibt mir noch eins zu tun.“
Die Frau stockt.
Ich gehe davon.

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Tag der Veröffentlichung: 19.11.2022

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