Ein Trupp Legionäre schlurft durch das Tal der hundert Mühlen. Die Räder klappern und der Bach hüpft vergnügt über die Steine. Der Centurio legt den Kopf in den Nacken, sucht die Sterne und sieht bloß Bäume, die in den Himmel wachsen. Er vermisst Florenz. In Gedanken lauscht er dem Rat der Hundert. Dort trat einst auch Dante Alighieri auf, der Autor der Göttlichen Komödie, die der Centurio studieren musste. «Der war doch nicht ganz hundert. Dieser Dante!», ruft der Centurio aus. Die Soldaten drehen sich nach ihm um. Er schaut weg ins Dickicht und verengt die Augen zu messerscharfen Schlitzen. Dort raschelt etwas. Viel Braun im Grün. Pelzig. Germanen? Oder nur ein Bär?
«Halt! Augen rechts!», befiehlt der Centurio seiner Hundertschaft, die sofort stillsteht und sich dem Rascheln zudreht. «Ich habe euch schon hundert Mal gesagt, dass ihr nicht so einen fürchterlichen Lärm machen sollt! Ich habe ein schwaches Herz.»
Die Soldaten rümpfen die Nasen. In dem Moment schiebt sich ein wuscheliger Kopf durch die Blätter.
«Puh! Der Bär stinkt wie hundertjährige Sandalen», klagt einer. Im nächsten Augenblick trollt sich Meister Petz, verschwindet im Hundertmorgenwald.
Die Legionäre tapern weitert. Im Morgengrauen kommt ihnen ein Seemann entgegen. Er radelt gemütlich auf einem Drahtesel und singt ein Lied. «Hundert Mann und ein Befehl…»
Der Centurio hält den Seemann an. «Wer bist du?»
«Ich bin der Freddy.»
Ein Raunen rollt durch den Trupp Soldaten und pflanzt sich hundertfach fort. Der Centurio sieht, wie bei seinen Männern die Gesichtszüge entgleisen und wie in den weit aufgerissenen Augen die Panik ausbricht. Da beginnt ein Legionär zu weinen. Ihm fällt der Wurfspieß aus der einen Hand und scheppert auf die verwitterte Römerstraße, während ihm der Schild aus der anderen Hand gleitet und seinem Nebenmann auf die Zehen donnert. Dieser lässt seinerseits seine Ausrüstung fallen, hüpft auf einem Bein herum und brüllt wie hundert Ochsen am Spieß.
«Hortensius Filigranus und Bibulus Celarius Agricola! Nehmt Haltung an! Beim Hippokrates, was ist denn in euch gefahren?!», ruft der Centurio mit belegter Stimme und fängt an zu schniefen. «Bitte, Horti, beruhige dich und hör auf zu weinen! Es zerreißt mir das Trommelfell. Und bringt eine Trage für den armen Bibulus. Und Wein.»
Während der eine Legionär genüsslich an einer schlauchförmigen Feldflasche nuckelt, nimmt der Centurio den anderen Legionär in die Arme. «Sag mir, was erschreckt dich so, Horti? Du weißt, du kannst mir vertrauen. Ich sage es bestimmt niemandem weiter.»
Der Legionär schluchzt und wirft einen angstvollen Blick über die schmalen Schultern des Centurio. «Versprochen?», fragt der Legionär.
«Versprochen», versichert der Centurio.
Da fasst sich der Legionär ein Herz und flüstert: «Es ist Freddy … Freddy …»
«Hör sich das einer an. Er hat Angst vor Freddy?!», verkündet der Centurio amüsiert.
«Nein, nicht vor Freddy … sondern vor Freddy … verstehst du?»
«Nein, ich kenne diesen Freddy nicht.»
Der Legionär befreit sich abrupt aus der Umarmung, schaut hin und her, sucht die Aufmerksamkeit seiner Kameraden und hebt die Hand wie ein Dirigent. Schon skandieren die hundert Mann wie aus einer Kehle: «Das ist Freddy. Sohn der hundert Irren. Der Gärtner von der Ulmenstrasse!»
Der Seemann schüttelt den Kopf. «He Jungs, nun macht mal Halblang, ja?! Ich komme gerade von der 100-Schlösser-Route und bin ziemlich im Eimer. Und das bei hundert Grad Fahrenheit. Also, habe echt keinen Nerv für Späße.»
Der Legionär, der den Chor geleitet hatte, dreht sich zu dem Seemann um. «Du bist nicht Freddy von der Ulmenstrasse?» «Nein, ich wohne im Hundertwasserhaus. Du kannst mich übrigens ruhig Manfred nennen, auch wenn dieser Name niemand kennt. Manfred Nidl-Petz. Oder auch Quinn.»
Die Legionäre atmen sichtlich erleichtert auf. «Dank sei Mars und Twix.»
Der Seemann runzelt die Stirn. «Sagt mal, wer seid ihr eigentlich?» Da stolpert der Centurio heran. «Wir gehören zu den Auxiliartruppen unter dem Oberbefehl von Publius Quinctilius Varus.»
«Aha, na dann. Ziemlich weit weg von zu Hause, nicht wahr? Und ihr seid etwas spät. Ich würde mal sagen, so an die zwei Jahrhunderte. Arminius ist längst Dügner für die Rosen und nur noch als Statue Hermann in Stein gemeisselt», grinst der Seemann.
«Ha, ha… weit weg von zu Hause… ha, ha, ha. Ein guter Witz!», lacht der Centurio und die Legionäre stimmen ein, schreien sich weg vor Lachen und halten sich die Bäuche.
Der Centurio blickt streng über die linke Schulter. «Das war ironisch gemeint, ihr dämlichen Hundertfüßler!»
Auf einen Schlag verstummen die Soldaten. Der eine oder andere kickt einen losen Stein ins Gebüsch.
«Ich mag keine Ironie», bemerkt der Seemann spitz. «Ich dachte nur, wenn…»
«Wir sind einhundert Prozent bei der Sache. Preschen von null auf hundert los. Wenn es sein muss in einen Hundertjährigen Krieg», fällt der Centurio dem Seemann ins Wort. «Aber du hast recht, Seemann. Wir sind spät dran. Die Hundert-Blumen-Bewegung blüht. Vorwärts!»
«Aber … warte», ruft der Seemann. Doch der Centurio winkt ab und treibt seine Legionäre zusammen, die sich allmählich in Marsch setzen. «Kein Zeit, Seemann. Die Lage ist günstig. Das sagt uns der Hundertjährige Kalender.»
Der Seemann zuckt mit den Schultern, setzt sich auf sein Fahrrad und radelt in entgegen gesetzter Richtung davon – auf den Lippen ein Lied. «Hundert Mann und ein Befehl…»
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2016
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