Geschäfts- und Ehemann Louis, Vater einer Tochter, befindet sich am Ende seines Arbeitstages. Seine Knie sind weich wie Gummi, sein Augen hängen schlaff in den Augenhöhlen, seine Körperhaltung labil. Alles dreht sich. Das schimmernde Licht der Nachttischlampe und die bereits ruhende Ehefrau nimmt er nur noch als einen verschwommenen Schleier wahr. Ein Hauch des Staubs des vor kurzem gekauften teuren Edelholzbettes wirbelt ihm in dem Moment durch das ermattete Haar, als er sich rückwärts darauf fallen lässt.
Endlich fallen dürfen - Unentkleidet, im maßgeschneiderten Anzug. Ein Muss, wenn man die Klienten für sich gewinnen will, aber auch eine Freude für Frau und Chef – Status und Reputation. Seine Glieder schmerzen, sein Kopf dröhnt. Sein Rücken bereitet sich auf's Abrollen vor. Gedanken um den nächsten Auftrag zermartern Louis' Kopf. Wie lange hält er das noch durch? Tag ein, Tag aus, dieselbe Nummer, derselbe Ablauf, derselbe Mann. Weiter fällt er – Eingezwängt ist er, wie eine Schraube, angepasst an die hohe Gesellschaft. Genormt wie Din A4 Blätter, konform sieht er sich in den Gruppen von Menschen, die ihm weiterhin die Energie absaugen werden, sein Blut absaugen wollen. Sein Rücken berührt die elastische Federkernmatratze - Lüge, Geldsucht, Macht. Louis verbindet diese Wörter mit dem Normalen. Erblindet und automatisiert ist er von der ewigen Gesellschaftszwinge. Er kommt zum Erliegen.
Seine Augen rasen mit der Geschwindigkeit des Lichts. Die Neuronen der grauen Masse werden fehlgeleitet, krachen aufeinander, umschlingen sich, hassen sich, lieben sich. Noch verdecken schwarz-weiße Streifen die Sicht auf das Graue. Lebendige Rasseln in seinen Ohren. "Wach auf", schallt seine eigene Stimme ihm durch den Kopf. Auf seiner Brust breitet sich ein pressendes Etwas aus, umklammert seine Lungen, drückt und zieht – Louis atmet aus und wieder ein, aus und wieder ein, aus und ein, aus, ein. Ein stärker werdendes "Wach auf" hallt von dem Innern seiner Stirn durch die pulsierenden Schläfen und lässt seine Schädelplatten vibrieren. Farben rot, grün, blau und gelb vermischt, Halluzination oder Realität?
"Wach auf...WACH AUF."
Stille...
Louis öffnet die Augen.
Louis liegt neben seiner Lebensgefährtin Cheryll. Die Atmosphäre ist angespannt, weil sie gestern Morgen im Streit das Haus verließen und dann getrennte Wege gingen. Am Frühstückstisch wurde eine Diskussion angeregt, weil die fünfjährige Sophie die Eltern fragte, warum ihre Eltern so oft weg seien. Die Kleine war gerade damit beschäftigt, die Köpfe ihrer neuen Puppen von deren Laibern zu reissen und im Schlafzimmer des gigantischen Puppenhauses zu verstauen.
Puppe:
"Oh Schreck. Oh Schreck. Da sind die Köpfe weg. Sie reißt, ich flieh. Dies Gör vergess ich nie. PUPPENMÖRDER, PUPPENQUÄLER, PUPPENMÖRDERIN". Alle Puppen brüllen: "PUPPENMÖRDER, PUPPENMÖRDER, PUPPENMÖRDERIN"
Louis zuckte zusammen. Für einen Moment rann ihm der Schweiß von der Stirn. Hatte er gerade eben die Spielpuppen seiner Tochter tanzen und singen sehen.
Cheryll: "Was ist los, Louis. Hörst du mir überhaupt zu? Schau, ich kann und werde nicht den alten Posten meiner Kollegin übernehmen, nur damit ich zwei Stunden länger pro Tag zu Hause bin. Sophie muss sich doch nur noch ein paar Jahre gedulden. Sobald sie in der Schule ist, wird sie Freunde haben, mit denen sie spielen kann und die sie ablenken werden. Der Job ist zu gut bezahlt und wer sollte dann bitte die vielen Schnickschnacks für die kleine kaufen. Schließlich bin ich es die sich immer mit ihr beschäftigt. Nicht du."
Louis: "Sophie sieht uns nur noch morgens, Cheryll. Ich denke nicht, dass es vernünftig ist, sie jeden Tag mit den Puppen zu Hause zu lassen. Vielleicht kannst du sie doch einfach mal mit auf deine Arbeit nehmen. Es wird ihr bestimmt gefallen..."
Cheryll: "Puppen? Wovon redest du?... Komm nicht wieder damit. Ich glaube ich brauche nicht wieder zu erwähnen, dass mein Chef das nicht erlaubt. Außerdem wird sie da auch nicht viel mehr von ihrer Mutter haben." Cheryll schüttelte den Kopf. "Kommt nicht in Frage."
Sophie: "Mama, meine Spielzeug ist blöd. Ich will was anderes."
Cheryll mit einem mitleidsvollem Blick auf Sophie gerichtet: "Ich muss jetzt los. Mami und du gehen später in die Stadt." Sie wandte sich zu Louis: "Vergiss bitte nicht unser Kindermädchen. Bis heute Abend Sophie." Sie guckte Louis beim Herausgehen mit einem genervten Blick an und verließ das Haus.
Louis fasste sich an die Stirn und atmete schwer. Er bereitete sich eine Schüssel Müsli zu und setzte sich neben Sopie, die sich gerade eine angesagte Trickfilmsendung im Fernsehen ansah. In Gedanken schaute Louis auf den flimmernden Kasten. Ein paar Minuten vergingen noch, den Löffel in der verbleibenden Milch rührend beobachtete er einstweilen seine Tochter, wie sie die Fernbedienungen sämtlicher Videoanlagen gegeneinanderkrachen ließ, bis es "Ging-Gong" an der Tür schellte. Louis stand auf und ließ die Aupair Josephin herein. Sophie ging ihm tänzelnd nach und verschwand zur Toilette.
Josephin: "Gutenmorgen, Mister Dews", sprach sie in ihrem französischem Akzent. "Isch 'offe Sophie schaut nicht wieder Fernsehn. Bekommt ihr nischt gut."
Louis in Sorgenfalten:" Morgen! Hör zu Josephin. Ich schätze deine höflichen Manieren aber ich lasse es nicht länger zu, dass du mich siezt. Ständig bitte ich dich, dass ich mit Louis angesprochen werden will"... "Josephin", setzte er empört nach.
Josephin:" Mister Dews, ich komme aus guten Ver'ältnissen. Isch 'offe, sie können das verstehen." Sie kramte in ihrer stilvollen grünen Kelly Bag Tasche nach ihrem Schminkspiegel und legte schon ihren ersten Schritt Richtung Gäste-WC vor. "Ou, was macht Sophie? Sie lukte hinter die Tür die das Badezimmer vom Flur trennte. Die Kleine war gerade dabei in der Kommode herumzukramen. In der linken Hand hielt sie eine offene Flasche Möbelpolitur, die mit jeder ihrer Bewegungen etwas mehr Flüssigkeit verlor.
Louis: "Sophie, was tust du da?"
Sophie zuckt zurück und stottert: "Ih, Louis, schmeckt ih... Aua."
Verärgert darüber, dass sein Tochter ihn bei seinem Vornamen nennt:" Warum nennst du mich Loui... Scheisse! Nicht trinken!", donnerte es plötzlich aus seinem Mund.
Sophie, weinend:" Aua."
Louis, aufgelöst:" Nein, nein, nein, nicht jetzt. Das kann doch nicht wahr sein."
Josephine: "Ou?" Sie schaute besorgt, als Louis sie verzweifelt ansah. Eine Mischung aus Furcht, Entsetzen und Ärgernis beherrschte seine runzeligen Gesichtszüge. Es schien als sei sein Kopf gerade in einer Wolke, umgeben von Blitz und Donner, einer Wolke der Zukunft, die ihn um zwanzig Jahre altern ließ.
"Ist alles ok bei ihnen, Mister Dews?" Gebannt schob sie ihren Kopf vor und zog ihre braunen Augenbrauen dabei nach oben.
Louis sammelte sich und sagte:" Bitte kümmer dich ums Haus, wie immer. Ich muss sofort mit ihr zum Doktor."
Er nahm sie in den Arm und ging in schnellen Schritten Richtung Haustür. "Warum zum Teufel stellt Cheryll immer die Reinigungsmittel da rein", dachte er, verkniff sich einen Wutausbruch doch immerhin schlug er die Tür hinter sich zu. Die Nachbarschaft hörte das Quietschen der Autoreifen. Josephine's Haare beklagten eine durchdringende Gänsehaut.
Texte: Christoph Beck
Bildmaterialien: Christoph beck
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2013
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