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Kapitel 1

Ich saß im Zug und fuhr in mein neues zu Hause. Meine Eltern waren vor einigen Monaten bei einem Autounfall gestorben, so dass ich zeitweise bei meinem älteren Bruder Jason und seiner Frau Pauline in Paris gelebt hatte. Zu der Zeit war mir schon bewusst gewesen, dass es sich nur um einen kurzen Zwischenstop handeln würde. Pauline erwartete ein Baby und obwohl beide mir versicherten, dass ich nur zu gerne bei ihnen bleiben konnte, ließ ich mich nicht von meiner Entscheidung abbringen zu meiner Tante Carol zu ziehen.
Es lag nicht nur an der Tatsache, dass es ihr erstes Kind wäre und beide mehr als genug zu tun hätten, als sich um mich und mein Leben in einer Stadt zu kümmern, die zwar faszinierend aber genauso fremd für mich war. Nein, ich wollte zurück an die raue Küste und zum grünen weiten Land, das mir so gut in Erinnerung geblieben war. Zwar lebte ich vorher mit meinen Eltern in Kalifornien, wenig grün aber viel Strand, trotzdem fuhr ich oft meine Tante Carol und meine beiden Cousinen besuchen. Die Zeit dort war stets wunderschön und immer viel zu kurz gewesen.
Tante Carol sagte, dass sie sich sehr freue. Seit Laura und Kathleen ausgezogen waren stünden ihre beiden Zimmer leer. Vermutlich würde ich ihr auch Gesellschaft leisten können wenn Onkel Joseph auf seinen langen Geschäftsreisen war. Ohne Laura und Kathleen war sie sicherlich sehr einsam. Tante Carol war zudem nicht der Typ, der sich dann einen Hund oder eine Katze hält, sondern eher auf menschliche Gesellschaft wert legte.
Der Zug rumpelte weiter und die grünen Landschaften zogen schnell an meinem Fenster vorbei. Ich hatte Glück gehabt. Mein Abteil war ganz leer. Die Menschen, die kurz hineingespäht und dann den Berg an Koffern und Taschen gesehen hatten, schienen gleich abgeschreckt gewesen zu sein. So viel wollte ich erst nicht aus Kalifornien mitnehmen, aber letztendlich sollte es ein sehr langer Abschied sein und ich wollte mich nicht ganz neu ausstatten müssen.
Als Jason von dem Autounfall gehört hatte kam er auf direktem Wege zu mir und ich war sehr froh gewesen. Ich erinnerte mich daran, dass ich mich in der Zeit wie eine Schlafwandlerin gefühlt hatte. Fast täglich kamen Anrufe ein, es musste so viel organisiert und geregelt werden. Jason hielt mich von alledem fern. Er ließ mich in meinem Zimmer, in das ich mich verbarrikadiert hatte und erst zur Beerdigung wieder herauskam.
Ich schüttelte meinen Kopf – nein, ich wollte mich nicht an dieses zusammenziehende Gefühl erinnern, dass mich zu dieser Zeit überkommen hatte. Es musste weiter gehen – ICH musste weitergehen.
Neben meinen eigenen Sachen hatte ich mir ein paar Erinnerungsstücke an meine Eltern mitgenommen, ein paar Fotos, etwas Schmuck meiner Mutter und das Lieblings Hemd meines Vaters – alles andere von Bedeutung hatte Jason verstaut. Das Haus sollte erst einmal vermietet werden, bis ich alt genug wäre um zu entscheiden, ob ich es behalten wolle oder ob Jason es nimmt. Wobei ich glaubte, dass er in Paris seine neue Heimat gefunden hat. Er konnte sich stets schnell und einfach anpassen. Schon nach kürzester Zeit war er vollends in Paulines Familie und Freundeskreis integriert und bewegte sich durch die Straßen und die französische Kultur, als wäre er dort geboren. Ich hingegen tat mich schwer.
Drei Koffer und zwei Taschen. Mehr hatte ich nicht mitgenommen und mehr würde ich nicht benötigen. Vieles davon waren Bücher gewesen und einige Geschenke aus Paris. Alles was fehlte könnte ich nun auch in Stadt123 bekommen.
Die verzerrte und schlecht verständliche Stimme aus dem Lautsprecher sagte, dass es nur noch wenige Minuten bis zur Ankunft wären. Ich klappte das Buch auf meinem Schoß zusammen, nahm die Kopfhörer ab und verstaute alles vorsichtig in meiner Tasche. Genüsslich streckte ich mich um die starren Glieder wieder aufzuwecken. Ich sah meine Spiegelung im Fenster. Meine dunkel braunen Haare waren vom Anlehnen ganz platt gedrückt. Mit meinen Fingern fuhr ich grob durch, zauberte eine Haarspange aus meiner Hosentasche und bändigte die Haare in einem Zopf. Ich sah meiner Mutter sehr ähnlich, wie sie hatte ich graue Augen und sehr feine Gesichtszüge, wobei sie immer einen sehr freundlichen Gesichtsausdruck hatte. Immer wenn ich sie vor mir sah, sah ich sie lächeln. Meinen Gesichtsausdruck könnte man in letzter Zeit eher als nachdenklich beschreiben.

Ich runzelte die Stirn. Wie sollte ich diesen Kofferberg nur alleine aus dem Zug tragen? Beim Einstieg hatte mir glücklicherweise ein Zugbegleiter geholfen, der gesehen hatte, wie ich mühsam einen der Koffer anhob und dabei fast über meine eigenen Füße gestolpert wäre. Ich öffnete die Schiebetür des Abteils und schaute in den Gang hinein. Tatsächlich hatte ich Glück. Der Zugbegleiter kam geradewegs auf mich zu und erkannte mich sofort wieder. Es war ein älterer Herr mit leicht ergrauten Haaren, die unter seiner Mütze hervorschienen. Er lächelte mich an.
„Na, junges Fräulein. Kann ich etwas für Sie tun?“. Ich errötete einwenig. Zwar wusste ich, dass ich unmöglich mein ganzes Gepäck in einem Schwung aus dem Abteil bekommen würde, trotzdem war es mir immer sehr unangenehm Personen um Hilfe zu bitten.
„An diesem Bahnhof muss ich aussteigen. Könnte ich Sie bitten mir nochmals mit meinem Gepäck zu helfen?“ Ich machte eine ausladende Bewegung und deutete auf meinen sorgfältig getürmten Kofferberg. Vermutlich hielt er mich für eine dieser Mädchen, die bei einem Kurzurlaub gleich ihren halben Haushalt mitnehmen mussten und für jeden Anlass gleich zwei Paar Schuhe einpackten.

Er ging an mir vorbei, klemmte sich eine der kleineren Taschen unter seinen Arm und nahm noch einen Koffer in die andere Hand.
„Kommen Sie, wir bringen Ihr Gepäck zum Ausgang. Von dort kann ich es Ihnen Stück für Stück aus dem Zug reichen.“
Ich legte mir meine Handtasche um und schnappte mir zwei etwas leichtere Taschen und folgte ihm durch den schmalen Gang.
„Ich hoffe Sie bekommen Ihr Gepäck auch noch vom Bahngleis weg?“, als er das sagte brachte er grade das restliche Gepäck und setzte es ab. Der Zug fuhr bereits in den Bahnhof ein. Ich nickte „Danke, ich werde abgeholt.“ Das hoffte ich auf jeden Fall.
Wie versprochen half er mir noch das Gepäck aus dem Zug zu hieven. Ich bedankte mich nochmals, als ich zwischen meinen Koffern ganz verloren stand und er verabschiedete sich von mir. Erst zögerte er etwas, doch ich versicherte ihm, dass ich jeden Moment abgeholt werde. Ich klang überzeugender als ich mich fühlte. Natürlich war ich mir sicher, dass meine Tante mich nicht einfach vergessen würde, doch hatte ich sie bisher nicht unter den vielen Menschen ausmachen können. Der Bahnhof an sich war zwar nicht besonders groß, grade mal vier Bahnsteige konnte ich ausmachen, dafür strömten die Menschen zur Hauptverkehrszeit in und aus den Zügen wie Ameisen.
Ein lauter Pfiff eines Zugbegleiters und der Zug fuhr ab. Die Menschenmenge um mich herum hatte sich gelichtet und ich musste mich nicht mehr auf Zehenspitzen stellen, um einen Blick über die Köpfe der Leute zu erhaschen. Ich drehte mich in die andere Richtung und sah schließlich meine Tante Carol auf mich zukommen. Mit der einen Hand schob sie einen Wagen, auf dem die Gepäckstücke aufgeladen werden konnten und mit der anderen Hand winkte sie mir zu. Mein Herz machte einen Sprung. Ich freute mich so sehr sie zu sehen.
„Amy, meine Kleine!“ sagte sie und umarmte mich fest und herzlich. Ich erwiderte die Umarmung erleichtert und sog ihren Duft ein. Ich bildete mir ein, dass sie genauso wie mein Vater roch, nur ohne das Aftershavearoma – etwas blumiger vielleicht. Obwohl Carol die Schwester meines Vaters war sahen sie sich kaum ähnlich. Während Dad von großer Statur war, war Carol eher kleiner und rundlicher. Nur ihre glasklaren blauen Augen zeugten von der Verwandtschaft und dieser gütige Blick, den mir mein Vater und nun auch Carol immer wieder geben würde. Ihre blonden Locken fielen knapp über ihre Schultern und kitzelten auf meinem Gesicht.
„Es tut gut dich zu sehen.“ Sie betrachtet mich von Kopf bis Fuß „Und groß bist du geworden. Das letzte Mal haben wir uns vor zwei Jahren gesehen…“ Nachdenklich sah sie mich an. Auch ich erinnerte mich an meinen letzten Besuch. Es war ein herrlicher Sommer gewesen mit meinen Eltern und auch Jason und Pauline waren dabei gewesen. Für Carol war es das letzte Mal gewesen, dass sie ihren Bruder gesehen hatte. Ihre Lippen zogen sich zu einer dünnen Linie zusammen. Ich versuchte die Erinnerungen zur Seite zu schieben, um die Tränen, die in meine Augen treten wollten, hinunter zu schlucken.

„Wo ist Onkel Joseph.“, fragte ich schnell um das Thema zu wechseln und Carol stieg sofort ein. „Du weißt wohl nicht mehr wie schwer es ist hier einen Parkplatz zu bekommen.“ Sie lachte und griff nach der großen Tasche mit meinen Büchern. Sie war wahnsinnig schwer. Beim Packen der Koffer glaubte ich noch, dass ich ein sehr gutes System ausgetüftelt hatte und den Inhalt thematisch den Gepäckstücken zuordnen könnte. Pauline hatte mich schon gewarnt, dass ich die Bücher besser auf mehrere Koffer verteilen sollte. Dennoch setzte ich mich durch. Am Tag der Abreise konnte ich die Tasche kaum einen Zentimeter weit bewegen. Auch Carol kam zu dieser Erkenntnis.

„Liebes, was hast du denn in dieser Tasche? Hast du Ziegelsteine dabei um dir ein eignes Zimmer zu bauen?“ Ich nahm den zweiten Griff der Tragetasche in die Hand und gemeinsam hoben wir sie auf den Wagen. „Das sind meine Bücher.“ Erklärte ich verschämt und ich bemerkte wie mir dir Röte ins Gesicht stieg.
Insgesamt wurde der Wagen so schwer, dass wir ihn zu zweit aus dem Bahnhof schoben unter Beobachtung der anderen Bahnhofsbesucher. Vor dem Hauptausgang kam uns schließlich Onkel Joseph entgegen. Als er uns sah strahlte er. Mich erinnerte er immer an einen großen Bär. Er war riesig und hätte ich nicht gewusst, dass er die Firma mit Carol gemeinsam leitete hätte ich eher geglaubt, dass er mit bloßen Händen Bäume entwurzelte. Mit großen Schritten kam er auf uns zu und mit einem Satz hob er mich hoch in seine Arme und wirbelte mich einmal im Kreis, als wäre ich nicht schwerer als ein Blatt Papier.
„Amelia-Rose Nelson – lässt du dich auch mal wieder blicken!“, sagte er und seine tiefe Stimme grollte in der Eingangshalle nach.
Ich hatte kaum zu glauben gewagt, wie gut mir das Treffen mit Carol und Joseph tun würde, doch jetzt spürte ich wie eine große Last von mir abfiel. Vor Jason und auch vor Pauline hatte ich nach meiner Schlafwandlerzeit, wie Jason meine Trauerzeit immer nannte, mich mit allen Gefühlen, ob gute oder schlechte, zurück gehalten. Egal in welche Stimmung ich verfiel, sie sahen mich immer besorgt an als wüssten sie nicht recht ob es die Freude nur vorübergehend oder gespielt sei. Es war beinahe so als würde man darauf warten, dass ein Vulkan ausbricht und jedes abnormale Grummeln als Hinweis nehmen. Dieses Gefühl war schwer zu ertragen.
Carol und Joseph waren auch in Trauer und mein Anblick holte sicherlich alle Erinnerungen wieder hoch, dem war ich mir sehr sicher, trotzdem fühlte ich mich angekommen und beide gaben mir das Gefühl, als wäre alles in Ordnung – als wäre es wieder Sommer und ich würde sie Besuchen. Nur würde dieser Besuch länger sein.

Wir fuhren hinaus aus der Stadt ins Dorf234 ca. eine Autostunde entfernt. Joseph und Carol erzählten mir dies und das und ich hörte ihnen gerne zu. Ihr Haus lag am anderen Ende des Dorf234. Natürlich war mir Dorf234 nicht fremd, aber ich hatte mir einen Spaß daraus gemacht zu sehen, was sich von einem Sommer in den anderen verändert hatte. Vor zwei Jahren sollte die Schule renoviert werden. Nun war sie endlich fertig. Ich konnte nicht ein Baugerüst ausmachen. In vier Tagen schon würde mein Auto dort auf dem Parkplatz stehen – beziehungsweise das alte Auto von Kathleen. Zuerst wollte Kathleen es mit nach London nehmen, wo sie nun lebte, doch dann entschied sie sich dagegen, so dass Carol es verkaufen wollte. Doch ich hatte Glück, bisher gab es keinen Kaufinteressenten, so dass ich es haben konnte.
Es war schon gegen Abend als wir vor dem Haus ankamen. Es war Herbst und die Bäume, die das Haus einrahmten, trugen nur noch wenige Blätter. Gemeinsam trugen wir Koffer für Koffer und Tasche für Tasche hoch in mein neues Zimmer.
„Wir haben uns überlegt, dass du gerne beide Zimmer, also das von Kathleen und Laura haben kannst.“ Sagte Joseph als er den letzten Koffer in Kathleens altem Zimmer abstellte. „Sie haben sich sowieso ein Badezimmer geteilt, so dass das Badezimmer wie ein Durchgangszimmer ist.“ „In Lauras Zimmer ist statt des Betts eine große Couch zum Aufklappen, wenn sie uns besuchen kommen.“, warf Carol ein, als ich die Badezimmertür öffnete und in Lauras Zimmer hineinspähte. Es erinnerte wirklich nicht mehr viel an ihr altes Zimmer, in dem wir oft gesessen und als Kinder gespielt hatten. Vor der Couch war noch Tisch und in der anderen Ecke ein Fernseher. Ein leeres, aber geräumiges Regal stand an der Wand und direkt daneben ein Schreibtisch, so dass ich von dort hinaus in den Garten schauen konnte. Etwas weiter entfernt würde ich auch das Meer sehen können – auf diesen Anblick freute ich mich schon jetzt.
„Danke.“ Sagte ich nur und es kam von Herzen. „Amy, es wird dir an nichts fehlen.“ Antwortete Carol und nahm mich wieder in die Arme. Joseph strich mir über den Rücken und ich wieder musste ich schlucken um keine Tränenbäche zu ergießen.
Sie ließen mich in aller Ruhe auspacken und verschwanden hinunter in die Küche. Ich ließ mich auf das Bett sinken, betrachtete die Tapete, die Lampe an der Decke und das Fenster. In Kathleens Zimmer hatte sich nichts verändert, obwohl es natürlich ganz leer wirkte. Ich rappelte mich auf, setzte mich auf den Boden und öffnete meinen Themen-Koffer Kleidung und begann damit alles an die richtige Stelle zu sortieren.


Kapitel 2

Die vier Tage vor dem Schulbeginn vergangen wie im Fluge. Joseph und Carol hatten sich frei genommen, so dass sie viel Zeit mit mir verbringen konnten und mir halfen mich hier einzuleben. Vieles kannte ich schon, wie man zum Supermarkt kommt, wo sie arbeiteten und wie ich am besten zur Schule komme. Trotzdem genoss ich die Zeit mit ihnen und ließ mir bereitwillig alles zeigen.

Joseph und ich holten mein Auto aus der Werkstadt.
„Ich wollte nicht, dass du unterwegs vielleicht eine Panne haben könntest.“,
sagte er als wir die Werkstadt betraten.
„Bisher hat es nie Probleme gemacht“,
schob er schnell nach als sich meine Stirn in Falten legte. Ich konnte mich nicht mehr erinnern in welchem Zustand Kathleens Auto gewesen und wie alt es war. Als ich das kleine Auto jedoch sah verschwanden die Stirnfalten und wurden durch ein Lächeln ersetzt. Es war mausgrau, hatte sicherlich schon etliche Jahre auf dem Buckel, aber mir gefiel es sofort. „Es ist fast so grau wie deine Augen, Amy.“, meinte Joseph und legte mir den Arm um meine Schulter, als er mich zum Auto schob.
Er ließ mich stehen und ging er zu einigen Männer hinüber, die an einem anderen Auto bastelten. Ich betrachtete das Auto genauer und fuhr mit meinen Fingern über den Lack. Er war an manchen Stellen schon etwas stumpf und Rost konnte ich beim genaueren Hinsehen auch ausmachen. Doch ich hatte das Gefühl, dass das Auto genau zu mir passte. Mein Lack hatte auch schon bessere Tage gesehen.
In aller Ruhe fuhr ich hinter Joseph her um ein Händchen für das Auto zu bekommen, wie er es formuliert hatte. Sicherlich wollte er auch gleich sehen ob er mir das Autofahren zutrauen konnte. Ich hatte meinen Führerschein schon im letzten Jahr gemacht und war auch sonst mit einem Wagen zur Schule gefahren und das ohne bisher in Schwierigkeiten oder in einen Unfall zu geraten. Vermutlich erinnerte er sich noch an meine ersten unkoordinierten Versuche das Fahrradfahren zu lernen. Dabei war ich schnurstracks zuerst gegen sein parkendes Auto und schließlich gegen das Garagentor gefahren. In gewissen Situationen, besonders wenn mich die Nervosität übermannte, dann schaltete sich schnell meine ungeschickte und tollpatschige Seite ein, auch wenn ich die Situation normalerweise ganz leicht meistern würde. Kaum war mir eine Situation unangenehm hatte ich drei linke Hände und meine Zunge einen Knoten.

An einem Tag hatte ich sogar Gelegenheit gehabt dichter an das Meer zu kommen, als es von meinem Fenster aus als Aussicht zu genießen oder mit dem Auto daran vorbeizufahren. Ich liebte dieses Meer. Es war ganz anders als die Sandstrände und sanfte die Küste in Kalifornien. Grade zu dieser Jahreszeit war das Wasser tiefblau und schlug wild und laut gegen die Klippen. Eine schöne, etwas abgeschiedene Stelle an den Klippen war nicht einfach zu finden. Klettern gehörte nicht zu meinem Repertoire und ich wollte nicht das Risiko eingehen gleich in die Fluten zu stürzen, um dadurch die Selbstmordbefürchtungen von Jason wieder aufleben zu lassen. Dennoch hatte ich Glück und fand einen schmalen und gut versteckten Pfad, der zu einem großzügigen Vorsprung an den Klippen führte. Ich setzte mich auf einen Stein und lehnte mich an die kühle Steinwand. Der Wind zerrte an meiner Kapuze, so dass ich sie mit beiden Händen festhalten musste, damit sie mir nicht vom Kopf flog und meine Haare zu einem endlosen Knoten aufwirbeln würde. Ich beneidete diese Unbändigkeit des Meeres und der Fluten und die Tatsache, dass sich Wasser an alles anpassen konnte und immer seinen Weg fand. Ich schlang meine Arme fest um mich und sog zufrieden die kühle und salzige Luft ein. Hoffentlich konnte ich viel Zeit hier am Meer verbringen. Im Prinzip war grade diese Stelle nicht weit entfernt vom Haus in dem ich jetzt lebte, trotzdem wollte ich hier nun leben und keine Ferien verbringen und Carol wäre sicherlich nicht von der Idee begeistert mich an eine Klippe zu lassen wenn es bereits langsam dämmern würde. Und besonders jetzt, wo die Tage langsam kürzer wurden, wäre auch die Zeit nach der Schule begrenzt.

Es war mein letzter freier Abend vor meinem ersten Schultag. Die Schule hatte bereits im August angefangen und nun war es schon Mitte September. Joseph und Carol würden morgen auch wieder mit ihrer Arbeit beginnen.
„Das bedeutet für dich, Amy“,
begann Joseph während des Abendessens,
„das du nach der Schule sicherlich einige Stunden auf dich selbst gestellt bist.“
Mir machte das nichts aus. Ich war aus dem Alter der Rund-Um-Betreuung raus und auch vor meinem Leben hier hatte ich mich selbst versorgt oder für meine Familie gekocht, wenn Mum und Dad viel arbeiten mussten. Zudem brauchte ich nicht viel Trubel um mich herum. Ganz im Gegenteil schätze ich die Stille und Ruhe sehr, wenn ich in meinem Tempo alles erledigen konnte, was ich mir für den Tag vorgenommen hatte.
Ich schob mir ein kleines Stück Brokkoli in den Mund als Carol fortfuhr
„Ich habe dir die Nummer des Büros und auch die Handynummern von mir und Joseph an die Pinnwand neben dem Kühlschrank gehangen.“
Dabei deutete sie mir ihrem Kopf auf die große Pinnwand, die überhäuft war mit Fotos, Kinderzeichnungen und allerlei Postkarten. Ich nickte nur und stocherte in meinem Essen herum. Und da waren sie wieder, diese Blicke, die ich zu meinem allseits guten Bekanntenkreis schätzte und denen ich gehofft hatte hier entfliehen zu können. Manchmal fragte ich mich, welchen Eindruck ich auf mein Umfeld machen musste, dass sie alle so vorsichtig und überfürsorglich auf mich reagierten, wobei ich fand, dass mein Gemüt nun zwar ruhiger und nachdenklicher war, aber ich noch keine Versuche gemacht hatte um mir etwas anzutun.
„Macht euch keine Sorgen.“
Sagte ich schließlich:
„Ich komme schon zurecht. Zudem werde ich schon nicht auf dumme Gedanken kommen, ich werde sicherlich einiges in der Schule aufholen müssen.“
Und damit hatte ich nicht einmal gelogen. Ich war eine gute Schülerin gewesen, trotzdem hatte die Schlafwandlerzeit lange gedauert und auch der Stoff des letzten Jahres war zu blassen Erinnerungsfetzen verkommen.
Ich lächelte beiden aufmunternd zu und damit schien ich sie vorerst beruhigt zu haben. Sicherlich würden sie die ersten Tage auf heißen Kohlen sitzen und damit rechnen das ich wieder in meinen Schlafwandel zurückkehrte. Ihrer Sorge konnte ich entnehmen, wie schlimm es für Jason gewesen sein mag. Schließlich hatte er neben mir – und ich war in dieser Zeit mehr als unbrauchbar gewesen – nur noch Pauline und Carol und Joseph gehabt um ihnen sein eigenes und das Leid mit mir zu klagen. Somit hatte ich diese leidvollen Blicke wohl mehr als verdient.

Die Nacht war viel zu kurz gewesen als mein Wecker lauthals einen Song schmetterte und mich unsanft weckte. Ich schob die Gardine bei Seite und sah, dass Carol und Joseph bereits zur Arbeit gegangen waren. Nur mein Auto stand in der Auffahrt und ein paar Regentropfen fielen hinab. Der Himmel war noch bewölkt und ich wollte an meinem ersten Tag kein Risiko eingehen und suchte regenfeste Kleidung heraus. Eigentlich war ich sonnenverwöhnt und die Anzahl an Kleidungsstücken, die man als wetterfest bezeichnen konnte war verschwindend gering, so dass ich grade über eine wasserdichte Jacke und ein paar guter Schuhe verfügte.
Ich zog mich schnell an, ging die Treppe hinab und schaufelte Müsli in mich hinein. Eiskalt war es in der Küche. Normalerweise hatte Carol oder Joseph schon geheizt, bevor ich wach wurde. So war mir die allgegenwärtige Herbstkälte nicht so bewusst gewesen. Die kalte Milch im Müsli tat ihr übriges, als sie mir den Hals runter rann. Es lohnte sich aber nicht die Heizung für ein kleines Frühstück einzuschalten. Morgen würde ich einfach noch ein zweites paar Socken überziehen. Ich lehnte mich an das Küchenfenster und ertränkte die letzten Flocken mit meinem Löffel in der Milch. Die Regentropfen trommelten jetzt viel aufdringlicher gegen die Fensterscheibe und ich sehnte mich nach einer warmen Decke und einer schönen Tasse Earl Grey. Ich seufzte, aß die letzten zwei Löffel und räumte die Schüssel in die Spülmaschine. Erste Schultage waren dazu prädestiniert schrecklich zu sein. Ich machte mir also keine Illusionen und nahm mir fest vor diesen Tag anschließend einfach aus meinem Gedächtnis zu streichen.

Die neue Schule war mitten in Dorf123 und somit direkt und schnell über die Hauptstraße zu erreichen. Sie war frisch saniert worden. Ich konnte mich noch erinnern, dass die Farbe der Ziegelsteine vorher zwischen braun und grau eingeschätzt werden konnte. Jetzt strahlten sie in einem hellen Beige.
Wie so oft war ich zu früh da. Der Parkplatz vor der Schule war noch fast leer und ich parkte nahe am Eingang. Ich warf meinen Rucksack über meine Schulter und ging ins Gebäude um schon einmal das Sekretariat zu suchen, wo ich meinen Stundenplan abholen musste. Ich ging einen langen Gang entlang. Die Wände waren mit schönen Bildern und Zeichnungen dekoriert. Ich öffnete die Milchglastür am Ende und betrat das Sekretariat, in dem schon viel Betrieb war.
Snerly hieß die Sekretärin, die mich empfing. Sekretärinnen waren für meinen Begriff immer etwas schrullig, plapperten viel und hatten eine exotische Brille auf der Nase. Bisher war ich aber noch nie auf eine Sekretärin gestoßen, auf die dieses Bild gepasst hätte. Bis heute. Miss Snerly redete unaufhaltsam, so dass man bei ihr nicht von einem Gespräch, sondern eher von einem Vortrag sprechen konnte, auch wenn dieser sehr amüsant war. Ihre Haare waren zu einem exotischen Knoten zusammengesteckt und eine zebragestreifte Brille saß auf ihrer Nase.
Ich reduzierte meine Kommunikation auf ein einfaches Kopfnicken, das ihr vollkommen ausreichte. Sie übergab mir meinen Stundenplan und erklärte mir noch ausführlich den Lageplan der Schule, damit ich mich auch ja nicht verliefe. Schließlich reichte sie mir den Schlüssel für meinen Spint und ich wollte mich schon umdrehen und gehen, als sie mich noch kurz am Arm festhielt.
„Miss Nelson – jetzt hätte ich es fast vergessen.“
Sie zog mich wieder ein Stück zu sich heran und ich konnte ihr viel zu schweres Parfum riechen. Dann flüsterte sie:
„Nun, es ist üblich bei uns…ehm, dass Sie noch zum Schulpsychologen müssen…mhm, das muss jeder neuer Schüler.“
Sie räusperte sich umständlich als ich sie bei dem Wort Psychologen ganz endgeistert ansah. Sie tätschelte mir die Schulter und sagte weiter:
„Gehen Sie bitte nach Ihrer letzten Stunde zu Miss Pears. Sie erwartet Sie dann natürlich bereits.“
Ich war fassungslos. Glaubten tatsächlich alle, ich würde mich von der nächst Besten Klippe in die Tiefe stürzen? Sogar Jason hatte darauf bestanden, dass ich wenigstens eine Sitzung bei einem Psychologen abhalten sollte. Glücklicherweise konnte ich ihn vom Gegenteil überzeugen. Der Gedanke, mein tiefsten Inneres vor jemandem, der mir sogar noch fremd war, breit zu legen, der alles haarklein analysiert, war schrecklich. Ich hatte sogar Schwierigkeiten meinem Bruder den Schmerz und die Trauer anzuvertrauen. Ich wollte nicht, dass alles wieder aufgefrischt wurde. Für mich selbst hatte ich all das schon in kleine Portionen verpackt und abgelegt. In letzter Zeit hatte ich mich gut im Griff. Es kam immer seltener vor, dass die Trauer vor kroch und mich übermannte, wie noch vor einigen Monaten.

Mir war schlecht. Sicherlich hatte Carol oder Joseph zuvor der Schule mitgeteilt, wieso ich nun hier Leben und zur Schule gehen würde und wie in jeder Schule verbreiteten sich solche Informationen schneller als man schauen konnte. Irgendwie hatte ich aber gehofft hier ganz neu anfangen zu können ohne bemitleidend angesehen zu werden. All diese Blicke und Gesten wärmten den Schmerz wieder auf und machten es schlimmer. War denn niemandem bewusst, dass das Vergessen so noch schwerer werden würde?
Es machte natürlich keinen Sinn beiden die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Es ist ungewöhnlich, dass die Nichte bei einem langfristig einzieht. Und bevor die wilden Spekulationen, die in so einem kleinen Dorf schnell vom Zaun gebrochen werden, wenn Situationen nicht in das gewöhnliche Schema passen, ihren Lauf nehmen, ist die Wahrheit vielleicht viel besser, auch wenn sie zu dieser unangenehmen Situation geführt hat.
Ich zu einem Psychologen – ich könnte einfach die ganze Sitzung schweigen und gar nichts sagen…wobei das sicher ein Indiz dafür wäre, dass ich einen totalen Schaden davongetragen hatte und dringend in Behandlung gehöre. Nein, ich müsste mir eine bessere Strategie überlegen, die Miss Pears überzeugen musste, dass alles mit mir okay ist.

Ich war den langen Gang bereits schon bis zum Ende durchgegangen und stand wieder auf dem Parkplatz, der sich mittlerweile mit vielen Autos und Schülern gefüllt hatte, als ich hinter mir meinen Namen hörte.
„Miss Nelson…ehm Miss Nelson?“
Es war die unverkennbare Stimme von Miss Snerly, die ganz außer Atem auf mich zugelaufen kam. Gespannt sah ich sie an und befürchtete schon das Schlimmste, als sie tief Luft nahm. Vielleicht wollten sie neben der Durchsicht beim Psychologen noch ein Führungszeugnis von der Polizei?
„Ich weiß gar nicht wo mir heute der Kopf steht – ha ha.“
Sie fuhr sich mit ihren langen und auffällig lackierten Fingernägeln durch ihre Haare
„Ich habe Sie ja noch gar nicht ihrem Buddy vorgestellt.“
„Buddy?“,
wiederholte ich nur und sah sie fragend an. Derweil hatten sich einige Schüler zu uns umgedreht und betrachteten mich Aufmerksam. Jetzt hätte ich mir tatsächlich jede Menge Regen gewünscht um mir meine Kapuze tief ins Gesicht ziehen zu können, aber die Wolken hatten sich schon verflüchtigt und die Sonne schien mich direkt ins Rampenlicht zu stellen.
„Bleiben Sie einfach hier stehen. Ich bringe Ihnen Ihren Buddy. Dann klärt sie dich Sache ganz von selbst.“
Noch bevor ich etwas erwidern konnte lief sie schon wieder den Gang hoch und kam kurze Zeit später mit einer anderen Schülerin wieder.
„So, Miss Nelson, das hier ist Miss Higgeston. Unsere Schule hat ein sogenanntes Buddy-Programm. Jeder neue Schüler bekommt für die erste Woche einen Buddy“,
sie deutete auf die Schülerin neben ihr,
„die einen ähnlichen Stundenplan hat und Ihnen alles zeigt und so weiter und so fort.“
Miss Snerly schob die andere Schülerin vor.
„Nun, Miss Higgeston, alles andere regeln Sie untereinander.“
Sie lächelte, drückte mir und der anderen Schülerin noch mal die Schulter und ging zurück in ihr Büro.
„Hi, …ehm, ich bin Grace und du bist Amelia-Rose, richtig?“
Sie reichte mir ihre Hand und ich konnte ihrem Gesichtsausdruck entnehmen, dass das alles hier ihr genauso unangenehm war, wie mir. Trotzdem meisterte sie die Situation hundertmal besser als ich und lächelte mich aufrichtig an. Sie hatte fast ganz schwarzes und sehr glattes Haar, dass sie in einem langen geflochtenen Zopf gebunden hatte und war etwas größer als ich. Aus ihrer Tasche lugte eine Schläger – vielleicht ein Tennisschläger. Im Internet hatte ich gelesen, dass die Schule ein großen wert auf die sportliche Ausbildung ihrer Schüler hatte.
„Ehm, Amy – nenn mich einfach Amy“,
antwortete ich etwas betreten und versuchte ihr freundliches Lächeln zu erwidern. Amelia-Rose hatte mich meine Mum immer genannt, wenn ich etwas angestellt hatte. Sobald mich jemand so rief kam es mir so vor, als würde ich ihre Stimme in meinem Kopf nachklingen hören.
Ich schüttelte ihre Hand. Vielleicht war dieses Buddy-Programm doch eine gute Möglichkeit um nicht ganz verloren und verlassen zu sein. Kontakte zu knüpfen war in einer so eingeschworenen Gemeinde bestimmt nicht so leicht. Die meisten kannten sich schon aus Kindertagen und ich kam nicht nur aus einem anderen Land, sondern kannte bis auf meine Verwandten hier niemanden.
„Also Amy, du musst wissen ich mach diese Buddy-Sache zum ersten Mal, “
wir setzten uns in Bewegung und folgten dem Strom
„und du musst dir keine Sorgen machen, nach einer Woche ist der Spuk vorbei und ich klebe nicht mehr wie ein süßer Kaugummi an deiner Schuhsohle fest.“
Grace grinste und ihre offene und nette Art gefiel mir.

Wir hatten ein paar Fächer zusammen und sie führte mich von Raum zu Raum, holte mich ab und stellte mich beim Essen in der Cafeteria all ihren Freunden vor, Toby, April, Hellen und Cedric. Sie waren alle sehr nett und fragten mich aus. Grade mal einen Bissen konnte ich in meinen Mund schieben und kauen, bevor die Fragestunde begann. Doch niemand fragte mich wieso ich jetzt hier bei meiner Tante und meinem Onkel lebte. Wie ich es mir bereits gedacht hatte wussten alle schon Bescheid. Mir war bereits aufgefallen, dass viele der Schüler mich ansahen, leise flüsterten und deuteten. Hoffentlich würde das schnell ein Ende nehmen. Bei Grace und ihren Freunden fühlte ich mich wohler. Sie spielten ihre Rolle der Nichtwissenden einfach viel besser.
„Und, in welche Sportgruppe wirst du gehen?“,
fragte mich Toby. Mit der einen Hand fuhr er sich durch seine leicht rotstichigen Haare und seine grünlichen Augen leuchteten als er mit mir sprach. Er hatte mir bereits erzählt, dass er mir Grace gemeinsam im Tennisteam spielte und hatte mit seinem Schläger seltsame Ausholbewegungen gemacht, um mir seine neu gelernte Technik zu zeigen. Grace hatte darauf hin nur genervt geseufzt. Scheinbar war Toby von seinen Tenniskünsten überzeugter als Grace es war.
„Ich habe mir dazu noch keine Gedanken gemacht.“
Antwortete ich nach einer Weile. Bevor ich aus Paris kam hatte ich das Angebot der Schule nur schnell überflogen. In Kalifornien war ich im Schwimmteam gewesen. Wasser war einfach mein Element, das mich immer wieder anzog und in dem ich mich gut bewegen konnte. Doch wollte ich mich eigentlich erst einleben und dann vielleicht einmal beim Schwimmteam vorbei schauen, bevor ich irgendwas fest zusagen und Verpflichtungen eingehen wollte. Außerdem kannte ich ja noch niemanden, den ich dort treffen würde.
„Du musst ins Volleyballteam kommen.“
Sagte Hellen gleich. Sie hatte ein großes Herz und strahlte Freundlichkeit aus jeder ihrer Poren wie Sonnenstrahlen hinaus. Das merkte ich schon nach kürzester Zeit. Ihre braunen Haare waren in viele kleine Locken gewellt und ihre Augen glänzten immer wenn sie sprach, als könnte sie kein Wässerchen trüben.
„Oder du gehst mit zu April zu den Cheerleadern.“ Grace stupste April an, die ganz versunken in ihr Mathebuch war. Alle Bilder und Vorstellungen dich ich bezüglich Cheerleader im Kopf hatte, hatten nicht annähernd eine Ähnlichkeit mit April. An meiner Schule in Kalifornien gab es diese hübschen Mädchen, die mit ihren Cheerleading Trikots an den Armen der Footballern hangen, an jeder Ecke und sie entsprachen dem üblichen Schema, das man aus vielen Filmen kannte.
April war eher unscheinbar. Sie trug eine schmale Brille auf ihrer Nase und ihre Haare waren zu einem wirren blonden Nest hochgesteckt. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ein kleiner Spatz empört seinen Kopf aus ihren Haaren gestreckt hätte. Sie trug die üblichen Jeans und einen geringelten Pullover – keine spezielle hochtrabende Marke und ihr Gesicht steckte tief in Algebra. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass April sich ein Cheerleader Kostüm anzog und die Pomm Pomms hin und her schmiss, um lauthals ihre Mannschaft anzufeuern. Es lag nicht daran, dass ich sie nicht hübsch fand – April war wirklich wunderschön, trotzdem passte sie absolut nicht in diese Schublade hinein.
April murmelte etwas Unverständliches in sich hinein und blätterte einfach eine Seite um.
„Sie meint es nicht böse.“,
sagte Hellen und verdrehte die Augen.
„April möchte in ein Programm für mathematisch Hochbegabte aufgenommen werden, da sie dann mit ihrem Freund gemeinsam an der selben Universität studieren kann.“
„Und diese Tests dazu sind in ca. einer Woche.“
Warf Cedric ein. Ich war mir sicher, dass er heimlich auf April stand, so wie er sie aus seinen großen Dackelaugen beobachtete und seine Ohren ganz rot wurden, wenn sie ihn ansah.
Cedric wandte seinen Blick von April ab als er merkte, dass ich ihn wohlmöglich ertappt hatte und zwinkerte Toby verschmitzt zu und deutete mit einem kurzen Nicken zu April. Plötzlich schnappte dieser sich das Mathebuch aus Aprils Händen, Cedric hielt sie währenddessen fest, damit Toby einen kleinen Vorsprung hatte.
Doch April machte sich los und sprintete hinter Toby, der sich zwischen den Stühlen und Tischen hindurch drängelte. Ich musste breit grinsen. Wie lange war es her, dass ich mich so amüsiert hatte, wobei ich schon das schlimmste für heute befürchtet hatte. Erste Schultage sind dafür bekannt als negativ Erlebnis ins Gehirn gebrannt zu werden.
Fast hatte April Toby erwischt. Im letzten Moment eilte Cedric zu Hilfe und wollte das Buch auffangen, dass Toby ihm zuwarf, doch es kam ihm jemand zuvor. Ich war so auf das hin und her von April und Toby fixiert gewesen, dass mir die beiden nicht weiter aufgefallen waren. Mit einer Hand hatte der Junge das Buch vor Cedric gefangen. Er war groß und hatte breite Schultern, auch wenn sein Körper eher drahtig als übermuskulös war. Sein Haar war sandfarben, wie der Sand am Strand und seine Haut war ganz hell. Neben ihm stand ein Mädchen. Ein zauberhaftes und ansteckendes Lächeln lag auf ihren schmalen Lippen. Sogar auf die Entfernung konnte ich ihre großen klaren blauen Augen sehen. Ihre Haare waren Platin blond, und flossen wie ein Wasserfall hinab bis zu ihrer Hüfte. Das muntere Geplapper war verstummt. Auch mein Mund stand offen und ich beobachtete gespannt was passieren würde.
„Ich glaube, April, das ist dein Buch.“,
sagte der Junge freundlich und mit sanfter Stimme. Er ging zu April hinüber und reichte ihr das Buch. Dann nahm er das Mädchen an seine Hand und beide gingen aus der Cafeteria. April streckte Toby kindlich die Zunge raus und setzte sich wieder zu uns. Die zwei Jungs trabten ihr wie zwei geschlagene Dackel hinter her.
„Wer sind denn die zwei gewesen?“,
fragte ich Grace und sah ihnen noch nach, als sie im Gang verschwanden.
„Du meinst Nora und Lucas, die beiden Friedensstifter.“
Ich konnte die Ironie in ihrer Stimme hören. Scheinbar waren die zwei nicht sehr beliebt.
„Sie sind sozusagen ein Paar und Leben hier auch erst seit ca. 2 Jahren bei Noras Großeltern. Sie sind fürchterlich nett, hilfsbereit und haben noch nie etwas ausgefressen.“
Es klang wie eine Anklage.
„Du weißt dich gar nicht, ob sie ein Paar sind“,
warf April schließlich ein.
„Also, ich habe Lukas und Nora noch nie gesehen, wie sie sich küssen oder so. Vielleicht sind sie ja auch nur gute Freunde.“
„Gute Freunde?“,
sagte Grace und schüttelte ungläubigen ihren Kopf.
„Gute Freunde wohnen nicht zusammen – nein, die verbergen doch was“.
Sie kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sah in die Runde
„Und dann musst du dir überlegen dass sie beide gemeinsam bei Noras Großeltern leben. Das ist doch nicht normal. Was ist mit den Eltern von denen?“
„Vielleicht sind sie ja abgehauen? Verbotene Liebe? Romeo und Julia??“
Hellen schaute verträumt auf und stocherte in ihrem Essen rum.
„Wie Romeo und Julia?“,
fragte ich ganz ungläubig.
„Naja, vielleicht verbotene Liebe – vielleicht sind die beiden doch zusammen nur ihre Eltern wollten das nicht und so leben sie jetzt vereint hier…bei ihren viel toleranteren Großeltern.“
„Das würde deine Chance bei Nora aber ganz schön schmälern.“,
sagte April zu Toby und bewarf ihn mit einem Stück Paprika aus ihrem Salat. Er verzog sein Gesicht aber nur zu einer Grimasse und seine Ohren glühten hoch rot.

Nora und Lucas hatten es im Gegensatz zu mir geschafft ihren Grund für ihren Umzug geheim zu halten. Ich hatte auch das Gefühl gehabt, dass zwischen beiden mehr stand als nur eine Freundschaft, wie April davon gesprochen hatte. Wie selbstverständlich hatte er sie an die Hand genommen.
Ich sah auf die große Uhr an der Wand und seufzte. Die mussten sicherlich nicht zum Psychologen, dachte ich. Ich seufzte noch mal und hoffte, dass der Tag nicht so schnell rum, oder die Psychologin vielleicht gar nicht da wäre.
Doch die Zeit verging wie im Flug. Der Unterricht war erstaunlich gut gewesen und obwohl ich damit gerechnet hatte den Anschluss verloren zu haben, kam ich gut mit. Ich musste mich zwar gut konzentrieren und von vielen Sachen hatte ich das Gefühl zum ersten Mal von ihnen zu hören, aber ich war ganz Motiviert.
Nach der letzten Stunde suchte ich missmutig den Raum von Miss Pears auf. Ich hoffte sehnlichst, dass es nur bei einer Sitzung bliebe und diese auch schnell und schmerzlos sei. Vor der Tür atmete ich tief durch. Ich hatte mir fest vorgenommen, nur das nötigste zu beantworten, nicht ins Detail zu gehen und ja nicht zu weinen. Ich wollte einen sicheren und selbstbewussten Eindruck hinterlassen. Niemandem einen Grund zur Panik geben, damit man mich endlich in Ruhe ließe. Also verschnürte ich meine Gefühlswelt doppelt und dreifach, setzte ein Lächeln auf und klopfte.
Das Gespräch hatte nicht lange gedauert und auch die bohrenden Fragen blieben aus. Ganz erstaunt stellte ich später fest, dass es ganz okay gewesen war. Allmählich fragte ich mich, ob ich diesen Tag nur träumte und ich den ersten gruseligen Schultag noch vor mir hätte. Miss Pears fragte nur ob ich mich gut eingelebt hätte, mich in Dorf123 wohlfühle und erinnerte mich in einem kurzen Nebensatz daran, dass ich bei Selbstmordgedanken jeglicher Art auch außerhalb ihrer Sprechstunden kommen könnte. Nur eine kleine Frage zu meinen Eltern stellte sie mir.
„Wie kommen Sie mit Ihrem schlimmen Verlust zurecht?“
Die Frage war ganz unvermittelt zwischen zwei Standardfragen gestellt worden und traf mich aber nicht unerwartet. Ich reagierte aber ganz instinktiv mit meinen zurecht gelegten Antworten, dass mir meine Eltern natürlich fehlten, aber meine Familie mir den Halt gibt um weiter voran zu gehen. Im Prinzip entsprach das auch der Wahrheit. Ich hatte alles im Griff.


Kapitel 3

Die nächsten Schultage liefen genauso gut. Meine Sorgen und Ängste waren überflüssig gewesen. Die mitleidigen Blicke nahmen zwar nur langsam ab aber dafür fühlte ich mich bei Grace und ihren Freunden gut aufgehoben. Ich entschloss mich nun doch einer Sportgruppe beizutreten. Nicht nur, weil Toby versuchte mich davon zu überzeugen gemeinsam mit ihm und Grace Tennis zu spielen und mir allmählich die Ausreden ausgingen. Nein, ich wollte mein Leben hier in die Gänge bringen und geschwommen war ich das letzte Mal, als ich noch zu Hause bei meinen Eltern war. Ich wollte diese Leichtigkeit wieder spüren. Ich musste also auch nicht lange überlegen. Ich trug mich für das Schwimmteam ein, das sich am nächsten Tag nach der Schule treffen würde und stellte mich Coach Phierson vor – Grace hatte mir gesagt, dass er da großen Wert drauf läge. Der Coach war ein Mann mittleren Alters und einem strengen Gesichtsausdruck. Das breite Kreuz war für einen richtigen Sportschwimmer üblich. Schwimmhäute zwischen seinen Fingern hätten mich keineswegs gewundert. Er gab mir meine Schwimmkleidung und trichterte mir noch ein, wie wichtig er Pünktlichkeit fand. Aber mit Pünktlichkeit hatte ich noch nie zu kämpfen gehabt, da ich grundsätzlich bei jeder Gelegenheit 5 Minuten zu früh war.
Das dachte ich auf jeden Fall. Aber mit meinem Chemielehrer hatte ich nicht gerechnet. Ein verbiesterter alter Mann, der die Stunde glatt überzog, so dass alle schon unruhig auf ihren Stühlen saßen. Als er uns endlich gehen ließ schnappte ich mir schnell meine Sachen. Aber nicht nur ich hatte es eilig. Die Anderen quetschten und drängelten sich durch die schmale Tür. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten um dann durch die Tür zu schlüpfen als sich ein kleiner Spalt auftat. Ich eilte über den großen Platz zur Schwimmhalle, die schräg hinter dem Sportgebäude war. Ich war alleine in der geräumigen Umkleidekabine und wusste genau, dass ich die letzte sein würde. Umso schneller zog ich mich um und verhakte mich dabei in meinen Hosenbeinen. Mit einer Hand versuchte ich mir einen Zopf zu binden und mit der anderen griff ich nach dem Handtuch. Diese blöde Chemiestunde. Gleich bei meinem ersten Training zu spät. Das würde einen hervorragenden Eindruck hinterlassen. Ich eilte aus der Umkleidekabine in die Schwimmhalle und es passierte das, was passieren musste. In den letzten Tagen war es einfach zu gut gelaufen. Ich rutschte mit meinen nassen Füssen auf dem glatten Boden der Schwimmhalle aus. Ich merkte, wie ich das Gleichgewicht verlor, ruderte mit den Armen und versuchte mich irgendwo festzuhalten. Ich wusste, ich würde jeden Moment rücklings auf den harten Boden fallen. Ich hatte nicht nur Sorge vor den Schmerzen, die der Sturz verursachen würde. Nein, aus den Augenwinkeln hatte ich die Mitglieder des Schwimmteams entdeckt und denen würde ich auf jeden Fall eine amüsante Darbietung liefern.
Doch der Knall blieb aus. Zu meiner Überraschung landete ich in einem Paar warmer und weicher Arme und sah zwei tiefblaue Augen, die mich prüfend ansahen. Ich dachte mein Herzschlag hatte aufgrund des bevorstehenden Sturzes schon einmal ausgesetzt. Jetzt schlug es noch mal kurz an um dann in einem Galopp durchzustarten, als würde es mir durch die Brust springen. Er legte den Kopf schräg, sah mich aber weiterhin an – für meinen Geschmack etwas zu lange. Schon stieg die Röte in mir hoch und mein Gesicht wurde merklich wärmer.
„Jetzt fängst du neben Büchern auch noch junge Mädchen.“
Sagte einen sanfte Stimme. Lucas, der mich in seinen Armen hielt lächelte darauf hin und stellte mich vorsichtig wieder in die Senkrechte. Neben ihm erschien Nora. Ich hingegen hatte meine Sprache noch nicht wiedergefunden.
„Alles okay bei dir?“
Lucas hob mein Handtuch vom Boden auf und reichte es mir. Ich hob meinen gesenkten Blick und sah nun die beiden genauer an. Nora trug wie ich einen Badeanzug. Nur sah er an ihr tausendmal besser aus. Sie hatten einen sehr feinen Köperbau mit langen Armen und Beinen. Sie sah aus wie eine Elfe, ja, das war ein guter Vergleich. Ihre Haare waren geflochten und lagen über ihrer Schulter. Lucas trug Badeshorts. Sein Oberkörper war nackt. Es war nicht der erste Mann mit freiem Oberkörper, den ich sah doch dieses Mal war ich erstaunlich peinlich berührt. Wie bei den meisten Schwimmern hatte er einen muskulösen Körper, muskulöser, als es unter seiner Kleidung in der Cafeteria zu erkennen gewesen war. Trotzdem wirkte es nicht überproportioniert. Im Gegenteil gefiel es mir sehr gut. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich wusste doch, dass er und Nora zusammen waren, aber meinen aussetzenden Herzschlag interessierte diese Tatsache überhaupt nicht.
„Danke.“, sagte ich und nahm das Handtuch „Also, natürlich nicht nur für das Handtuch sondern auch dafür…“ ich gestikulierte ungelenk um mich herum und hätte fast wieder das Gleichgewicht verloren.
Der laute Pfiff vom Coach rückte meine Gedanken wieder an die richtige Stelle.
„Miss Nelson, wollen Sie noch ein Weilchen Tango mit Mister Hillard tanzen?“
Konnte man noch roter werden? Ja, man konnte. Lucas ließ das ganz kalt. Er grinste bloß und setzte sich in Bewegung.
„Komm mit.“ Sagte Nora. Sie legte mir wie selbstverständlich ihren langen Arm um die Schulter und schob mich mit zur Gruppe, die bereits vorm Coach stand und mich beobachtete ob ich vielleicht noch mal hinfallen würde.
Nach dieser peinlichen Aktion verlief das Schwimmtraining ohne weitere Komplikationen. Coach Phierson lobte mich und ich konnte mir meinem guten Schwimmstil punkten. Im Wasser war alles einfach viel leichter. Es war wie atmen für mich. Das Wasser schmiegte sich um mich und ließ mich einfach treiben.
Der beinahe Sturz war mir jedoch noch so unangenehm, dass ich die Nähe zu Lucas mied. Ich hatte aber das Gefühl dass beide mich zwar nicht auffällig aber aufmerksam beobachteten. Immer wenn ich dachte ich hätte sie dabei ertappt, waren sie schon wieder mit etwas anderem beschäftigt. Möglicherweise bildete ich mir das aber nur ein – das versuchte ich mir einzureden.

Das Training war vorbei und ich saß auf der Bank in der Umkleidekabine und zog mir meine Socken an. Es waren grade mal vier weitere Mädchen im Team, so dass ich genug Platz um mich herum hatte um mich auszubreiten. Die anderen Mädchen waren grade aus der Tür gegangen und ich hörte noch das regelmäßige Plätschern der Dusche unter der Nora noch stand. Ich wunderte mich, dass sie sich so viel Zeit ließ. Seltsam, dass sie nicht gemeinsam mit uns anderen Mädchen geduscht hatte. Nach dem Training waren wir in den Kabinen verschwunden. Nur Nora und Lucas ließen sich Zeit und drehten noch eine extra Runde im Wasser. Der Coach hatte nichts weiter dazu gesagt und fand ich komisch. Ich holte meine Schuhe hervor und schlüpfte hinein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass beide mehr Training als normal nötig hätten. Zwar hatte ich mich bemüht nicht in die Richtung der beiden zu sehen, trotzdem war mir aufgefallen, dass Nora und Lucas sich wie Fische im Wasser bewegten. Hätte ich es nicht besser gewusst würde ich sagen, dass sie statt Beinen eigentlich eine lange Schwanzflosse hätten. Wie eine Meerjungfrau glitt Nora im Wasser, dabei reflektierte ihre helle Haut unter der Wasseroberfläche und es sah aus, als würde sich das Licht der Hallenbeleuchtung an ihrer Haut brechen, wie bei einem Diamanten. Auch Lucas flog beinahe durch das Wasser. Was Nora an Eleganz zeigte, war bei ihm die Präzision und Schnelligkeit. Als wir uns zu Beginn langsam aufwärmten und einige Bahnen schwimmen sollten, bemerkte ich wie er mich einige Male überholte.
Das Plätschern verstummte und ich hörte das Geräusch von nassen Füßen, die vorsichtig über Fliesen tapsten. Nora hatte sich in ein langes Handtuch eingewickelt und erschreckte sich kurz als sie mich sah.
„Ich trödle immer etwas rum“,
sagte ich nur.
„Ist schon okay!“,
antwortet sie.
„Ich bin sonst immer die letzte und habe einfach nicht damit gerechnet, dass hier noch jemand sitzt“.
Sie sie nickte mir zu und ging an mir vorbei zu ihrem Spint, in dem sie ihre Sachen verstaut hatte.
Meine Haare waren noch etwas nass, aber ich wollte sie nicht föhnen sondern klemmte sie nur mit einer Spange fest, damit sie meinen Pullover am Nacken nicht komplett durchnässten. Beim Hinausgehen suchte ich nach der Einkaufsliste, die ich beim Frühstück geschrieben hatte. Ich wollte Muffins backen und brauchte dafür noch einige Zutaten. Der Zettel war ganz verknüllt in der letzten Ecke meiner Tasche und wäre die Tasche größer gewesen wäre mein Kopf noch tiefer in ihr verschwunden.
„Kann ich dir helfen?“
Mit einem Satz viel mir die Tasche aus den Händen und verteilte ihren ganzen Inhalt auf dem Boden vor mir.
Verärgert zischte ich etwas vor mich hin und ging gleich in die Hocke um die vielen Kleinigkeiten, die meine Tasche bewohnten, einzusammeln ohne dabei in sein Gesicht zu sehen. Das war schon die zweite Peinlichkeit des Tages, in die Lucas involviert war – natürlich eher unabsichtlich. Ich war mir sicher, dass meine Ohrenspitzen wie kleine Lampen aufleuchteten – so heiß waren sie geworden und ich wäre liebend gerne in meine Tasche gekrochen und hätte darauf gewartet, dass Lucas mich einfach so liegen ließe und ging. Den Gefallen tat er mir allerdings nicht.
„Ich hab dich erschreckt.“,
sagte er nur und ging ebenfalls in die Hocke und half mir, bevor der langsam einsetzende Regen alles durchweichen würde.
„Das war echt nicht meine Absicht, Amy.“
„Ist schon okay – dann sind wir jetzt ja quitt.“,
murmelte ich und dachte an Nora, die nicht mit mir in der Umkleidekabine gerechnet hatte. Endlich war alles wieder an seinem Platz und es gab keinen guten Grund mehr um auf den Boden zu starren. Also blickte ich in Lucas an, der mir seine Hand reichte und mir beim Aufstehen half. Seine Hand war ganz warm als sie meine Umschloss und er mich vorsichtig hochzog. Mein Herz setzte wieder in einen schnellen Galopp über, der in meinen Ohren schrecklich nachpolterte. Hoffentlich klang es nur für mich allein so laut. Ich kannte diesen Typen doch gar nicht, sagte ich zu mir selbst und versuchte ihm meine Hand zu entziehen. Er hielt sie aber noch immer umschlossen.
„Eigentlich habe ich mich ja noch gar nicht richtig bei dir vorgestellt. Mein Name ist Lucas und du bist Amy, die ominöse Neue, richtig?“
Gerne hätte ich geantwortet, ja – ich bin Amy. Freut mich wirklich sehr deine Bekanntschaft zu machen und danke, dass du mich heute beim Schwimmen aufgefangen hast. Statt dessen nickte ich nur. Diese ganze Situation überforderte mich mehr als ich je von mir gedacht hätte. Seltsamerweise hatte ich ein souveräneres Bild von mir selbst im Kopf gehabt wenn es um den Umgang mit Jungs ging. Bisher hatte ich aber wenn es um Jungs ging auch nicht das Gefühl jemand würde mir abwechselnd heißes und dann wieder eiskaltes Wasser über den Rücken gießen.
Nachdenklich sah er mich an.
„Ich werd dann mal…“,
brachte ich raus und deutete auf den Parkplatz.
„Kann ich dich ein Stück begleiten? Nora braucht so wie ich sie kenne bestimmt noch eine Weile.“
Mein Instinkt wollte schon vehement den Kopf schütteln, aber dann machte ich mir klar, dass ich schrecklich unhöflich rüber kommen musste. Zweimal hatte er mir schon geholfen und war bisher sehr freundlich zu mir gewesen. Und nur weil er mich irgendwie durcheinanderbrachte war das kein Grund um unfreundlich zu sein – es waren ja nur ein paar Schritte.
„Wenn es Nora nicht stört, dann soll es mir recht sein.“
Meine mickrige Flüsterstimme gewann langsam wieder an Substanz und ich setzte einen wackeligen Schritt vor den nächsten. Allmählich hatte der Regen zugenommen und Lucas spannte einen Regenschirm über uns aus und hielt ihn so, dass auch ich darunter passte. Er rückte noch näher zu mir. Er roch atemberaubend. Der Geruch war kaum zu beschreiben. Vermischt mit dem frischen Duft des Regens traf es mich wie ein Schlag, der ein wohliges Gefühl in mir auslöste, das ich vehement zu unterdrücken versuchte. Vielleicht verlor ich doch den Verstand und sollte eine freiwillige Sitzung bei Miss Pears annehmen.
„Wie ergeht es dir bisher hier? Gefällt es dir?“
„Ich war immer Sommer schon oft hier, so dass mir die Gegend nicht fremd ist.“,
sagte ich.
„Tatsächlich? Ich muss gestehen, dass ich dich hier zum ersten Mal sehe. Am Strand zumindest bist du mir nicht aufgefallen.“
Ich verzog meine Miene. Natürlich war ich ihm nicht aufgefallen. Wenn man eine solch schöne Freundin wie Nora hatte, konnte man wenn dann gar nicht oder nur negativ auffallen. Andererseits war auch er mir bisher gar nicht aufgefallen. Das lag aber daran, dass ich immer mehr Zeit mir meinen Cousinen verbracht und mir kaum Gedanken um andere Personen in meiner Umgebung gemacht hatte.
„Jetzt sehen wir uns aber sicher öfter.“
Sagte er, als ich nichts erwiderte. Wir blieben an meinem Auto stehen und ich sah hoch in sein Gesicht. Ich wusste, dass ich irgendwas produktives zu dem Gespräch beitragen musste. Sein Blick war fragend und sehr nachdenklich. Er fragte sich sicherlich schon wieso ich so gesprächig war wie ein Stein. Bevor ich aber einen Satz in meinem Kopf formulieren konnte beugte er sich ein winziges Stück zu mir hinab.
„Hör zu, wenn ich dir auf die Nerven gehe… ich will dir wirklich nicht auf den Wecker gehen…du…“.
„Nein, also … ich …“,
ich stammelte. Noch bevor ich das Chaos überwinden konnte hörte ich von weitem jemanden rufen. Lucas sah mir noch einen Moment lang in meine Augen.
„Wir sehen uns!“,
sagte er und lief zur Halle zurück. Ich sah ihm nach und konnte Nora erkennen, die unter dem Vordach der Schwimmhalle auf ihn wartete. Wie angewurzelt stand ich an meinem Auto und hielt mich am Heck fest. Meine Haare waren sowieso nass, deswegen machte mir der Regen nichts aus. Ich war ein totaler Volltrottel. Meine Stirn legte sich in Falten und ich spürte wie meine Schuhe langsam aber sicher aufweichten. Es störte mich aber nicht. Was war los mit mir, das mein Verstand komplett aussetze. Für solche Fälle sollte es ein Notfallprogramm in meinem Kopf geben, das bei Unzurechnungsfähigkeit eingriff. Er war ganz nett zu mir gewesen und ich hatte ihn behandelt wie jemanden, mit dem man nichts zu tun haben möchte – wobei…wollte ich etwas mit ihm zu tun haben?

Meine Starre ließ nach und ich setze mich ins Auto. Ich blickte in den Rückspiegel. Ich sah aus wie eine Katze, die man aus einem Fluss gezogen hatte. Sogar der verdatterte Gesichtsausdruck passte. Mir war die Lust zu backen gänzlich vergangen. Statt zum Supermarkt fuhr ich gleich nach Hause. Ich zog mir etwas Trockenes an und legte die Schuhe auf die Heizung, in der Hoffnung dass sie morgen wieder trocken sind. Dann kochte ich mir einen Tee und ging hoch in mein Zimmer. Es war keine so gute Idee gewesen starr wie ein Baum im Regen gestanden zu haben. Ich fror elendig und schlag eine Decke um mich, als ich mich auf das Sofa setzte und den Regen an der Fensterscheibe beobachtete. Der heiße Tee wärmte mich langsam auf. Wie sollte das nur im Winter werden, wenn der Schnee bitterkalt und unerbittlich Dorf123 umschließen würde. Laura hatte in einer ihrer E-Mails mal berichtet, dass nach einem Schneesturm die Schule für eine Woche nicht zugänglich und alle Schüler frei gehabt hatten. Schnee war mir nicht fremd und eigentlich mochte ich dieses weiche puderige Zeug. In meinem alten Leben gab es nur dann Schnee, wenn Mum und Dad mit uns einen Winterurlaub machten. Mum war eine begeisterte Skifahrerin und obwohl sie ihre Nase gerne der warmen Sonne entgegen streckte, genoss sie den Kontrast des Schnees um so mehr. Ich schloss die Augen und schmiegte mich an die schöne Erinnerung. Seit langem fühlte sich der Gedanke an meine Eltern nicht nur noch schmerzlich an. Ich versuchte nicht oft an sie zu denken, weil sie immer dazu führten die verheilten Wunden aufzureißen. Die Folgen waren für mich nicht abzusehen. Dieses mal konnte ich die Bilder meiner Eltern vor mir sehen, spürte zwar den Verlust aber das brennen blieb aus.

Dann schob sich vor meine Augen das Bild von Lucas und mein Ärger über mich selbst kochte aufs Neue auf. Ich hatte mich fürchterlich benommen – nein, im Prinzip hatte ich gar kein Verhalten gezeigt, außer betretenes Schweigen oder abgehacktes Gestammel. Dazu kam diese viel zu wohlige Gefühl.
Nora, Nora, Nora! Lucas und Nora gehörten zusammen. Auch wenn April da ihre Zweifel hatte spürte ich ganz deutlich, dass eine tiefe Zuneigung zwischen beiden Bestand. Und in dieser Zuneigung hatte ich definitiv keinen Platz. Mein Verstand nahm dieses Argument dankend an, aber ein anderer Teil in mir verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und streckte mir die Zunge heraus. Das kann ja heiter werden dachte ich und genehmigte mir einen großen Schluck Tee.


Kapitel 4

Ich saß über meinen Mathehausaufgaben und zog die Augenbrauen seufzend hoch. Eigentlich waren die Aufgaben nicht so schwer, aber ich konnte mich keine Minute richtig konzentrieren. Am morgen nach dem Schwimmtraining hatte ich mir fest vorgenommen mich nicht öfter als sonst – nun vielleicht eher noch weniger – mit Nora und insbesondere Lucas zu beschäftigen. In Geographie saß er glücklicherweise einige Reihen hinter mir, so dass ich mich nicht sehr anstrengen musste dem Unterricht zu folgen. Nach der Stunde sah ich aus den Augenwinkeln, dass er auf mich zukam. Mit Schwung schob ich einfach meine Sachen vom Tisch in meinen Rucksack und stolperte hinaus, nicht ohne mich an der Tischkante zu stoßen. Ich sah aus dem Fenster und rieb gedankenverloren über den blauen Fleck. Was er wohl gedacht hatte, als ich so fluchtartig verschwunden war? In der Cafeteria ließ ich mir von Toby und Cedric ausgiebig erzählen, was sie am Wochenende planten. Ich verstand nur die Hälfte von dem, was sie mir über ihre geplante Computerspiele-Party erzählten, trotzdem nickte ich interessiert. Beide lenkten mich hervorragend ab. Als Nora und Lucas die Cafeteria verließen blickte ich kurz auf, direkt in sein Gesicht und er erwiderte meinen Blick. Lucas legte seinen Kopf schräg, seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst und seine Miene war verbittert gewesen.

Ich legte den Stift zur Seite und schlug das Mathebuch zu. Meine Konzentration war eh hinüber. Der Wind vor meinem Fenster wirbelte die Blätter an den Bäumen auf und zog und zerrte schwer an ihnen. Was versprach ich mir eigentlich von meinem Verhalten? Ich zog meine Beine an und atmete tief ein. Bisher hatte er mir nicht eine Sekunde etwas Böses getan. Seine Nähe verwirrte mich und die bisherigen Zusammentreffen waren mir wahnsinnig peinlich gewesen. Aber all das waren Dinge für die er nichts konnte. Ich hatte nur ein sehr ausgeprägtes Talent für den falschen Augenblick. Auf der anderen Seite machten mir meine eigenen Gefühle sorge. Das was ich im Moment empfand war eher flatterhaft, nichts Konkretes wie ein zarter Windhauch. Nicht so stürmisches, wie das Bild das sich mir draußen bot und ich musste schmunzeln. So ein kleiner Windhauch müsste sich doch leicht bändigen lassen? Und da war ja schließlich noch Nora; die bezaubernde Nora. Ich hatte kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass sie eine sehr treue Seele war, mit der ich mich auf Anhieb gut verstehen würde.
Ich zog die Schublade meines Schreibtisches auf und holte eine silbrige Kette mit einem diamantenem Anhänger in Herzform hervor. Er hatte meiner Mum gehört. Dad hatte ihr die Kette zur Hochzeit geschenkt und sie hatte sie gehütet wir ihren Augapfel. Ich hielt den Anhänger ins Licht und betrachtete die bunten Reflexionen. Wie gerne hätte ich jetzt meine Mum da gehabt, um mit ihr über all das zu reden und sie um Rat zu fragen.

April hatte mir erzählt, dass Nora und Lucas nicht unbeliebt an der Schule seien. Dennoch beäugte man sie immer misstrauisch. Niemand konnte so recht etwas mit ihnen anfangen, auch wenn sie sich allen vielen Aktionen der Schule und auch der Gemeinde beteiligten. Die Einwohner fanden das seltsame Verhältnis, diese Beziehung die sie sich nicht erklären konnten, fragwürdig.
„April, du willst mir doch nicht sagen, dass seit 2 Jahren die Leute tuscheln und niemand einfach bei ihnen nachgefragt hat?“,
hatte ich gesagt. Noch bevor April antworten konnte hatte Grace das Wort übernommen und ihre Worte hallten noch immer in meinem Kopf nach.
„Nein – das gehört sich doch irgendwie nicht. Zudem gibt es da nichts nachzufragen.“
Sie wollten es gar nicht so genau wissen. So lange niemand die Wahrheit wusste gab es genug Spielraum für wirre Spekulationen. Die Regeln in einer eingeschworenen kleinen Gemeinde waren fast so kindisch wie die in einer Schule.
Und auch ich trat ihnen mit einer Abneigung entgegen, die sie im Prinzip nicht verdient hatten. Meine Gründe waren vielleicht andere, dennoch macht es nach Außen hin keinen Unterschied.
Ich hörte ein leises Klopfen an der Tür und kurz danach öffnete sich die Tür.
„Magst du auch einen Tee? Joseph hat übrigens ein paar Kekse besorgt. Die könnten wir ganz gemütlich vertilgen.“
Carol hielt eine Packung mit meinen Lieblingskeksen, die es nur in dieser Region gab, hoch und raschelte damit, als würde sie eine Katze zum Essen rufen wollen. Das war bei mir aber absolut nicht notwendig. Da wo Tee und Kekse zusammentrafen war auch ich nicht weit.
Joseph hatte vor Jahren einen großen Ofen im Wohnzimmer montieren lassen. Da ich nur im Sommer hier gewesen war, habe ich ihn eher als unförmiges Dekorationsstück gesehen. Jetzt wo das Holz darin knisterte und wohlige Wärme von dem Ding ausging war ich schlichtweg begeistert. Carol, Joseph und ich saßen auf dem Sofa und ließen die letzten Tage Revue passieren. Ich erzählte von meiner ersten Woche, ließ aber den Besuch bei der Schulpsychologin und meine anderen Peinlichkeiten weg. Sie fanden gut, dass ich mich dazu entschlossen hatte wieder schwimmen zu gehen. In Carols Gesicht konnte ich fast so etwas wie, bald ist sie überm Berg, sehen. Ich erzählte von Grace und ihren Freunden und dann erwähnte ich noch Nora und Lucas.
„Sie scheinen das Dorfthema Nr. 1 zu sein.“,
sagte ich als ich einen weiteren Keks in den süßen Tee tunkte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass zwei Teenager so ein großes Gesprächspotential auslösen könnten.“
Joseph seufzte hörbar. Ihm schien das alles auch nicht so gut zu gefallen.
„In Kleinstädten ist jedes Anders sein eine hervorragende Vorlage für Spekulationen und Sticheleien. Ich halte davon genau so wenig wie du. Aber da schreie ich gegen eine ziemlich stabile Wand an.“
„Kennt ihr die Großeltern von Nora persönlich?“
Mir war aufgefallen, dass sich alles um die beiden drehte aber niemand etwas zu den Großeltern, bei denen sie wohnten, sagte.
„Ja, sie leben bei Megan und Ernest.“
Antwortete Carol.
„Ich wusste vorher gar nicht, dass sie neben Benjamin noch ein weiteres Kind haben.“
Ich hatte das Gefühl den Faden verloren zu haben ohne zu wissen wo der Anfang der Schnur war. Fragend sah ich Carol an.
„Was meinst du damit?“
„Also, seit ich die beiden kenne hatten sie nur ein Kind und zwar ihren Sohn Benjamin. Er lebt schon seit mehr als 10 Jahren nicht mehr hier und kommt hin und wieder zu Besuch. Als dann Nora und Lucas auftauchten waren wir alle verwirrt. Benjamin hatte Kinder, aber seine zwei Kinder hießen Kenneth und Theresa. Von einer Nora oder einem Lucas war nie die Rede gewesen.“
Carol schaute aus dem Feuer raus zu Joseph.
„Du warst lange mit Ernest befreundet. Sogar er hat vorher nie etwas von ihnen erzählt. Zudem tauchte Nora zu einem Zeitpunkt auf, an dem es Megan sehr schlecht ging. Sie war sehr krank und sie kam gar nicht mehr aus dem Haus. Ernest pflegte sie liebevoll. Zuerst habe ich geglaubt, dass die beiden Teenanger nur die Gutherzigkeit eines älteren Ehepaares ausnutzen wollten. Aber plötzlich blühte Megan wieder auf. Es war so als ob ihre neu gewonnene Enkelin ihr neue Lebenskraft gegeben hätte.“
Sie runzelte die Stirn und nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse. Wie gebannt hatte ich Carol zugehört, so dass ich nicht gemerkt hatte, dass der Keks in meiner Hand einen ekligen Brei in meinem Tee zurückgelassen hatte.
„Aber wenn beide Megan und Ernest so gut getan haben, dann verstehe ich nicht, weshalb alle anderen kein gutes Haar an ihnen lassen.“
„Es ist nicht so einfach wie du denkst. Auch wenn Megan wieder auf dem Damm ist – und darüber sind wir alle wirklich sehr dankbar – frage ich mich noch immer, wer diese Nora und Lucas wirklich sind.“
„Das haben sie uns doch schon mehrfach gesagt, Carol.“
Joseph, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, stellte seine Tasse ab und stand aus dem Sessel auf.
„Sie sind die Kinder von Ernest Tochter.“
„Ich dachte, sie hätten nur einen Sohn?“
„Naja, Amy…“,
Joseph atmete tief durch.
„Ernest war Megan wohl nicht immer treu. Als ich ihn einmal darauf ansprach und fragte woher seine neue Enkelin so plötzlich stammt erzählte er mir, dass er eine Tochter mit einer anderen Frau habe. Ich mochte ihn nicht noch mehr ausfragen. Es war ihm sichtlich unangenehm und…es ist ja auch seine und Megans Privatsache. Und diese Privatsphäre sollten sich alle hier im Dorf mal zu Herzen nehmen. Die Kinder haben nichts ausgefressen und auch Megan und Ernest geht es seither blendend. Dieses ganze Misstrauen, dass hier gehegt und gepflegt wird ist doch absurd.“
Ich konnte ihm ansehen, wie sehr er sich über die anderen ärgerte. Carol stand auf und ging auf Joseph zu. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und nickte ihm zu.
„Du hast ja Recht.“
Sagte sie und glättete mit der anderen Hand seine Zornfalten auf der Stirn.
„Ich meine es ja auch nicht böse, aber ich mache mir eben auch Sorgen um die beiden. Nicht, dass sie im Alter leichtgläubig werden.“
Joseph brauste auf und wollte schon wieder etwas erwidern. Doch Carol legte ihm einen Finger auf die Lippen.
„Aber wenn Ernest sich sicher ist, dann wird alles schon rechtens sein. Lucas und Nora sind wirklich vorbildliche Teenager…“

Obwohl mir dieses Gespräch viel über Nora und Lucas erklärt hatte, brannte mir noch immer eine große Frage auf der Zunge – waren sie beide Enkel von Ernest oder doch nur Nora und Lucas ihr Freund? Denn wenn es die Großeltern von beiden waren, dann konnte eine Beziehung zwischen den beiden auf jeden Fall ausgeschlossen werden…oder vielleicht doch nicht? War das vielleicht der Grund dafür, dass sie ihre Eltern verlassen hatten oder sogar verstoßen worden sind?
Solche Fragen hatten sich sicherlich auch die anderen Bewohner und Nachbarn gestellt, als ich statt im Sommer im Herbst auftauchte und mich sogar an der Schule einschrieb. Jetzt war ich Carol und Joseph richtig dankbar, dass sie mein ganzes Umfeld, auf das ich hier treffen würde so gut auf mich vorbereitet hatte und so den Spekulationen vorbeugten. Natürlich empfand ich es als unangenehm, wie sie mich mitleidig anschauten und hinter mir tuschelten. Es war aber hundertmal besser als der Klatsch und Tratsch, der durch unbefriedigte Neugier entstand und wie in diesem Fall zwei junge Menschen ausgrenzte, vielleicht sogar die Großeltern ausgrenzte, so wie es geklungen hatte.
Ich wollte noch weitere Fragen stellen, überlegte es mir aber anders. Ich nahm mir fest vor mich gegenüber Lucas und Nora besser zu verhalten und sie einfach selbst zu fragen. Vermutlich war gar nicht so viel an der Sache dabei und die Geschichte wurde wie immer nur künstlich aufgebauscht.

Das ganze Wochenende über hatte ich mir überlegt ob und wie ich mich den beiden annähern sollte. Es war eher das Ob, das viele Fragen aufwarf. Legte Lucas überhaupt noch Wert darauf so wie ich ihn vergrault hatte. Und was sollte ich sagen? Das es mir Leid täte, aber jetzt wo ich hinter ihrem Rücken Informationen über ich eingeholt hätte könnten wir einfach Freunde werden. Nein, damit würde ich nur das Gegenteil erreichen.
Das Gedankenspiel erübrigte sich aber schneller als ich dachte.
Am Tisch mit den Freunden von Grace – es fiel mir schwer nach so kurzer Zeit sie schon als meine Freunde zu bezeichnen – sprach ich das Nora-Lucas-Thema nicht mehr an. Was hätte ich ihnen auch Neues berichten können. Ich wusste ja selbst nicht was der Grund für ihren Einzug bei ihren Großeltern gewesen war. Zwar konnte ich mir viele verschiedene und beliebig spannende Versionen ausdenken. Trotzdem hatte ich mir fest vorgenommen mich aus dem ganzen Tratsch-Prozess weitestgehend rauszuhalten und mich an Fakten zu halten. Und diese würde ich nicht hier sondern nur bei Nora und Lucas selbst bekommen – sollte ich mir nicht schon alle Chancen verbaut haben.
April und ihr Freund, der wie ich erfahren hatte an eine Privatschule ging, schickten sich Nachrichten über ihre Handys. Alle paar Minuten lächelte sie selig vor sich hin und tippte schnell und geschickt auf dem kleinen Display herum. Cedric ließ sie dabei wie gewöhnlich nicht aus den Augen. Vielleicht täuschte ich mich auch, aber sobald Aprils Mundwinkel nach oben zeigten, wurden Cedrics nach unten gezogen. Er tat mir schon ein bisschen Leid.
Toby erzählte uns von einem neuen Videospiel, dass hier in dieser Gegend verboten sei. Er würde aber jemand kennen, der es ihm unter der Ladentheke verkaufen würde. Grace ging gleich in ihren Diskussionsmodus über und riss Hellen mit, so dass ein heftiges Gespräch für das Für und Wider von Altersbeschränkungen bei Videospielen aufflammte. Ich hörte der Debatte nur mit einem halben Ohr zu. Aus den Augenwinkeln schaute ich immer wieder auf die große Uhr an der Wand. Lucas und Nora waren wie ein kleines Uhrwerk. Sie kamen immer eine viertel Stunde später als die anderen Schüler und setzten sich an einen Tisch am hinteren Ende des Saals. Ich schämte mich schon etwas dafür, dass mir der genaue Zeitpunkt, zu dem Lucas in die Cafeteria kam so genau im Gedächtnis geblieben war – das es mir überhaupt aufgefallen war. Als der große Zeiger auf der drei verweilte sah ich zuerst Nora und dann Lucas, der ihr folgte. Dieses Mal hielten sie sich nicht an den Händen. Überhaupt war ich mir nicht mehr so sicher, ob sie wirklich ein Liebespaar waren. Sie waren herzlich und innig zueinander, das spürte ich, aber wie all die anderen sah man sie nie eng umschlungen oder sich zärtlich küssen. Wenn sie sich berührten, dann hielten sie sich nur an der Hand. Und auch das war seltener, als es mir zuvor vorgekommen war. Vielleicht waren sie ja doch Geschwister oder zumindestens verwandt, auch wenn Nora einen anderen Nachnamen hatte. Nora Randle. Ich hatte den ganzen Namen heute auf einer Liste im Flur gesehen, auf der man sich als Nachhilfe für jüngere Schüler anbieten konnte.
Ja, an sich sprechen unterschiedliche Nachnamen nicht auf Anhieb auf eine Verwandtschaft.
Ich schüttelte den Kopf um meine Gedanken an die richtige Stelle zu sortieren, die schon wieder abschweiften und Lucas Gesicht einblendeten um es mir schmackhaft zu machen. Das war wieder so ein Moment bei dem ich irgendwie neben mir stand. Ich konnte mit dem, was mir mein Gehirn und meine Gefühle vorgaukelten nichts anfangen. Es stimmte, die bisherigen Zusammenstöße mit Lucas hatten zu seltsamen Verhalten meines Körpers geführt. Wenn ich daran dachte beschleunigte mein Herzschlag wieder unwillkürlich. Dennoch stellte ich mir so etwas wie verliebtsein anders vor. Mein Herz schlug immer schneller, wenn ich nervös war. Oder machte ich mir doch was vor? Es konnte doch nicht so schwer sein aus sich selbst schlau zu werden.

Sie saßen sich gegenüber und unterhielten sich. Nora sah nachdenklich aus und schaute immerzu aus dem Fenster und schien ihm zuzuhören. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen und um zu hören worum es ging saß ich zu weit entfernt und der Tumult von einem Haufen Schülern, die gemeinsam aßen, mit Geschirr klapperten und redeten übertönte alles. Worum es wohl ging. Nora zwirbelte eine lange Strähne aus ihrem Haar an ihrem Finger auf. Dann senkte sie ihren Blick und nickte zaghaft. Ich platze vor Neugierde und merkte dabei gar nicht, dass ich sie nicht mehr dezent beobachtete sondern direkt hinüber starrte. Bewusst wurde mir es aber viel zu spät und auch erst als Nora auf sah und zu mir schaute.
Einen Moment lang sahen wir uns an ohne nur eine Miene zu verziehen. Ich merkte wie mir die Röte ins Gesicht kroch und so gern ich beschämt wegsehen wollte umso weniger konnte ich es. Ich kannte Nora nur mit einem Lächeln im Gesicht. Doch jetzt waren ihre Lippen unbewegt und ihre glasklaren Augen ganz matt. Ich hatte das Gefühl als wären mehr als zehn Minuten vergangen, als sie dann doch das allseits bekannte Lächeln aufsetzte und mich weiterhin nicht aus dem Blick ließ. Ihr Lächeln war bezaubernd wie immer, aber dieses mal erreichte es ihre Augen einfach nicht. Was war nur los? In dem Moment blickte sich auch Lucas um und ich konnte endlich aus meiner Starre erwachen. Keiner am Tisch hatte etwas mitbekommen und als ich wieder aufsah, waren Lucas und Nora bereits aufgestanden und verschwunden.
Totale Verwirrung zog in mein Köpfchen ein. Hatte Nora vielleicht gemerkt, dass ich eine kleine Schwärmerei oder irgendwas anderes, noch undefiniertes für Lucas empfand. Empfand ich vielleicht sogar mehr als ich dachte und mehr als ich selbst von mir wahrnahm? Obwohl ich mir meiner Gefühle für Lucas noch in keiner Form bewusst war hatte ich nicht das Gefühl gehabt ihm offensichtlich nachzuschmachten. Konnte man sich in jemanden verlieben, den man noch gar nicht richtig kennt? Und sollte man das dann nicht wenigstens merken?
Seit dem Essen machte ich mir Vorwürfe ohne mir genau erklären zu können warum. Irgendwas war zwischen Nora und Lucas passiert und ich hatte etwas damit zu tun. Dieser Blick von Nora. Ich konnte ihn nicht einordnen. Vielleicht war ich auch zu egozentrisch und die beiden haben sich einfach gestritten – das kommt vor, redete ich mir ein. Es fühlte sich bei mir aber nicht so an.
Mir graute es etwas vor dem Schwimmtraining. Ich dachte über alle die wenigen Begegnungen mit Lucas nach und ob ich in irgendeiner Form den Eindruck erweckt hatte, ihn mehr zu mögen. Bisher hatte ich ja nur gestammelt und mich unmöglich Verhalten. Mir schwirrte der Kopf als ich das Handtuch aus meiner Tasche zog. Nora hatte ich in der Umkleidekabine nicht getroffen. Als ich die Halle betrat sah ich sie und Lucas jedoch schon am Beckenrand bei den anderen stehen. Ich atmete tief durch. Worüber machte ich mir eigentlich Sorgen? Was sollte schon passieren. Ich hatte einfach einen hang zur Überdramatogie. Die beiden hatten einen kleinen Konflikt, der absolut nichts mit mir zu tun hatte. Sicherlich hatte sie mich nur angestarrt, weil ich mit Starren angefangen hatte. Ja, das klang plausibel.
„Hi!“, sagte ich und sah in die Runde. Nora sah auf und nickte mir zu. Lucas stand neben ihr. Er wirkte nervös und beunruhigt. Nicht eine Sekunde stand er still. Ich hatte mir den Konflikt zwischen beiden also nicht eingebildet. Er schaute mich an und ich hörte ihn lange ausatmen, als müsste er sich zusammenreissen oder noch mal sammeln. Sollte jetzt der große Ausbruch kommen? Das Schweigen wurde unerträglich und ich knabberte nervös an meiner Unterlippe. Die Anspannung löste sich schlagartig, als ein schallender Pfiff durch die Halle ging.
„Los, los, los! Ins Wasser mit euch und zehn Runden aufwärmen.“, donnerte er. Die Gruppe setzte sich in Bewegung und sprang nach und nach vom Beckenrand ins Wasser. Ich drehte mich kurz um. Nora saß noch immer an der Seite und Lucas stand neben ihr. Er hielt ihr seine Hand hin um ihr aufzuhelfen. Sie zögerte erst. Dann sah sie an Lucas vorbei und nickte mir zu und ihre unbewegten Lippen formten ein kleines Lächeln. Ich hatte schon wieder gestarrt. Ich mutierte also zu einer professionellen Stalkerin. Unbeholfen grinste ich zurück. Was sollte Nora auch anderes denken, wenn ich die beiden so regelmäßig ins Visier nahm. Da kam doch nur eine total benebelte Bessenheit bei heraus. Am liebsten hätte ich mir ein großes Loch gebuddelt und mich darin verkrochen. Heute war einfach nicht mein Tag.
„Miss Nelson – benötigen Sie wieder eine Extra-Einladung?“
Coach Phierson stand plötzlich neben mir und ich zuckte zusammen, so sehr hatte ich mich erschreckt. Nora reichte Lucas die Hand und ließ sich von ihm hochziehen. Einen kurzen Moment – oder bildete ich mir das nur ein – hielten sie inne und er schien ihr kurz etwas ins Ohr zu flüstern. Der Augenblick war aber so kurz wie ein Augenzwinkern und schon sausten beide an mir vorbei und sprangen ins Wasser.
„Na, soll ich Sie vielleicht ins Wasser tragen – Sie stehen ja noch immer hier!“
Der Coach hatte so schon ein lautes Organ, aber so direkt neben mir musste ich mich zusammenreissen um mir nicht die Ohren zuzuhalten. Stattdessen nickte ich nur und sprang ebenfalls ins kühle Nass,
Coach Phierson hatte seinen Schwerpunkt dieses Mal auf Ausdauer gelegt, so dass ich nach dem Training am liebsten gleich in der Umkleidekabine eingeschlafen wäre. Ich war total geschafft, meine Arme und Schultern schmerzten. Zudem ließ er mich, Lucas und noch zwei andere im Team nach dem Training einige zusätzliche Bahnen schwimmen, in der Hoffnung, dass unsere bereits sehr guten Zeiten noch übertroffen werden konnten. Dabei hatte ich gehofft, dass meine Anstrengungen und meine guten Leistungen belohnt werden und nicht in zusätzlicher Arbeit münden würden. Als ich dann endlich müde aus dem Wasser stieg stapfte ich zurück in die Umkleidekabine. Die anderen Mädchen waren natürlich bereits weg. Nora zog sich ihre Jacke grade an und grinste als sie mich sah, fast so als wäre nichts gewesen. Mir war das alles ein Rätsel, ich beschloss aber für heute mit damit abzuschließen. Wer weiß was zwischen den beiden genau vorgefallen war – sicherlich nichts, wo ich meine Nase reinstecken sollte. Aus meiner Tasche suchte ich grade mein Shampoo heraus als Nora sagt: “Kannst du Lucas vielleicht sagen, dass ich schon weg bin? Ich hab ganz vergessen, dass ich heute zum Arzt muss. Du würdest mir einen großen Gefallen tun.“ Sie stand an der Tür und hatte ihren Kopf schräg gelegt. „Ja, klar!“, antwortete ich nur. „Wenn ich ihn sehe sag ich’s ihm.“ Was sollte ich auch anderes sagen. Sie bedankte sich und schon verschwand sie durch die Tür hinaus.
Ich duschte mich schnell, auch wenn das angenehme heiße Wasser mich einlullte und ich lieber noch einige Minuten länger unter der Dusche gestanden hätte. Ich zog mich an, suchte meinen Schal heraus und ging zum Ausgang der Halle. Dort stand bereits Lucas und wartete auf Nora. Als er mich sah öffnete er die Glastür für mich, wie ein Gentleman der alten Schule.
„Das war ganz schön anstrengend, fandest du nicht?“
Er streckte sich und rieb sich dann seine Schulter, um schließlich kräftig und ausgiebig zu gähnen. Soviel zum Thema Gentleman.
„Ich bin auch vollkommen erledigt.“
Gab ich zu und unterdrückte ein Gähnen.
„Übrigens hat Nora mir gesagt, dass sie nicht auf dich warten konnte. Ich glaube sie sagte was von einem Arzttermin, oder so?“
Lucas klatschte sich mit seiner flachen Hand auf die Stirn.
„Ach-ja, stimmt. Mist, hätte ich das nicht vergessen wäre ich nicht länger beim Training geblieben.“
Fragend sah ich zu ihm hoch. Er war fast einen ganzen Kopf größer als ich, vielleicht sogar etwas mehr.
„Wieso? Wolltest du sie zum Arzt begleiten?“ Aber dann fiel der Groschen bei mir „Wie kommst du jetzt nach Hause? Musst du laufen?“
„Nora ist sicherlich in die Stadt zu ihrem Arzt gefahren“, er fuhr sich mit einer Hand durch die noch etwas feuchten Haare „aber ein kleiner Fußmarsch wird mir nicht schaden.“ Er zwinkerte mir zu, hob seinen Rucksack vom Boden auf und schwang ihn sich auf den Rücken.
„Warte, “ hörte ich mich bereits sagen „ich kann dich auch mitnehmen.“ Was war schon dabei, wenn ich ihn nur nach Hause brachte. Es war schlicht und ergreifend eine Geste der Freundlichkeit. Außerdem könnte ich so mein bisheriges Verhalten wieder gut machen. Lucas zögerte und sah mich durchdringend an.
„Bist du dir sicher? Ich meine, ich kann das Stück auch wirklich zu Fuß gehen.“
„Es ist absolut kein Problem. So sehe ich auch etwas mehr von der Umgebung.“ Und mein schlechtes Gewissen wurde ein wenig gestreichelt. Schließlich lächelte er und nickte. Gemeinsam gingen wir zu meinem Auto und er stieg ein. Das unbehagliche Gefühl, das sich ausbreitete wenn er in meiner Nähe war, löste sich zu meinem erstaunen in Luft auf. Diese Seite von mir gefiel mir gleich viel besser, als das verschüchterte Reh, das hinter jedem Grashalm einen Jäger vermutete.
„Also, wo möchtest du denn gerne hin?“
„Eigentlich wohne ich nicht so weit weg von dir. Im Prinzip ist es nur ein paar Straßen weiter.“
Ich zog meine Augenbrauen hoch.
„Tatsächlich…woher weißt du wenn wo ich wohne?“
Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er mir in der Nachbarschaft aufgefallen sein. War er mir nach der Schule gefolgt? Ein wenig mulmig wurde mir schon.
„Unsere Großeltern kennen deine Tante und deinen Onkel.“ Verlegen fuhr er sich durch die Haare und wenn ich mich nicht täuschte waren es diesmal seine Wangen die einen zarten rosaton bekamen.
„Und ich hatte ihnen von dir erzählt…also…das wir gemeinsam im Schwimmteam sind…und…naja…und im Gespräch haben sie uns erzählt, dass euer Haus gar nicht so weit weg sei.“
„Eure Großeltern?“, sagte ich verdutzt „Ich dachte, also…nein, anders, ich hab gehört…“.
Lucas schüttelte den Kopf und lächelte.
„Du hast sicherlich gehört, dass Nora und ich ein Liebespaar sind und nur hier sind um ein altes Ehepaar bis auf ihre Socken auszuräumen. Oder gibt es neuere Versionen, von denen ich noch nichts weiß?“
„Naja, “ gab ich zu und schaute aus der Windschutzscheibe raus, „so was in der Art habe ich auch gehört. “ Ich überlegte ob ich ihm erzählen sollte, was ich bereits über Carol und Joseph über ihn und Nora erfahren hatte. Bevor ich aber ansetzen konnte, lehnte Lucas sich zurück und sagte: “Vieles, was du von den Leuten hier über mich und Nora erfährst, sind nur Gerüchte. Es ist eine komplizierte Geschichte.“
„Wie wär’s, du erzählst und ich fahre – Deal?“ Ich brannte vor Neugier und freute mich endlich Klarheit zu bekommen. Er nickte, ich legte den Gang ein und fuhr in die Richtung in die er deutete.
„Nora’s Mutter adoptierte mich gleich nach Noras Geburt. Sie hatte Zwillinge erwartet doch das andere Kind, ein Junge, starb bei der Geburt. Ihr Herz wurde ganz schwer und sie ertrug den Verlust kaum, so dass sie sich dazu entschloss einem anderen Kind die Liebe zu geben, die sie sich für ihren Sohn aufgespart hatte. So kam ich in die Familie. Sie ließ mir aber meinen Nachnamen. Sie zog mich auf wie ihr eigenes Kind, trotzdem wollte sie, dass ich meine Wurzeln kannte und ließ meine leiblichen Eltern mich regelmäßig besuchen.“
„Wieso wurdest du zur Adoption freigegeben?“, fragte ich und hoffte, dass die Frage nicht zu indiskret sei. Er zögerte, aber dann schien er Mut zu fassen.
„Meine Eltern waren sehr krank – sie wussten, dass sie nicht lange Leben würden. Sie starben als ich acht Jahre alt war. Es war schlimm für mich, aber ich hatte ja Nora’s Mum und ihren Dad, so war es leichter.“
Ich biss mir auf meine Unterlippe. Wie ich hatte er seine Eltern verloren. Nur viel früher. Dabei hatte er noch viel weniger Zeit mit ihnen verbringen können, als ich es gekonnt hatte.
„Ich lebte in meiner neuen Familie und fühlte mich auch wie ein vollwertiges Mitglied. Nora und ich wuchsen nebeneinander wie Zwillinge auf, so dass wir schon immer eine sehr enge Bindung zueinander haben. Trotzdem ging diese Bindung nie über eine verwandtschaftliche Bindung hinaus. Ich liebe Nora, aber ich liebe sie wie eine Schwester – sie ist meine Schwester. Und natürlich nehme ich sie in den Arm oder nehme ihre Hand.“ Die letzten Worte sagte er verärgert. Für Außenstehende wirkte das Verhalten der beiden offenkundig wie das eines verliebten Teenanger-Paares.
„Wieso habt ihr niemandem erzählt, dass ihr Geschwister seid…auch wenn nicht biologisch? Das hätte die Gerüchte im Zaum gehalten.“
„Du hast Recht. Vielleicht sind wir die Sache hier ganz falsch angegangen und beharren jetzt auf falschen Stolz.“
„Wie meinst du das?“ sagte ich und bog in die Straße ein in die er deutete. Er zeigte auf ein großes Haus am Ende der Straße. Ich erkannte es sofort. Ich war schon einige Male daran vorbeigefahren. Tatsächlich lag es nicht weit von meinem zu Hause entfernt. Ich hielt davor an. Mittlerweile dämmerte es und es brannte Licht aus einem der Fenster.
„Wir kamen in den Sommerferien hier an und verhielten uns nicht anders als zu Hause. Nora ist nicht die Tochter von Benjamin, dem einzigen Kind von unseren Großeltern. Unsere Mum ist sozusagen das Kind der Frau, mit der Ernest fremdgegangen ist. Megan nahm uns jedoch sehr herzlich auf – sie war noch sehr krank zu der Zeit, weißt du…“.
Ich nickte stumm. Er schaute mich an und suchte nach einer bestimmten Regung in meinem Gesicht. Obwohl ich die groben Hintergründe schon kannte hörte ich ihm gespannt zu. Lucas seufzte und erzählte weiter.
„Glücklicherweise geht es ihr jetzt viel besser…naja, ich glaube auf jeden Fall das die Gerüchte grade deswegen entstanden sind, weil Ernest Megan schützen wollte. Du siehst ja, wie schnell hier sich die Mäuler zerrissen werden. Er erzählte es nur denen, die er gut kannte und die ihn fragten.
Als sie uns an der Schule anmeldeten wurden wir nicht als Geschwister eingetragen – offiziell sind wir das ja auch nicht – und wurden auch so von unserer Lehrerin den Schülern vorgestellt. Wir alle gingen nicht davon aus, dass das zu Problemen führen könnte. Ganz im Gegenteil. Ich dachte, dass grade die Tatsache, dass wir in der Schule nicht als Geschwister angesehen wurde, die innige Beziehung von Nora und mir nicht als schandhaft dargestellt würde…“
Traurig senkte er seinen Blick. Gerne hätte ich meine Hand ausgestreckt und auf seine Schulter gelegt. Sie hatten sich so bemüht in das Schema hier zu passen und waren dabei trotzdem durch die engen Maschen gefallen. Dorf123 wurde mir von Minute zu Minute unsympathischer.
Die Situation war vertrackt. Lucas und Nora waren Geschwister, aber keine leiblichen, so dass es im Prinzip nicht schlimm wäre, wenn sie ein Paar wären. Aber würde man jetzt die Information verbreiten, dass es nichts außer innige Geschwisterliebe zwischen den beiden steht, würde das unter Garantie zu neuen Gerüchten führen. Ich musste zugeben, dass auch ich mich über sie gewundert hätte, grade weil sie im selben Alter sind und so herzlich zueinander waren. Auch Jason nahm mich in den Arm oder ich hakte mich bei ihm ein. Bei uns war der Altersunterschied so hoch, dass niemand sich etwas dabei dachte. In Kalifornien hat nie ein Hahn danach gekräht, wenn wir am Strand lagen und ich meinen Kopf an seine Schulter gelehnt hatte.
Schließlich hob ich meine Hand, streckte mich vor und legte sie auf Lucas Schulter. Er sah mich an und lächelte traurig.
„Wenn es wenigstens nur mich und Nora allein betreffen würde…leider haben wir da auch Ernest und Megan mit hineingezogen.“
„Ist Nora deswegen so mitgenommen?“
„Es ist dir also aufgefallen, was? Hätte ich mir eigentlich denken können…du bist anders als die anderen.“ Das letzte sagte er so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er es wirklich gesagt hatte. Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen und wartete darauf, dass er vielleicht mehr erzählen würde. Dabei bemerkte ich etwas Besonderes bei mir. Diese Nervosität und das seltsame Kribbeln, das ich immer gehabt hatte, wenn ich auf Lucas traf, war gänzlich verschwunden. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe, aber mein Herz schlug ruhig und normal. Bevor ich mir weitere Gedanken über meine Gefühlswelt machen konnte nahm Lucas meine Hand von seiner Schulter in seine Hände. Ich war mir zuerst unsicher, ob ich sie ihm entziehen sollte. Ich konnte mir keinen Reim auf das machen, was in mir vorging oder von dem ich zumindestens vermutete, was ich empfinden sollte und ließ sie schließlich in seinen großen warmen Händen regungslos liegen. Seltsamerweise regte sich nicht viel bei mir, mein Herz blieb ruhig in seinem Rhythmus – zuckte nur kurz auf, als er meine Hand genommen hatte, erholte und entspannte sich dann schließlich wieder. Ich versuchte diese Situation und die Gefühle abzuspeichern um sie später noch einmal hervor zu holen. Dann konzentrierte ich mich wieder auf Lucas.
„Gestern Abend habe ich mit Nora geredet. Es wäre sicherlich einfacher, wenn wir uns de Vorstellungen der Leute entsprechend verhalten. Ich sie nicht an die Hand nehme und wir versuchen uns mehr unter die anderen zu mischen. Sie findet es blöd sich geschlagen zu geben, wie sie es immer nennt.“ In seinen Augen blitze es verschmitzt als er ihren Namen sagte. „Nora ist dickköpfiger und sturer als du denkst. Sie wirkt so zierlich und zerbrechlich, aber sie könnte eine Wand in die Knie starren – so stur kann sie sein. Aber schlussendlich konnte ich sie überzeugen – schon unseren Großeltern zuliebe. Ich will nicht, dass sie noch mehr ausgegrenzt werden.“
Um uns herum war es schon dunkel geworden. Wie lange hatten wir im Auto gesessen und uns unterhalten. Um die Ecke bog ein Auto ein und die Scheinwerfer blendeten mich. Es fuhr auf uns zu und parkte auf der Auffahrt des Hauses an dem wir standen.
Lucas ließ meine Hand los und griff nach seinem Rucksack.
„Das ist Nora.“ Er wollte schon aussteigen und hatte seine Hand um den Öffner gelegt, als er sich noch mal umdrehte und mir tief in die Augen sah. Ich war ganz perplex und starrte einfach zurück. Dann lächelte er „Danke Amy, dass du mir zugehört hast. Du bist was Besonderes.“ Er nahm meine Hand und drückte sie kurz. Dann stieg er aus dem Auto und ging auf Nora zu, die nur noch wenige Schritte entfernt war. Sie erkannte mich und winkte mir freundlich zu. Ich winkte zurück und machte mich dann auf den Weg nach Hause.
Nach dem Abendessen lag ich auf meinem Bett und starrte an die Decke. Schon während des Essens ließen mich meine vielen Gedanken nicht mehr los. Ich war froh gewesen, dass Carol soviel zu erzählen hatte, dass ein einfaches Nicken als Kommunikationsbeitrag vollkommen ausreichte.
Auf der einen Seite war da diese überaus komplizierte Geschichte mit Nora und Lucas. Gut, dass man sie nicht als Geschwister vorgestellt hat. Ich mochte mir nicht ausmalen, wie das auf die Menschen hier gewirkt hätte und sah trotzdem einen Haufen Leute mit Mistgabeln und Fackeln in der Hand vor mir. In irgendeiner Form fühlte ich mich ab jetzt verantwortlich, weil ich eingeweiht war. Ich hätte zu große Lust gehabt jedem in der Schule zu erzählen, dass die Gerüchte nicht stimmten und anstatt ihre Zeit mit Tratschen zu verbringen, mit beiden Reden und Fragen sollten, wenn etwas unklar wäre. Aber ich wusste, dass das der falsche Weg wäre. Besser wäre es, sie am nächsten Schultag an den Tisch einzuladen. Grace würde Augen machen. Ich musste unwillkürlich grinsen.
Auf der anderen Seite waren meine Gefühle oder besser meine kleine Schwärmerei, womit ich meine körperlichen Aussetzer zu erklären versucht hatte. Es wunderte mich noch immer, dass ich mich ihm gegenüber plötzlich so normal verhalten konnte. Ich legte meine Hände ineinander. Er hatte sie einfach genommen und festgehalten. Die Heldinnen in meinen Lieblingsbüchern reagierten auf so eine Geste mit viel mehr Gefühl. So eine kleine Berührung war oftmals der Anstoß für eine spannende Liebesgeschichte. Das muss die Antwort dazu sein. Nach dem Gespräch heute konnte ich sicher feststellen, dass ich ihn mochte, aber es war im Moment nicht mehr – nein, das hätte ich gespürt. Ich fühlte mich gut bei ihm und irgendwie glaubte ich ihn verstehen zu können. Er war hier auch fremd, so wie ich. Wer weiß wie die Bewohner mir entgegen getreten wären, wenn Nora und Lucas nicht die Top 5 der Dorfgerüchte anführen würden. Vielleicht wäre ich dann die ausgegrenzte, hätten Carol und Joseph nicht alle auf mich vorbereitet und mir so einen einfach zu gehenden Weg geebnet.
Als er meine Hand genommen hatte, dachte ich, dass ich eine Entscheidung treffen muss. Als kleines Kind mit acht Jahren wollte ich Leam, den Nachbarsjungen, heiraten und war der festen Überzeugung tief und innig verliebt zu sein. Natürlich waren das nur Kindereien gewesen. Bisher hatte ich aber nur vom verliebt sein gehört. Richtig verliebt in einen Jungen war ich aber nie gewesen. So großes Interesse von der anderen Seite konnte ich auch nicht verzeichnen. Jungs in meinem Alter standen dann doch eher auf die Pomm-Pomm-Werf-Fraktion, als auf die Schwimmende-Leseratte.

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Tag der Veröffentlichung: 07.09.2010

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