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Prolog Die Zerschmetterer


Sie kauerte in einer Ecke. Ängstlich sah sie sich um. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Cayetana fürchtete sich, ihr war klar, dass sie kommen würden. Wie ein Stein lag der Umschlag in ihrer Tasche. Darin befand sich das Geld für einen Ausflug. Sie würde nicht mitkommen. Das Gefühl von Scham überkam sie, wieso war es so weit gekommen? Cayetana wusste es nicht und sie würde es auch nie erfahren. Das Geklapper von Schuhen auf dem Boden ließ sie zusammenstrecken. Cayetana ahnte das sie kommen würden. Die Schritte kamen immer näher. Sie zitterte, rückte immer näher an die Wand. Weiter konnte Cayetana nicht zurückweichen. Sie waren nun ganz nah. Cayetana hörte ihr Lachen. Das Kichern von Menschen, die genauso gut Monster hätten sein können. "Da ist sie ja!", bemerkte eine höhnische Stimme. Sie wagte kaum den Blick zu heben. Aus den Augenwinkeln konnte sie langes, blondes Haar ausmachen. Es gehörte zu Anouk einem Mädchen aus ihrer Klasse. "Ja, da ist sie.
Hat sie das Geld?", ertönte eine weitere Stimme diesmal gehörte sie einem Jungen. Anouk blickte sie herablassend an und ihre Lippen umspielte ein grausames Lächeln. Mit ihrer Hand griff sie nach Cayetanas Tasche.
Das Mädchen wollte sie nicht hergeben. Mit ihren Händen umklammerte sie ihre Handtasche, presste sie fest an sich. "Wie süß! Sie will es uns nicht geben. Was sollen wir nur mit ihr machen, Fredward?", hakte Anouk belustigt nach. Er trat näher und musterte Cayetana grinsend. "Das holen, was uns zusteht", antwortete er und griff nun ebenfalls nach der Tasche. "Hört bitte auf. Habt ihr immer noch nicht genug?!", rief Cayetana, deren Stimme zitterte. Eine Träne perle ihre Wange hinab und tropfte auf den Boden. "Gib es uns, oder du wirst es bereuen!", drohte Fredward ihr. Aus Angst schob das Mädchen die Tasche rüber. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie zitterte am ganzen Leib. "Na es geht doch", bemerkte Anouk und riss dem Jungen die Tasche aus der Hand. Sie zog den Reißverschluss auf und nahm den Umschlag mit dem Geld heraus. Anouk zählte die Scheine. "Das ist zu wenig. Wir sagten 200 Euro", stieß sie hervor. Gelähmt vor Angst starrte Cayetana sie an.
"Mehr hab ich nicht", erwiderte sie ängstlich. "Das interessiert mich nicht! Sieh zu, dass du den Rest auftreibst. Sonst kennt jeder unser kleines Geheimnis!"
Mit diesen Worten schleuderte sie ihr die Tasche ins Gesicht. "Bis in drei Tagen", meinte Anouk lachend. Fredward fiel in ihr Kichern ein. "Denk dran",
sagte er. Die beiden entfernten sich. Cayetana blieb am ganzen Körper bebend zurück. Sie fürchtete sich. Irgendwo musste sie das Geld herbekommen. 100 Euro in drei Tagen. Erneut tropften Tränen von ihrer Wange hinunter. Das Mädchen stützte ihren Kopf auf die Beine. Cayetana fürchtete sich so sehr. Es ging nun schon zwei Monate so. Aber sie musste es verhindern. Anouk durfte Jeremy nicht sagen, dass sie ihn liebte. Dann würde alles noch schlimmer werden. Zwar war Cayetana sich nicht sicher, ob es noch schlechter werden konnte, doch sie musste etwas tun. Denn Jeremy sollte ihre Gefühle nicht kennen. Auf keinen Fall.

Kapitel 1 Aller Anfang ist schwer


Neuanfänge waren schwer, dass wusste Cayetana. Heute war ihr erster Schultag an der neuen Schule. Um genau zu sein die vierte in diesem Jahr. Das Gebäude jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Die dunkle Mauer und die dreckigen Fenster machten einen finsteren Eindruck auf sie. Aber selbst wenn, die Schule wie ein Palast ausgesehen hätte, würde Cayetana sie verabscheuen. Sie hatte keine guten Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht.
Schon gar nicht mit den Coolen die, die von allen umschwärmt wurden.
Sie zog an der Tür, doch sie ließ sich einfach nicht öffnen.
Mit ganzer Kraft stemmte sie sich dagegen, aber es blieb erfolgslos. "Drücken, nicht ziehen", hörte sie eine sanfte Stimme hinter sich. Cayetana fuhr herum. Hinter ihr stand ein Junge ungefähr in ihrem Alter. "Danke", stammelte sie hervor. Er zeigte ihr ein warmes Lächeln. "Jeremy", sagte er grinsend.
Völlig durcheinander starrte sie ihn, aus ihren grünen Augen an.
"Das ist mein Name. Und wie lautet deiner?", hakte er nach. Cayetanas Hals war wie zugeschnürt, doch sie wollte sich nicht völlig vor ihm blamieren.
"Cayetana", presste sie hervor. Jeremy lächelte. "Schön. Wir sehen uns sicher wieder", meinte er und ging in das Gebäude. Cayetana folgte ihm nicht, stattdessen stand sie wie erstarrt vor der Eingangstür. Vielleicht würde es hier anders werden. Der Junge wirkte freundlich, so ganz anders als die anderen, die sie kennengelernt hatte. Es konnte vielleicht auch nette Menschen geben. Zu mindestens hoffte sie das. Sie drückte die Tür auf und befand sich in der Eingangshalle. Der Raum machte auf sie einen tristen Eindruck. Der Boden bestand aus fleckigen Fliesen und die Tapete löste sich bereits an einigen Stellen. Laut redende Schüler liefen an Cayetana vorbei.
Sie kramte einen Zettel aus ihrer Tasche. Den Angaben zu Folge befand sich ihr Klassenraum im Zimmer 100. Cayetana warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, die verkündete, dass sie noch zehn Minuten hatte um den Raum zu finden. "Brauchst du Hilfe?", hörte sie eine Stimme. Neben ihr war ein Mädchen aufgetaucht. Sie lächelte Cayetana an, doch es wirkte gekünstelt auf sie. Das Mädchen strich sich ihr langes, blondes Haar zurück und musterte sie von oben bis unten. "Anouk komm mal her", ertönte plötzlich eine aufgeregte Stimme. Das Mädchen drehte sich um. "Violette, ich bin gerade in einer Unterhaltung", erklärte sie. "Mit der da? Die hat doch keinen Stil. Schau Mal wie die rumläuft", bemerkte Violette herablassend. Cayetana blickte zu Boden. Sie nahm sich den Spott anderer immer sehr zu Herzen. Anouk steckte mit ihrer Freundin die Köpfe zusammen. Die beiden lachten und es war nicht schwer zu erraten über wen. Cayetana entfernte sich. Niedergeschlagen lehnte sie sich an die Wand. Diese Mädchen trafen schon eher auf ihre Kenntnisse von Menschen zu. Sie bewerteten einen nur nach dem Aussehen. Cayetana wünschte sich, dass die anderen wie der Junge von eben wären. Aber sie wusste, dass es niemals so sein würde.
Wie Cayetana an der Wand lehnte, erkannte sie, dass sie selbst nicht besser war. Sie kannte Jeremy nicht, doch sie mochte ihn. Er war wirklich hübsch. Und wie oft hatte sie schon die schönen Jungen aus den Schulen, an den sie vorher gewesen war bewundert. Sie war wohl auch nicht besser, als die anderen. Cayetana wollte nicht so sein. Doch sie war es wohl.

Sie stand vor ihrem Klassenraum. Cayetana war aufgeregt und ihre Hand zitterte, als sie die Tür einen Spalt öffnete. Sie schob sich hinein und stand in dem großen Raum. Die weiße Tapete, die mit Bildern und Postern überseht war fiel ihr als erstes auf. Es wirkte eher wie das Zimmer eines Schülers als ein Klassenraum. Glücklicherweise war sie pünktlich, da sie noch kein Klingeln gehört hatte. "Ist das die Neue? Schaut euch die mal an!", hörte Cayetana ihre lachenden Mitschüler. Schüchtern betrachtete sie die anderen. Alle sahen sie an und jagten ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. "Hi", sagte sie mit zitternder Stimme. Ein Mädchen trat nach vorne. Mit ihrer Hand fuhr sie sich durch ihr langes, lockiges Haar und betrachtete Cayetana mit einem belustigten Blick. "Hi", äffte sie das Mädchen nach. Die anderen Schüler begannen zu Lachen und Cayetana blickte betreten zu Boden. Sie würde am liebsten im Boden versinken. Schon wieder hatte sie versagt, sie hätte sich einfach anders vorstellen müssen. Der Boden unter ihr hatte die Farbe einer überreifen Banane und passte perfekt zu Cayetanas momentanen Verfassung. "Lass sie doch, Anouk. Es kann nicht jeder so verrückt sein wie du", ertönte eine warme Stimme. Cayetana zuckte zusammen, sie kannte diese Stimme. Der Junge von eben hatte gesprochen. Sie hob den Kopf wieder und erblickte ihn. Er stand lässig von seinem Platz auf und lächelte. Wie machten sie das immer? Ihre neuen Mitschüler wirkten alle so furchtbar perfekt. Warum war sie nicht so. Wenigstens ein bisschen wie sie. "Lass das Jeremy! Wenn die sich nicht mal anständig vorstellen kann, was soll man denn dann von ihr denken?", bemerkte sie herablassend. Jeremys Gesicht nahm einen ernsteren Ausdruck an und seine grünen Augen glitzerten im Licht der Lampen. "Dann erinnere dich Mal an deinen ersten Tag. Du kamst in die Klasse gestolpert und warst genauso schüchtern. Und jetzt hast du viele Freunde", meinte er. Cayetanas Blick wanderte von Jeremy zu Anouk. Ihr Gesicht hatte ein hässliches rosa angenommen und ihre Lippen hatten sich zu einer wütenden Grimasse verzerrt. "Sei ruhig!
Sie wird es noch bereuen!", zischte sie und stöckelte auf ihren hohen Schuhen zu ihrem Stuhl zurück. Cayetana blieb wie festgenagelt an ihrem Platz stehen. Normalerweise hätte sie sich auf einen freien Platz setzen sollen, doch sie konnte sich einfach keinen Deut weit bewegen.

Die Tür öffnete sich mit einem quietschenden Laut. Cayetana fuhr herum.
Eine Frau mittleren Alters betrat den Raum. Ihre braunen Haare waren von unzähligen grauen Strähnen durchzogen. Ihren Kleidungsstil konnte man nur als außergewöhnlich bezeichnen. Eine rote Bluse mit pinken Punkten und dazu einen lilanen Rock. Vermutlich war sie bemüht jung zu wirken, doch das grauenhafte Outfit erzeugte eher das Gegenteil. "Morgen, meine Lieben", begrüßte sie die Schüler mit einer piepsigen Stimme. "Guten Morgen, Frau Mackenstreicher", begrüßten sie alle im Chor. Sie klatschte in die Hände und schien Cayetana nicht bemerkt zu haben. "Ähm, wir haben eine Neue", warf Jeremy ein. Die Frau blickte auf und warf einen tadelnden Blick in die Runde. Erst jetzt blickte sie zu Cayetana, die verschüchtert zu Boden blickte. "Oh, wo setz ich dich nur hin..", überlegte sie laut. Cayetana wusste was jetzt kommen würde. In jeder Schule hatten sie ihr den Platz verwehrt. "Neben mir ist ein Platz frei. Fredward wollte sich gerade wo anders hinsetzen", rief Jeremy. Cayetana hob ungläubig ihren Kopf. Der Junge gab seinem Sitznachbarn das Zeichen sich woanders hinzusetzen. Er warf ihr einen wütenden Blick zu. Diesmal versuchte sie seinen dunklen Augen stand zu halten, keine Schwäche zu zeigen. Es schlug fehl. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus und sie senkte ihren Blick. "Sehr gut. Super. Setz dich nur hin, Liebes", meinte die Lehrerin. Cayetana setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie wollte um keinen Preis stolpern und sich lächerlich machen. Ihre Beine fühlten sich so schwer an, als ob tonnenschwere Gewichte daran hängen würden. Als sie an ihrem Sitzplatz angekommen war, ließ sie sich dort nieder. Jeremy schenkte ihr ein Lächeln. Erst jetzt betrachtete sie ihn genau. Sein wuscheliges, dunkles Haar und die dunkelgrünen Augen die sie neugierig musterten. Er wirkte anziehend auf sie. Rasch schaute sie weg. Sie kannte ihn nicht einmal. "Bitte nehmt eure Mathebücher heraus", fuhr Frau Mackenstreicher mit dem Unterricht fort. Jeremy holte sein Buch heraus. "Schätze, du hast noch keins", meinte er. Cayetana sah kurz zu ihm. Er schob sein Buch in die Mitte und schlug eine Seite auf. "Danke", stammelte sie und betrachtete die Buchseite. "Gerne", antwortete er und richtete nun ebenfalls seinen Blick auf das Heft.

Sie richtete ihren Blick starr auf die Rechenaufgabe. Die Zahlen schienen vor ihren Augen zu verschwimmen und hin und wieder warf sie Jeremy einen verstohlenen Seitenblick zu. Glücklicherweise richtete er seinen Blick gen Tafel. "Wir widmen uns heute der Kreisberechnung. Kann mir einer erklären, wie die Formel für den Inhalt lautet?", hörte sie die zwitschernde Stimme von Frau Mackenstreicher. Cayetana hob den Blick. Sie blickte in die Sitzreihe neben sich. Fredward saß dort. Auch ihn fand sie hübsch, aber auf eine andere Art. Er wirkte auf Cayetana wie eine Rose. Wunderschön, aber nur solange bis man sich an den Dornen stach. Fredward hob seinen Kopf und schaute in ihre Richtung. Seine dunklen Augen bohrten sich in ihre, hielten ihren Blick gefangen.
Er hatte etwas an sich was ihr einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Plötzlich fühlte Cayetana eine Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie gab sich alle Mühe nicht aufzuschreien und wandte drehte sich herum. Ihr Blick kreuzte den von Jeremy, der sie mit einem warmen Lächeln musterte.
Seine Hand ruhte auf ihrer Schulter, oder besser gesagt stupste er sie an. "Sie hat dich was gefragt. ", meinte er grinsend. Cayetanas Gesicht verfärbte sich und nahm die Farbe einer Tomate an. Betreten blickte sie zu Boden.
"Ich... äh... ähm... weiß es nicht", stammelte sie. In der Klasse wurde das Lachen unzähliger Schüler hörbar. "Die weiß nicht Mal die einfachsten Formeln. Die ist vielleicht erbärmlich", hörte Cayetana eine schneidende Stimme. Obwohl sie erst eben angekommen war, war sie sich sicher, dass sie Anouk gehörte.
"Die Formel für den Flächeninhalt eines Kreises lautet 3,14 mal r²", rief Jeremy in die Klasse. Cayetana war ihn dafür mehr als dankbar. Das Lachen verstummte und sämtliche Blicke wandten sich Jeremy zu.
Mit offenen Mündern starten sie ihn an. Cayetana war sich nicht sicher weshalb.
"Was habt ihr denn? Meine Antwort stimmt doch, oder Frau Mackenstreicher?", hakte er nach. Die Lehrerin blickte ebenfalls verwirrt drein, dann schrieb sie an die Tafel was er gesagt hatte.
"Ja, Lieber stimmt genau", antwortete sie. Jeremy lächelte sie mit seinen grünen Augen an. "Danke", meinte sie mit zitternder Stimme. Erneut bedachte er sie mit einem warmen Grinsen an.
"Gern Geschehen, Cayetana", erwiderte er. Cayetana lächelte nun ebenfalls zaghaft. Sie fand ihn irgendwie sympathisch. Warum auch immer.

Kapitel 2 So ganz anders


Es klingelte und die Schüler packten eilig ihre Taschen zusammen um in die Pause gehen zu können. Nur Cayetana erhob sich absichtlich langsam. Jeremy ging an sein Fach und verstaute sein Mathemathikbuch darin. Als Jeremy sich umdrehte bemerkte er ihren Blick auf sich. "Wartest du auf jemanden?", fragte er und schenkte Cayetana ein strahlendes Lächeln. Verschüchtert senkte sie ihren Blick, sodass ihre langen, blonden Locken in ihr Gesicht fielen. "Ähm, nein. Das heißt doch..", meinte sie mit aufgeregter Stimme und hätte sich sogleich dafür ohrfeigen können. Er trat näher auf sie zu. "Wieso hast du solche Angst?", fragte er. Cayetana dachte nach. Seine Frage war schwierig zu beantworten. Fürchtete sie sich davor zu versagen? War sie einfach nur schüchtern, oder gab es einen anderen Grund für ihr Verhalten? Sie wusste es einfach nicht. Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. "Schon ok. Du musst nicht weinen. Ich wollte dir nicht wehtun", beruhigte er sie. Cayetana liefen Tränen über ihre Wangen und hinterließen eine salzige Spur in ihrem Gesicht. Erinnerungen krochen in ihr hoch. Cayetana sah wieder wie sie vor einer Reihe Schüler stand. Mit hämischem Grinsen betrachteten sie Cayetana. Einer von ihnen warf mit seiner Mappe nach ihr, ein anderer klebte ihr einen Zettel auf den Rücken. Die Schüler brachen in schallendes Gelächter aus. Sie kamen näher und näher. Ihre Stimmen wurden lauter, schwollen zu einem Orkan an. Cayetana wollte weglaufen, aber sie konnte es nicht. Mit den Füßen klebte sie förmlich am Boden fest. Am liebsten würde sie schreien doch kein Ton
entwich ihrer Kehle… "Ist alles in Ordnung, Cayetana?", schreckte Jeremys Stimme sie aus ihren schrecklichen Erinnerungen. Erschrocken stellte sie fest, dass sie an ihn gelehnt stand.
"Ja", log sie. Vorsichtig rückte sie einen Stück von ihm Weg. "Kommst du mit mir raus? Vielleicht hilft die frische Luft ein wenig", meinte er und seine Stimme klang ziemlich besorgt. "Gerne", antwortete Cayetana. Sie bezweifelte zwar, dass die frische Luft die schlimmen Erinnerungen vertreiben würden, doch sie wollte nicht allein sein. Nicht wieder alles von vorne betrachten müssen.

"Gehts dir besser? Du warst plötzlich so blass", bemerkte Jeremy. Sie nickte und beschloss die schlechten Erinnerungen beiseite zu schieben. Cayetana war froh, dass sie jemanden an ihrer Seite hatte, weshalb sie versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. "Ja, danke Jeremy", antwortete sie. Er nahm ihre Hand und zog sie auf den Schulhof. Eine große Wiese, auf der einige Schüler Fangen spielten, trat in Cayetanas Blickfeld. "Komm, da drüben ist eine Bank", sagte Jeremy und zeigte auf eine verwitterte Parkbank, die von Moos überzogen war. Cayetana ließ sich einfach darauf nieder und blickte zum Himmel hinauf. Er war wolkenverhangen und die Farbe war irgendetwas zwischen gelb und grau. Jeremy ließ sich neben Cayetana nieder und sah sie an.
"Mach dir nichts aus den anderen. Die sind manchmal echt furchtbar", meinte er.
Das war nett von ihm. So hatte noch nie jemand mit ihr gesprochen.
"Ja, aber lass uns bitte über was anderes reden", meinte Cayetana mit leiser Stimme.
Es begann zu nieseln. Regentropfen so fein wie Seide ließen sie vom Himmel fallen. "Lass uns dort hinten hingehen. Du wirst sonst noch nass", sagte er und deutete mit seiner Hand auf ein überdachtes Stück des Schulhofes. Cayetana fand den Hof überhaupt nicht schön. Der Boden mit grauen Steinen versehen und das einzige was auch nur den kleinsten Hauch von Schönheit aufwies, war die Wiese die sie zu Anfang ausgemacht hatte. Sie folgte Jeremy zu der Überdachung. "Hey, Jeremy", hörte Cayetana plötzlich eine aufgeregte Stimme. Hinter ihnen tauchte Fredward auf. Auf seinem braunen Haar funkelten ein paar feine Regentropfen und seine dunklen Augen funkelten. "Ach Fredward, ich habe gerade keine Zeit", rief Jeremy ihm entgegen. Fredward trat näher und gegen Cayetanas Annahme warf er ihr diesmal keinen feindseligen Blick zu. "Tag", grüßte er sie mit einem Lächeln, bevor er sich an Jeremy wandte. "Na, wie gehts?", fragte Fredward. "Gut, aber ich rede grade mit Cayetana", meinte er mit freundlicher Stimme. Cayetana machte sich darauf gefasst, dass Fredward spätestens jetzt wütend werden würde. Gegen ihre Vermutung nickte er verständnisvoll. Überhaupt wirkte er plötzlich wie eine ganz andere Person als gerade eben noch in der Klasse.

Cayetana blickte Fredward verwirrt an. Er schenkte ihr ein breites Grinsen.
"Ist sie deine Freundin?", fragte er an Jeremy gewandt. Er schwieg und starrte Fredward mit offenem Mund an. "Ja.. Nein. Ach, ich kenne sie doch erst seit eben", meinte er mit zitternder Stimme. Fredwards Lächeln verstärkte sich und er entblößte eine Reihe makelloser Zähne. "Hört sich nach schwerverliebt an", bemerkte er. Cayetana blickte zu Boden. Wie oft sie dies, am heutigen Tag bereits getan hatte wusste sie nicht mehr. Ihr Gesicht verfärbte sich und nahm ein dunkles purpurrot an. Sie spürte eine sanfte Berührung an ihrer Schulter und zuckte zusammen. Sie wollte nicht aufblicken, damit niemand ihren hochroten Kopf bemerkte. "Alles okay, Caya?", hörte sie Fredward fragen. Langsam hob sie ihren Blick nach oben. Hatte sie das richtig verstanden, hatte er ihren Namen wirklich abgekürzt? "Lass sie doch, Freddy! Du musst nicht gleich jedes Mädchen anmachen", beschwerte sie Jeremy bei seinem Freund. Fredward schien das nicht viel zu kümmern, den sein Lächeln wurde noch breiter. "Ich würde dir nie jemanden wegnehmen", erwiderte er, wobei sein Tonfall keinen Zweifel daran ließ, dass er log. Cayetana rückte während keiner der beiden sie beachtete ein paar Zentimeter zur Seite. Gleich so nah an zwei Jungen zu stehen, bereitete ihr Unbehagen. Jeremy kam auf Cayetana zu und stellte sich neben sie. "Ich passe lieber auf dich auf. Fredward ist manchmal ziemlich seltsam. Er reagiert eben auf die weibliche Gattung wie Metall auf einen Magnet", sagte er. Fredward, der das gehört zu haben schien, kam nun auch einen Schritt näher. "Das stimmt nicht", rief er.
Jeremy lächelte. "Und war das letzte Woche mit Amanda?", hakte er mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Cayetana fühlte sich unwohl, besonders weil die beiden sich stritten und sie das nichts anging. Sie kannte schließlich keinen von beiden. "Das war Amandas Schuld! Ich war nicht im Geringsten interessiert. Als Gentleman musste ich halt nachgeben", antwortete er. Cayetana wollte eigentlich weggehen, doch sie kannte sich noch nicht richtig aus und inzwischen regnete es in Strömen.

Kapitel 3 Die Bibliothek


Inzwischen hatte es zur Regenpause geleutet und Cayetana war dichtgefolgt von Jeremy, in das Gebäude gegangen. Obwohl Cayetana nur eine kurze Strecke durch den Regen gerannt war, sie vollkommen durchnässt. "Frierst du?", fragte Fredward, der ebenfalls hineingegangen war. Er hielt ihr seine braune Kapuzenjacke hin. Dankbar nahm sie ihm das Kleidungstück ab und zog sie sich über. "Danke Fredward", bedankte sie sich. Er warf ihr ein Lächeln zu, was seinem Gesicht einen ganz anderen Ausdruck verlieh. Seine dunklen Augen funkelten in einem warmen braun und sein nasses Haar klebte an seinem Gesicht. "Lass uns nach da hinten gehen", meinte Jeremy und griff nach Cayetanas Hand. Sie wich zur Seite. "Wir können doch bleiben", meinte sie mit leiser Stimme. Fredward lächelte wieder und stellte sich zu den anderen. Cayetana die nichts zu sagen wusste, sah sich etwas genauer in der riesigen Eingangshalle um. An der Decke hingen große, braune Lampen die den Raum in ein warmes Licht tauchten. Die Wand war in einem sterilen Weiß gehalten und der Boden bestand aus dunkelbraunen Fliesen. Die Treppe die in den zweiten Stock reichte war
mit geschnitzten Ranken verziert. Irgendwie gefiel ihr dieser Raum sogar. "Du kannst mich gerne Freddy nennen", riss Fredward sie aus ihren Beobachtungen. Verschüchtert wandte sie sich wieder ihm zu. "Gerne", antwortete sie. Jeremy schwieg. Seine grünen Augen blitzten und er sah beiseite. "Gehts dir gut Jeremy?", fragte Cayetana ihn und blickte ihn besorgt an. Er schaute zu ihr und hielt ihren Blick gefangen. "Bestens", erwiderte er knapp. Cayetana wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Es musste doch an ihr liegen, schließlich hatte er eben noch bessere Laune gehabt. "Wenn du willst zeige ich dir ein bisschen die Schule. Er warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. Natürlich nur wenn Jeremy nichts dagegen hat", fügte er hinzu.
Fragend sahen beide zu Jeremy. Er sagte nichts sondern deutete nur ein knappes Nicken an. Cayetana war froh über Fredwards Angebot, denn sie wusste wirklich nicht was sie Jeremy sagen sollte.

Cayetana folgte Fredward in ein Zimmer. Wie es sich herausstellte handelte es sich um die Bibliothek. Große Bücherregale, die fast überquellen säumten die Wände. Die Tapete wieß einen warmen Grünton auf und auf dem Boden standen gemütliche Korbsessel und Sitzsäcke. "Es ist schön hier", bemerkte sich schüchtern. Fredward grinste breit und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. "Ja, das ist das Herzstück der Schule", bemerkte er. Erstaunt blickte Cayetana ihn an. "Liest hier wirklich jemand gerne?", fragte sie. Er schüttelte den Kopf. "Nein, aber der Raum ist ja auch nicht nur zum Lesen da", bemerkte er mit einem warmen Lächeln. Verwirrt blickte sie ihm in die Augen. Warum sollte man in diesen Raum gehen wenn man nicht lesen wollte? Sie ließ sich auf einen Korbsessel fallen. Fredward schob einen der blauen Sitzsäcke direkt neben Cayetana und lies sich ebenfalls nieder. "Du bist Mal so ganz anders, Caya", sagte er zu ihr. Er streckte seine Hand nach ihr aus, doch Cayetana sprang von ihrem Sessel auf. "Das will ich nicht", flüsterte sie verschreckt. Sie zitterte plötzlich und wich ein paar Schritte zurück. "Tut mir Leid, das wollte ich wirklich nicht, Caya", versuchte Fredward sie zu beruhigen. Cayetana sah zu ihm und blickte ihm genau in seine Augen. Sie glitzerten in diesem unbestimmten braun, doch er schien es wirklich nicht böse gemeint zu haben und sie kam sich reichlich albern vor. "Das muss es nicht. Ich dachte du wolltest... Ich meine..", stammelte Cayetana. Fredward erhob sich und ging auf sie zu. "Das war nicht in meiner Absicht. Ich wollte dir nichts tun. Glaub mir", sagte er und legte einen Arm um ihre Schulter. Diesmal lies Cayetana ihn gewähren, zumal sie ihn eigentlich gerne mochte. Auch wenn Fredward in der ersten Stunde ziemlich unfair war, schien er jetzt komplett anders zu sein. Er wirkte sehr freundlich und total einfühlsam auf sie und er hatte etwas Anziehendes an sich. "Ich weiß", flüsterte Cayetana ihm zu. Fredward sah sie an doch er schwieg. "Sagst du mir jetzt was andere hier machen, wenn sie nicht lesen?", fragte sie ihn. Fredward lächelte und sah in Cayetanas grünen Augen. "Ich glaube du kannst es dir denken, Caya", antwortete er und lies sich wieder auf einen Sitzsack nieder. Sie schaute ihn verwundert an. Cayetana hatte keine Ahnung.
Aber es war im Grunde genommen auch nicht wichtig. Dieses Mal wollte sie sich Mühe geben zu Lächeln. Und es gelang ihr, denn sie lächelte Fredward an.

Fredward lächelte sie an und irgendwie brach die ganze angestaute Fröhlichkeit aus ihr herraus und sie lächelte. Eigentlich war Cayetana aufgeschlossen und machte gerne ihre Späße, nur eben in der Schule nicht. "Geht es dir jetzt besser?", erkundigte sich Fredward. Sie nickte und das Grinsen in ihrem Gesicht ließ nicht nach, sondern verstärkte sich sogar. "So habe ich dich gar nicht eingeschätzt", bemerkte er und setze ein gespielt ernste Miene auf, was Cayetana nur noch mehr auflachen ließ. "Wie meinst du das?", fragte sie und hielt sich den Bauch, der ihr bereits wehtat. "Na, dass du so fröhlich sein kannst. In der Klasse hast du so ängstlich und verschüchtert, wie ein Kaninchen gewirkt. Cayetanas Lächeln war wie weggefegt. "Ja, da dachte ich auch noch, dass ihr mich nicht ausstehen könnt. Wie die anderen, es auch immer taten."
Er warf ihr einen warmen, aufmunternden Blick zu. "Das stimmt aber nicht, Caya. Du zeigst allen wie sie dich finden sollen. Du scheinst kaum Selbstvertrauen zu haben und das merken sie. Besonders Anouk, die macht aber jeden fertig, der neu kommt", erklärte er. Sie atmete tief ein und aus. Konnte sie nicht einfach Mal die Gedanken an diese Idioten, die sie geärgert haben abschütteln? Sie wollte wieder so lachen wie eben. Einfach das Leben akzeptieren, wie es war. Ein grünes Kissen flog auf sie zu. Diesmal erschrak sie nicht sondern fing das Kissen, kurz bevor es sie berühren konnte. Sie erhob sich von dem braunen Korbsessel und warf zurück. Cayetana hatte nicht bedacht wie ungeschickt sie manchmal war und viel genau auf Fredward. Der Sitzsack fiel um und mit ihm die beiden. Cayetana klammerte sich an ihm fest und er hielt sie. Verlegen blickte sie in seine dunklen Augen, die wie flüssige Schokolade funkelten. Er brach in lautes Gelächter aus und Cayetana tat es ihm gleich.

Fredwards Lächeln steckte Cayetana so an, dass sie kichernd zu Boden sank.
Er erhob sich und kniete sich neben sie auf den Boden. "Du kannst ja richtig hysterisch werden!", bemerkte er mit gespielter Empörung. Das Mädchen hielt sich ihren vor Lachen schmerzenden Bauch. "Das hättest du wohl nicht gedacht", gab sie zurück. Fredwards dunkle Augen funkelten in diesem unergründlichen Braunton, wenn er lächelte erstrahlten sie in einem wunderschönen Schokoladenbraun.
"Nein, das hätte ich nicht. Weißt du was ich mir gerade vorstelle?"
Cayetana zuckte mit den Achseln. "Noch nicht. Aber du wirst es mir sicher sagen", antwortete sie. Er schob sich eine Haarsträhne hinter sein Ohr.
"Stell dir mal vor Anouk würde dich sehen. Die würde ausrasten." Das Strahlen in ihren Augen ebbte ab. "Warum sollte sie. Alles was Anouk tun würde, wäre mich fertig zu machen", entgegnete sie. Fredwards Gesicht verzog sich als hätte er einen Schlag abbekommen. "Tschuldigung, ich hätte nicht über sie sprechen sollen. Wenn es dich noch interessiert, ich kann dir sagen, was wir in der Bibliothek machen. Besser gesagt ich könnte es dir zeigen", meinte er äußerst bemüht das Thema zu wechseln. Sie rang sich ein Lächeln ab.
"Okay." Der Junge rückte ein wenig näher an sie heran, doch Cayetana blieb sitzen. Sie verspüre nicht das Gefühl flüchten zu müssen, wie sonst, wenn sich ihr jemand näherte. "War das ein Ja?", erkundigte er sich bei ihr. Sie nickte nur, schloss ihre Augen. Cayetana sah nicht, wie er sich an sie lehnte. Sie spürte ihn nur, bemerkte den heißen Atem an ihrem Hals. Auch jetzt wo er ihr näher als jemand zuvor war, blieb sie ruhig sitzen. Plötzlich spürte das Mädchen warme Lippen, die sich auf ihre pressten. Es waren nicht diese perfekten weichen Lippen, die alle Mädchen zu lieben schienen. Sie waren rau und rissig und dennoch zogen sie Cayetana wie einen Magneten an. Sein Kuss war wie der Sauerstoff den sie zum Atmen brauchte. Sie zuckte nicht zurück, lehnte sich sogar noch näher an Fredwards Körper. Eigentlich sollten sämtliche Alarmglocken schrillen. Sie kannten diesen Jungen gar nicht und dennoch wollte sie nicht weg von ihm. Der Kuss wurde drängender, sein Atem heftiger doch Cayetana löste sich nicht. Es war nicht sie, die sich aus seinen Armen befreite, sondern er, der den Kuss beendete. "Es tut mir leid. Das wollte ich nicht", stammelte er hervor. Das Mädchen öffnete die Augen wieder. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Fredwards Arme waren um ihre Taille geschlungen. "Ist schon in Ordnung", bemerkte sie. Es war nicht das erste Mal, dass Cayetana diese Worte aussprach. Vor ihren Augen tauchten Bilder auf. Bilder und Gefühle, die das Mädchen verdrängt hatte und dennoch schwer ihr lasteten.
Eine Träne rann ihre Wange hinab. Ein feuchtes Rinnsal benetzte ihr Gesicht.
Es war nicht sie, die es bemerkte sondern Fredward. Er strich ihr sanft über die Wange und hielt sie fest in seinen Armen während sie weinte.

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Tag der Veröffentlichung: 10.02.2013

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