Prolog
Endlich wurde es abermals Frühling. Die grauen Tage waren gezählt, es wurde endlich wieder warm. Das spürte auch Nora. Das Mädchen freute sich, die Sonne endlich wieder zu sehen und wollte einen Spaziergang machen. So nahm sie eines Mittags im April die Leine vom Haken und rief ihren Labradorrüden Boot. Schnell und freudig kam der Hund auf sie zu und ließ sich brav anleinen. Munter lief sie die Auffahrt entlang und öffnete das Tor am Ende des gepflasterten Weges. Fröhlich pfeifend schlenderte sie mit Boot durch die Siedlung, hinunter zum Stadtrand, indessen Schutz ein kleiner Bach floss. Während sie an einem großen Gartengrundstück vorbeiliefen, begann der Dalmatiner hinter dem Zaun heftig zu bellen und presste seinen Kopf gegen den Maschendrahtzaun. Schnell zog Nora Boot weiter, den Feldweg entlang zur großen Wiesen an dessen Rand der besagte Bach lag.
Hastig zog sie ihre Sandalen aus und stieg, den Saum ihres hellgelben Kleides in der Hand, hinunter ins Wasser. Boot war inzwischen von der Leine und suchte nach einem Stock, während Nora dem seichten Flussbett des Baches folgte. Fröhlich hüpfte sie von Stein zu Stein durch einen Vorhang aus Efeu, welcher von einem großen Baum herunter wuchs. Wie aus dem nichts trat Nora auf einen weiteren Stein, welcher aber mit klitschigen Algen versehen war, verlor den Halt, stürzte und fiel mit dem Kopf unglücklich auf einen weiteren großen Stein. Ihre schwarzen Haare wurden vom Wasser wellenförmig getragen, während sich rotes Blut, zu dem klaren Wasser mischte. Boot kam von hinten zu Nora heran, stieß sie an, doch er konnte keine Reaktion mehr erwarten, sie war tot. Nach einem kurzen unsicheren Winseln rannte der verstörte Boot hinauf in die Siedlung.
Als man Nora zwei Stunden später fand, waren alle entsetzt über den Tod der guten Seele der kleinen Siedlung, andererseits konnten sie nicht glauben, das dieses schöne Mädchen, welches vor ihren im Wasser lag, nicht mehr lebte. Zu schön schien ihre blasse Haut, umrandet von ihren schwarzen langen Haaren, wirkte ihr Gesicht und die roten Lippen wie das einer Puppe. Schnell liefen sie wieder hinauf in die Siedlung um eine Liege zu holen, da sich keiner traute das Mädchen selbst zu tragen, schien sie doch so zerbrechlich.
Kapitel 1
Geblendet von weißem Licht kniff Nora ihre Augen zusammen, hielt die Hände schützend vors Gesicht. Nach einer Weile verzog sich das grelle Licht und eine strahlend weiße Treppe, getaucht in einen leichten Nebel, tat sich vor ihr auf. Neugierig trat sie mit ihren nackten Füßen die Stufen empor. Oben auf dem Plateau angekommen sah sie einen weißen Stuhl, auf dem ein Mann mit rötlichen, lockigen und kurzen Haaren mitsamt kurzem Bart in einem römischen Gewand saß. Neben ihm zwei junge Frauen, Engel mit hübschen, elegant geschwundenen Flügeln und hellbraunem lockigen Haar, welches ihnen über die Schulter fiel. „Willkommen im Himmel, Nora. Wir haben dich schon erwartet.“ Begann er Mann auf dem Thron zu reden. „Gott?!“, fragte Nora vorsichtig nach. „Nein, ich bin nur Petrus. Zu Gott geht es hier entlang!“, sprach Petrus, während er eine Wolke vorbei schob und somit die Sicht auf ein Schild freigab, auf dem in goldenen Buchstaben: „Zum lieben Gott“ stand und nach rechts deutete. „Achso, entschuldigen Sie. Eine Frage habe ich allerdings noch…bin ich etwa gestorben?“, brachte sie kleinlaut hervor. „Ja, du bist gestorben und wirst nun zum Engel werden. Hab keine Angst, das wird dir sicher Spaß machen. Da du es schon zu Lebzeiten so geliebt hast dich um andere Menschen zu kümmern, wirst du einen Menschen auswählen und ihn auf den richtigen Weg weisen. Sobald du diese Person gefunden hast rufst du mich ganz einfach beim Namen. Alles Weitere erkläre ich dir dann, wenn es soweit ist. Nun willst du doch sicher deine Flügel bekommen oder?“, beendete Petrus seine Erklärungen und sah das Mädchen fragend an. Nora nickte nur stumm. Nach einer Weile hatte sie sich wieder gesammelt und erkundigte sich nach den Flügeln. „Gleich links“, sprach einer der Engel und lächelte sie freundlich an.
Vorsichtig tapste Nora einen kleinen Pfad entlang, bis sie sich vor einer Art Laden wieder fand. Hinter der Theke stand ein Engel, eine Frau, hinter ihr viele Regale mit großen Schubladen. „Wie kann ich dir helfen junge Dame?“, fragte sie der Engel mit dem langen, roten, dicht gelockten Haar. „Ich soll mir hier meine Flügel aussuchen. Können sie mich bitte vielleicht beraten?“, bat Nora sie. „Aber sicher Herzchen! Am besten wir messen erst einmal deine Maße aus, bevor ich dir die verschiedensten Modelle und Farben zeige. Einen Moment, ich such grade noch das Maßband.“, mit diesen Worten verschwand sie in einer Tür in der Regalwand.
Nach einer Weile kam sie wieder herein und hatte das gesuchte Maßband in ihren Händen, mit welchem sie auch sofort auf Nora zulief um ihre Maße zu nehmen. „Entschuldige, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe Liebes. Ich bin Martha und wie ist dein Name?“, fragte Martha, während sie die Maße auf einen Zettel schrieb und Nora mit großen braunen Augen aufmerksam ansah. „Oh, Verzeihung. Ich heiße Nora. Sind meine Maße denn in Ordnung?“, fragte sie schüchtern nach. „Aber sicher. Du bist doch total schlank und du hast weder ein Hohlkreuz noch Buckel. Nun muss ich aber noch einmal hinter, um ein paar Modelle zu holen damit ich dir die verschiedenen Farben und Formen zeigen kann. Bis gleich.“, mit diesen Worten verschwand Martha, mit dem Zettel in der Hand, durch die Tür.
Angespannt wartete Nora diesmal länger auf Martha und dachte in der Zwischenzeit angespannt nach. Sie musste an ihre Eltern, an ihre Freunde, an Boot und an all die anderen denken und wurde mit einem Mal total traurig. Bevor sie jedoch anfangen konnte zu weinen kam Marthe in den Raum, in den Armen Stapel von Kartons. Schnell schluckte Nora die Tränen herunter und stellte sich zu Martha hinter die Theke, beäugte neugierig die verschiedenen Flügel, die Martha nun einzeln auspackte und dann an Nora reichte. Es waren die unterschiedlichsten Farben von Federn, graue oder schwarze Taubenfedern, braungraue Adlerfedern oder auch weiße lange Schwanenfedern. Die Flügel gab es in verschiedenen Modellen, mal mehr geschwungen, mal länger oder kürzer, größer oder kleiner. Schließlich hatte Nora sich für Engelsflügel aus Mövenfedern entschieden, welche schön geschwungen waren und ihr bis zu den Kniekehlen gingen. Zufrieden drehte sich Nora vor einem großen Spiegel und bekam nun noch ein weißes einfaches Kleid, welches sie in einer Kabine mit Duschvorhang anzog, ehe Martha die Flügel auf ihrem Rücken anbrachte und versiegelte.
„Jetzt wird es ernst Nora. Ich werde dich jetzt hinunter auf die Erde schicken. Wohin genau willst du denn?“, fragte sie Martha, welche sie eben das erste Mal beim Namen genannt hatte. Nora überlegte wo es womöglich viele Menschen, am besten Jugendliche gab, die ihre Hilfe gebrauchen könnten Da fiel ihr ein, das sie letztens erst den Film „Cristiane F. Wir Kinder vom Bahnhofzoo“ gesehen hatte und entschied sich somit für Berlin, genauer: Den Alexanderplatz. Schnell teilte sie Martha ihren Wunsch mit, umarmte und bedankte sich danach bei ihr. Nun nahm Martha sie an die Hand, der helle Nebel zog nun um Nora im Kreis umher, sie sah nichts aus weiß.
2. Kapitel
Langsam verzog sich der Nebel vor, Nora erkannte ihr Umfeld. Sie befand sich in einer U-Bahn, welche voller Menschen war. „Sie können dich nicht sehen, keine Angst“, hallte die Stimme von Petrus in Noras Ohren. Ein wenig erleichtert blickte sich Nora um. Langsam hangelte sie sich an einem der Abteiltrennungen entlang zu einem freien Platz. Dabei bemerkte sie, dass sie das normal kühle Eisengestell gar nicht spürte, als wäre es nicht vorhanden. Traurig sackte Nora auf dem Platz neben einer alten Frau. Gegenüber von ihr saß eine junge schwangere Frau mit einem Lächeln im Gesicht, daneben ein junger Mann, welcher ihre Hand hielt und über ihren runden Bauch strich. Ertappt blickte Nora zur Seite, als die junge Frau zu ihr herüber sah und lächelte. Doch schnell bemerkte Nora, das das Lächeln nicht ihr, sondern der älteren Frau neben ihr galt, da diese dem jungen Pärchen freudig zulächelte. – Sie sehen mich tatsächlich nicht! – dachte Nora und kräuselte die Nase. Erst jetzt wurde ihr bewusst, das sie auch keine Gerüche mehr wahrnahm. – Muss ich eigentlich etwas Essen und Trinken, Herr Petrus- fragte sie ihren Betreuer wohlüberlegt. „Nein, keine Sorge! Wie du schon mitbekommen hast kannst du weder etwas spüren, schmecken oder riechen. Deine Gefühle, deinen Verstand, dein Augenlicht und deine Stimme hast du noch.“ –Danke für die Informationen- antwortete Nora ihn und zog ihre Knie an ihren Oberkörper hinauf auf den Sitz. – Wie wird das Leben denn nur ohne diese Dinge sein? Und ist es überhaupt das Leben? Ich werde es wohl auf mich zukommen lassen müssen-
„Alexanderplatz“ hallte die strenge und ausnahmsweise mal deutliche Stimme des Schaffners aus den Lautsprechern.
Schnell stand Nora auf, drängelte sich an den Leuten vorbei hinaus in die U-Bahn Station. -Sie spühren mich ja eh nicht- Unsicher blickt Nora umher, sucht den Rolltreppenaufgang, welchen sie schließlich rechts von ihr in der Ferne erkennt. Ruhigen Schrittes bewegt sie sich nun auf ihn zu. Viele Leute kommen ihr mit vollen Einkaufstaschen entgegen, telefonieren oder kümmern sich um das nörgelnde Kleinkind an ihrer Hand. Doch die Menschen laufen nicht durch Nora hindurch, sie machen wie von Geisterhand einen Bogen um sie, streifen Nora nur immer knapp.- Fast so, als wüssten die Leute, das ihnen ein Engel gegenüber steht- wunderte sie sich, ehe sie die Rolltreppe hinauf fuhr.
Oben angekommen entdeckte Nora rechts von ihr die große Weltuhr unter der schon einige Bettler oder Straßenmusikanten saßen und ihre Stücke spielten. 14 Uhr 15 hatten sie im Moment in Berlin auf dem Alexanderplatz. Mit ein wenig Schwung drehte sich Nora einmal um ihre Achse und machte ein Stück neben ihr einen Brunnen und Park aus, andem viele Jugendliche saßen, rauchten, laut lachten und johlten. Einer unter ihnen fiel ihr sofort auf. Er war groß, schlank und etwas muskulös an den Armen. Er trug ein schwarzes Armloses T-Shirt, welches toll zu seinen dunkelblonden Haaren passte, welche links etwas länger über die Stirn hingen und dort hellbraun waren. Neben ihm saß ein zotteliger grauer Hund, der ihn hechelnd ansah und ab und an von ihm gekrault wurde, während er an seiner Bierflasche trank. Neugierig trat Nora näher, denn sie wollte undebingt den Namen des Jungen erfahren, der sie so faszinierte. Die Art wie er sich bewegte, war trotz der Tatsache, das er wahrscheinlich auf der Straße lebte, sehr geschmeidig und elegant, wie die eines Panters, der sich an seine Beute pirscht. "Hey Robert, altes Haus. Na auch wieder am Alex?", begrüßte jemanden den Blondschopf und schlug ihm auf die Schulter. "Ja, klar. Habs zuhause nicht mehr ausgehalten. Von der Lehrstelle die ich hatte, bin ich auch geflogen. Mensch gingen mir die Futzies da auf den Keks. Immer nur rumnörgeln und darauf hab ich keinen Bock.", rechtfertigte er sich sofort und schaute ganz neben Sich in Noras Richtung. Noch bevor der Gesprächspartner etwas antworten konnte meinte Robert: "Bin gleich wieder da, dreh mir mal eben nen Jonni.", und eeilte von der Gruppe fort, an Nora vorbei, in Richtung Stadtzentrum. Ohne lange zu überlegen folgt ihm Nora und muss sich ziemlich ins Zeug halten um dem schnellen Tempo von Robert gerecht zu werden. Dieser sieht sich immer ab und an um, als bemerke er, das sie ihm folgt. Schließlich betritt er den Hauptbahnhof, anscheinend das Ziel seines Fußmarsches.
Hastig blickt sich Robert über die Schulter, läuft weiter Richtung Toiletten. Automatisch drückt er die Türklinke herunter und verschwindet im Inneren. Nora folgt ihm, huscht hinter ihm in die Herrentoilette des Bahnhofes. Neugierig blickt sie in seine Kabine und erstarrt. Mit dem Rücken an die Wand der Kabine sitz er dort, in den Händen hält er einen Joint, zieht genüsslich daran und schaut ganz benebelt in Noras Richtung. Tränen steigen in ihre Augen, laufen ihr Gesicht entlang. Kurz überlegt sie ehe sie die Toiletten verlässt und läuft hinaus aus dem Bahnhof. Sie hat sich entschieden. In ihren Gedanken beginnt sie zu reden - Herr Petrus? Ich habe ihn gefunden.-
3. Kapitel
"Sehr schön Nora. Gut, das du dich für Robert entschieden hast. Er hat es echt nicht leicht gehabt. Er ist mit 12 von seinen Eltern rausgeschmissen worden, als sie ihn beim Kiffen erwischt haben. Seitdem lebt er als Punk auf der Straße. Bis vor ein paar Tagen war er ein halbes Jahr bei seinen Eltern, hat dort gewohnt und hatte sogar eine Lehrstelle. Doch dort kam er nicht klar und wurde rausgeschmissen. Ohne es den Eltern zu sagen hat er wieder sein Zeug gepackt, Benjo, den Hund, mitgenommen und ist nach Berlin gefahren. Bald wird er 17 und ist schon seit ein paar Monaten Heroin süchtig. Pass gut auf ihn auf Nora! Versuche mit ihm zu reden, denn er ist der einzige Mensch, der dich sehen und hören kann. Mach dir dies zu nutzen!" -Danke für die Auskunft Herr Petrus. Bis demnächst-, beendete Nora ihr Telefonat mit dem Heiligen und überlegte. - Soll ich zu ihm gehen oder warten bis er wieder herauskommt?- da sich Nora mittlerweile große Sorgen um Robert machte, da dieser immer noch nicht kam, beschloss sie ihm entgegen zu gehen. Schließlich fand sie ihn auf dem Weg zum Haupteingang sowie Ausgang des Bahnhofs. Zielsicher ging sie auf ihn zu und grüßte ihn schüchtern. " Hallo Robert. Ich bin Nora.", und erötete. Robert hingegen sah sie nur irritiert an, wich ein wenig zurück und lief dann weiter, während er sich noch zweimal umdrehte. Um ihn nicht aus den Augen zu verlieren rannte ihm Nora nach, weshalb Robert ebenfalls zu rennen begann. So entstand ein ungewolltes Wettrennen, bis Robert schließlich an einem alten, bespraytem und verlassenem Haus im alten Industriegebiet ankam und sich auf eine der Treppenstufen setzte.
"Was willst du von mir? Ich will noch nicht sterben.", rief er ihr ganz außer Puste zu. " Keine Angst Robert. Ich bin kein Todesengel. Ich soll dich nur auf den richtigen Weg bringen, verstehst du!Du sollst nicht sterben!", verschicherte sie ihm und setzte sich neben ihn. " Wenn dich meine Flügel stören..", entschuldigte Nora sich, als sie bemerkte, das diese seinen Rücken berührten. " Kein Problem, die spühr ich gar nicht.", beruhigte er sie und sah ihr in die Augen. Seine waren ein Misch aus blau und grün und glitzerten wunderschön in der Sonne. Scheu blickte Nora zu Boden, doch Robert sah sie immer noch an und nahm ihre Hand. " Entschuldige das ich vor dir weggelaufen bin Nora, aber ich dachte du willst mich hohlen.", danach fasste er sich an den Kopf, anscheinend hatte er eine Rausch, der sich nun bemerkbar machen würde.
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2010
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