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Mondfinsternis

 

Prolog

 

 

Schnellen Schrittes hetzte die junge Frau über das ungerade Pflaster der dunklen nassen Gasse, stolperte, fing sich aber wieder sodass sie nicht fiel. Immer wieder blickte sie sich um, vermutete Verfolger. Völlig außer Atem kam sie an einem der beleuchteten Wirtshäuser an, die undurchsichtigen Fenster waren gelblich erleuchtet und von innen waren Stimmengemenge zuhören, das Scheppern von Gläsern erklang. Ein letztes Mal sah sie dem Bündel in ihren Armen ins Gesicht, ehe sie es auf die Schwelle legte und die Glocke neben dem Türbogen läutete. Blitzschnell hechtete sie in der Dunkelheit davon. Das Kind, in den Lumpen eingehüllt, begann zu weinen und zu strampeln. Der Lärm in der Schänke verstummte und eine alte Frau kam hinaus, starrte auf das Findelkind. Sie überlegte keine Sekunde und nahm es auf den Arm. Mit leisem Flüstern lieber Worte versuchte sie, es zu beruhigen, und nahm es mit hinein.

 

 

 

 

 

 

 

 

Drei Raben

 

Nachdem mein Wecker nun schon ein zweites Mal geklingelt hatte, entschloss ich mich, nun endlich aufzustehen. Schnell hob ich die Bettdecke an, um meine Beine auf dem Boden aufzusetzen. Mit einem Schwung stand ich, noch mit wackeligen Beinen, auf und watschelte zur Couch, auf der ich schon meine Klamotten für den heutigen Tag gelegt hatte. Ein schwarzes Top, darauf einen schwarzen Bolero und eine schwarze Jeans. Mit einem gezielten Griff hatte ich alle Kleidungsstücke in der Hand und tapste barfuss hinunter in die Wohnung meiner Eltern. Im Bad zog ich mich um und legte mein Lederband mit der Rabenfeder um den Hals, gefolgt von meinem braunen Lederarmband. „Schätzchen!“, rief die hohe Stimme meiner Mutter. In Eile strich ich mir den schwarzen Kajal um die Augen, ehe ich mit einem „Ja, ich komme!“, antwortete und mich zu ihr ins Esszimmer begab.

 

Als ich das helle Zimmer betrat, in dessen Mitte ein großer Tisch stand, saß Sie kerzengrade am Tischende und trank ihren Tee. Die hellbraunen Haare trug sie wie immer zu einer einfachen Hochsteckfrisur, welche sie noch viel strenger erscheinen ließ, wie ich seit eh und je empfand. Das dunkelblaue Kostüm bestätigte diese Vermutung noch mehr und auch der Charakter meiner Mutter entsprach der typischen Vorstellung von einer adeligen Geschäftsfrau.

 

Bevor ich neben ihr Platz nahm, musterte sie mich, zog eine Augenbraue hoch und meinte abwertend: „Ich hoffe ja immer noch, dass das mit diesem Gruftidasein nur eine jugendliche Phase der Selbstfindung ist und dass du bald wieder die alte wirst. Bis dahin, guten Appetit, Liebes.“  Mittlerweile war mir das zu dumm geworden, jedes Mal meine Mutter zu verbessern, indem ich das Wort „Grufti“ als nicht passend abstempelte, sondern das Wort „Goth“ nannte und sie darauf hinwies, dass das nicht nur irgendeine Phase sei, sondern eine Lebenseinstellung und dass ich mich ohnehin schon längst selbst gefunden hätte. Schon seit mehreren Monaten wusste ich, was ich selbst darstellte: ein ruhiges, verträumtes und kreatives 16-jähriges Mädchen, die genau wusste, wen oder was sie mochte und was nicht. Dazu zählten z.B. die morgendlichen Predigten meiner Mutter. Was ich wiederrum mochte, war die große alte Bibliothek meines Vaters und das Fotografieren war ebenfalls eine meiner Leidenschaften. Daher hatte ich zu Weihnachten von meinem Vater eine Spiegelreflexkamera bekommen, mit der ich fast täglich umherzog und Fotos schoss.

 

Nun aber musste ich noch einmal ins Bad, um mir die Zähne zu putzen und die Haare zu machen.

Kräftig fuhr ich mit der breiten Bürste durch meine mittellangen braunen Haare, welche ich nun zu einem Zopf band. Mit einem kräftigen Schlag von hinten gegen den Zopf war dieser nun leicht verschoben und hing schräg seitlich über meine Schulter. Noch einmal schaute ich, ob der Kajal nicht verschmiert war, und blickte in meine grünen Augen, die mit einem leichten Gelbstich zurückfunkelten. Geschickt nahm ich meinen schwarzen Mantel von der Geraderobe und meine Umhängetasche, auf der die Logos verschiedener Bands aufgenäht waren. „Ich gehe!“, warf ich noch in den Raum, ehe ich die Villa meiner Eltern verließ und auf dem mit hellem Kies aufgeschütteten Weg über das Gelände zum Tor lief.

 

 

Nach ein paar Ampelübergängen schlug ich endlich den Weg in die Straße ein, in welcher das Gymnasium lag. Mit einem raschen Blick auf meine Uhr versicherte ich mir, dass ich noch Zeit hatte. Trotzdem lief ich schon die Stufen zu den Klassenräumen empor und prüfte, ob meine Klasse schon offen war. Ich hatte Glück und konnte als Erste die Klasse betreten. Mit gezielten Schritten lief ich auf meinen Platz am Fenster und wartete darauf, dass es klingelte und die Schüler hereinkommen würden…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Drei Raben fliegen im Kreis, der vierte schließt den Kreis.“

 

Erschrocken fuhr ich zusammen. Was ging da in meinem Kopf vor sich? Eigentlich sollten da gerade die Binomischen Formeln rauf und runter gebetet werden und nicht so ein Gerede über Raben und irgendeinem Kreis. Ein Schauern lief mir über den Rücken, der nicht wohltuend war. Mit einem Mal war mir furchtbar schwindelig und so klammerte ich mich an den Kanten des Tisches fest um nicht umzukippen. „Kann ich bitte kurz an die frische Luft, Frau Dürr?“, bat ich meine Mathelehrerin mit schwacher Stimme. „Natürlich, du bist ja noch blasser als sonst. Sophie, würdest du bitte mit Clio rausgehen?“, bat sie meine Freundin, welche sich besorgt bei mir einhakte.

Als wir die Klasse verlassen hatten und auf den Schulhof gingen, begann sie zu fragen: „Ist alles okay mit dir? Frau Dürr hat Recht, du siehst wirklich noch blasser aus als sonst. Hast du nicht gut geschlafen? Ist dir schlecht?“ Während ich sie anblickte, erzählte ich ihr von der Stimme in meinem Kopf, in der Hoffnung, sie würde mich nicht für verrückt erklären. Aber das tat sie nicht, das erkannte ich an ihrer Miene, die nun noch ernster wurde.

 

„Und du bist dir sicher, dass diese Zeilen nicht aus irgendeinem Lied sind und jetzt aus deinem Unterbewusstsein kommen?“, erkundigte sie sich.“Nein, da bin ich mir sicher. Auch die Stimme kenne ich nicht. Aber es klingt wie die raue Stimme eines jungen Mannes“, versuchte ich es zu beschreiben und grübelte. Woher kam diese Stimme? Bereits vor einer Woche hatte sie bereits im Musikunterricht wahrgenommen, doch da zur gleichen Zeit laute Musik gespielt wurde, tat ich die Stimme als Teils des Stückes ab und glaubte meine Ohren hätten mir einen Streich gespielt.

Doch nun war es wieder da.

 

Nach ein paar Minuten ging es mir allmählich besser, wir liefen wieder die Stufen zu dem Klassenraum empor, als ein älterer Junge, wohl ein Schüler der oberen Klassen, mit langen dunkelbraunen Haaren und kantigem Gesicht an uns vorbeieilte und die Treppe hinunter hechtete. Schulterzuckend sahen Sophie und ich uns an, gingen weiter den Gang entlang, doch kurz bevor wir die Tür öffneten, um einzutreten, wisperte Sophie mir zu: „Am besten wir treffen uns heute Mittag, um diese Sache zu klären. Das ist nun schon das zweite Mal diesen Monat, dass etwas mit dir nicht stimmt. Ist es in Ordnung, wenn ich gegen drei bei euch vorbeikomme?“, fragte Sophie und sah mich erstaunt an. Ich nickte nur zustimmend und öffnete die Tür zum Klassenraum.

 

 

 

 

 

 

 

                                               †

 

 

In all den Jahrhunderten, in denen ich nun schon gelebt hatte, war mir nicht einmal so etwas Gruseliges passiert, obwohl mir es am Anfang komisch vorkam, als mein neuer Aufenthaltsort eine Villa in der Landeshauptstadt Berlin sein sollte. Bisher hatte ich zwar schon in anderen deutschen und auch ausländischen Großstädten gelebt, doch Berlin war mir bisher immer verwehrt geblieben. Hier würde ich die nächsten drei Jahre verbringen, in denen ich nun endlich wieder einmal körperlich alterte. Unter dem Namen Cliolore von Thesen lebte ich nun im Jahre 2010. 324 Jahre alt war ich nun und noch immer im Körper einer 15-jährigen. Doch dies sollte sich bald ändern, denn mit meinem 325. Geburtstag alterte mein Äußeres nun endlich wieder einmal und ich würde bald wie jede gewöhnliche 16-jährige aussehen.

Nun ja, fast. Ich glaube, kaum, dass Mädchen meines Alters über solch übermenschliche Sinne verfügen, wie ich es tue. Das leiseste Geräusch nehme ich auch aus zehn Metern Entfernung war, im Dunkeln sehe ich wie am Tag. Meine Nase riecht die schwächsten Fahnen von Angstschweiß und Parfüm. Auch besitze ich die Gabe des Gedankenlesens, welches mir in früheren Zeiten schon oft das Leben gerettet hat. Vor allem zur Zeit der Hexenverbrennung, zu deren Zeit ich in Finnland verweilte und mich mit meiner Ahnenforschung beschäftigte, um in Deutschland nicht als Hexe verbrannt zu werden.

Ich stamme aus einer Linie der deutschen Grafschaft von Thesen, welche im 14. Jahrhundert ihren Ursprung hat. Fast alle Mitglieder dieser Linie waren untot oder anders mystisch gestraft. Mein Vater muss wohl ein Werwolf gewesen sein, meine Mutter als Heilerin bekannt, war in Wirklichkeit ein Vampir. Sie gebar mich, eine Vampirin mit den Sinnen eines Werwolfs, im Sommer 1685. Kurz nach meiner Geburt wurde ich weggegeben, kam zum Geheimen Bund der Lanzaner. Die Lanzaner waren eine Gruppe von Richtern, Grafen und einfachen Bauern, die allesamt der Linie der Grafschaft von Thesen unterworfen waren und deren Lebensaufgabe es war, uns zu beschützten. Somit wurde es mir ermöglicht, ein so weit wie möglich normales Leben zu führen. Dazu zählten die Schulbesuche sowie meine Freizeitgestaltung und das Privatleben.

 

Glücklicherweise war der Bund der Lanzaner sowie das Rätsel um die mystischen Umstände in meiner Linie von der Außenwelt noch unerkannt geblieben. So hatten wir nichts zu befürchten. Manchmal musste man aber seine Zunge hüten, um nicht aufzufallen. Daher bekam ich wöchentlich Unterricht in den Verhaltensweisen der Neuzeit, welchen ich mit den anderen Wesen aus meiner Abzweigung besuchte. Dies waren nur drei: Die Zwillinge Liselott und Annemarie Thalbach und der unverschämt gutaussehende Theodor von Eichbrunn und meine Wenigkeit. Pardon, und „ich“ sagt man ja heutzutage.

 

 

 

 

Während ich so vor mich hingrübelte und meine täglichen Notizen im Tagebuch machte, welches von der Lanzaneraufsicht kontrolliert wurde, hatte ich vollkommen die Zeit vergessen. Schnell packte ich es weg, als Sophie an der Tür klopfte. Mit einer freudigen Umarmung begrüßte sie mich und folgte mir die Treppe hinauf in meinen Stock. Dort betraten wir den Aufenthaltsraum und machten es uns auf der Couch gemütlich. Schnell holte ich noch meinen Laptop, um mit Sophie die Recherche zu starten. Denn soweit ich wusste, hatte mein untotes Dasein nichts mit der Verwandlung in Raben oder Ähnlichem zu tun. So musste dies einen anderen Ursprung haben.

 

Bald wurden wir fündig und stießen auf einen Artikel von einem Historiker aus dem 18. Jahrhundert, welcher behauptete, er selbst habe solche Stimmen vernommen und habe sich seit der nächsten Begegnung mit den drei Raben tatsächlich in einen solchen verwandelt und sei von ihnen in einen Geheimbund aufgenommen worden.

 

„Klingt ja ganz schön abgefahren oder? Ich meine entweder hat der Typ zu viel Fantasie oder er war auf nem heftigen Trip. Ich meine falls das mit dir auch passieren sollte, dann bist du wenigstens vorbereitet“, entfuhr es Sophie, als sie mir belustigt zuzwinkerte, während ich den Laptop zuklappte. „Ich glaube da ja auch nicht dran. Als der Typ das geschrieben hat, war er wahrscheinlich ziemlich betrunken“, fügte ich hinzu und schmunzelte. „Ja, in dem Artikel stand ja auch, dass er kurz danach in eine Irrenanstalt kam. Der Ärmste!“, ergänzte Sophie und ließ den letzten Satz ironisch klingen, doch in ihren Gedanken konnte ich lesen, dass sie das nicht so empfand und dass sie wirklich Mitleid mit dem Mann zu haben schien.

„Sophie? Kam dir nicht auch… Ach vergiss es, das ist Quatsch.“, begann ich eine Frage zu formulieren, die ich nun doch nicht stellen wollte. „Hm?“, horchte die Brünette auf, welche grade in ihr Handy vertieft gewesen war. „Ach nichts. Musst du nicht gleich los zum Schwimmtraining?“, erinnerte ich die Freundin an ihren vollen Terminkalender. „Oh Mist, du hast ja so Recht Clio, wir sehen uns dann morgen in der Schule, ja?“, mit diesen Worten erhob sie sich, umarmte mich, ehe sie hastig das Haus verließ.

 

Ich verdrengte den Gedanken an einen Zusammenhang mit dem jungen Mann auf den Treppen mit der Stimme in meinem Kopf. „Nicht verrückt werden Clio, es gibt sicher eine rationale Erklärung dafür.“, sprach ich ruhig zu mir selbst und packte meine Kamera in die dafür vorgesehene Tasche, um nach dem Unterricht mit meinen Leidensgenossen noch einmal herumzuziehen und ein paar Fotos zu schießen in der Hoffnung, dies könnte mich von meinen Gedankengängen befreien, die mir um ehrlich zu sein wirklich Angst bereiteten.

 

 

 

 

 

 

 

Das Tier in mir

 

-Im Schatten der Kirche hörte ich aus der Ferne das Krächzen mehrerer Raben und zuckte zusammen. Erschrocken blickte ich umher. Innerhalb von kurzer Zeit kamen die drei Raben immer näher, flogen über meinen Kopf im Kreis umher. Plötzlich drehte sich mein Magen um, ich bekam ein Schwindelgefühl, fiel fast auf die Knie vor Übelkeit. Meine Arme streckten sich von alleine aus und wurden zu Flügeln mit schwarzen Federn. Nein, nein. Das kann nicht sein., dachte ich, als nun auch meine Füße zu Krallen mutierten und sich meine ganze Gestalt in einen Raben verwandelte. Aus Zorn über die Verwandlung fauchte ich, was aber nach kurzer Zeit zu einem Rabenschrei wurde. Schnell hob ich mich empor, versuchte Herr über die neue Gabe, das Fliegen, zu werden. Nach ein paar Bruchlandungen hatte ich den Dreh raus und segelte auf die anderen Raben zu, welche mich zum Kirchturm geleiteten; auf dessen Brüstung nahmen sie Platz und sprangen nun in den Glockenturm.-

 

 

 

Hastig öffnete ich die Augen und fand mich in einem Raum wieder, der wie ein altes Klassenzimmer während den 1940 Jahren eingerichtet war. In den zwei Schulbänken saßen schon Liselott und Annemarie in einer sowie Theodor in der anderen. Herr Kemmer blickte mich böse an und wies mit seinem Zeigestock auf meinen freien Platz neben Theodor. Der Angesprochene drehte sich zu mir um, wobei seine schwarzen Haare in sein Gesicht fielen und seine blauen Augen verdeckten, doch sein silberner Ring, ein Piercing in der Unterlippe, schimmerte leicht. Bei diesem Anblick blieb mir geradezu die Luft weg und so brauchte ich eine Weile, ehe ich auf Herr Kemmers aufdrängendes: „Na haben Sie wenigstens eine Entschuldigung für Ihr Schlafen, Cliolore?“, antworten konnte. „Es tut mir leid, ich schlafe in letzter Zeit nachts nicht mehr so gut“, sagte ich unsicher, hoffte jedoch, dass Kemmer es mir abkaufen würde.

Schnell stand ich auf und holte meine Bücher hervor, während ich neben Theo Platz nahm. Dieser wendete sich wieder voll und ganz Herr Kemmer zu und ignorierte mich. Wie immer, dachte ich mir. Seit eh und je schwärmte ich schon für diesem Jungen, selbst als er noch schwarze Schmalzlocken hatte und furchtbare Rokokoröcke trug. Mindestens 20 Liebesbriefe hatte ich ihm im Geheimen schon geschrieben, doch keinen einzigen auch wirklich übergeben oder es ihn wissen lassen. Enttäuscht seufzte ich und hörte nun auch Herr Kemmer zu, wie er uns abermals erklärte, wie man einen I-Pod benutzt. Ich fand es schwierig, mit dem Finger über den Kreis der Menüleiste zu fahren, und war oft zu schnell.  Die damalige Umstellung auf das Handy war schon kompliziert gewesen und nun diese komischen neumodischen I-Pods die wirklich fast jeder kannte oder besaß. Während Theo ganz lässig ein Album von den White Stripes auswählte und es sich anhörte, schaute die blonde Annemarie zu ihm hinüber und zwinkerte ihm zu. Das erwiderte er dann mit einem Lächeln und lehnte sich lässig zurück. Liselott und ich sahen konzentriert auf unsere I-Pods, doch als wir ziemlich gleichzeitig unsere Blicke abwandten und uns ansahen, mussten wir beide lachen. Ich verstand mich sehr gut mit dem rothaarigen Mädchen mit den vielen kleinen Sommersprossen. Im Gegensatz zu Annemarie war sie nicht topgestylt und fett geschminkt, sondern trug nur etwas Wimperntusche und Puder. Liselott war Sophie nur als Freundin aus dem Literaturkurs bekannt, wie ich die Unterrichtsstunde in den Verhaltensweisen der Neuzeit, kurz UVN nannte. Wir vier Schüler der UVN waren grundverschieden, jedoch hatten wir eines gemeinsam: Wir waren untot und in unseren Adern floss das blaue Blut der Adelslinie von Thesen, Eichbrunn und Thalbach. Das bedeutete, wir durften uns niemals arg verletzten oder schlimm erkranken, da wir von Normalsterblichen nicht behandelt werden durften. Wenn dem doch so war, hatten wir unsere Ärzte beim Bund der Lanzaner die sich mit unseren Spezien auskannten.

 

Liselott und Annemarie waren Werwölfe, deshalb hatten sie also fast die gleichen Sinne, wie ich sie hatte. Die Zwillinge konnten gut im Dunkeln sehen und sehr gut riechen, außerdem verwandelten sie sich in haarige Werwölfe bei Vollmond. Theodor hingegen war ein reinrassiger Vampir, der übermenschliche Kräfte besaß und sehr schnell war. Genau wie ich ernährte er sich von Fischen und deren Blut. Liselott und Annemarie hingegen jagten Wild im nahen Wald. Oft begleiteten Theodor und ich sie zu gemeinsamen Jagten in der Nähe des Weihers. In früheren Jahrhunderten jagten wir nicht so abgeschieden und „zivilisiert“, damals war es nicht unüblich das die drei sich auch an Menschen vergriffen. Doch da die Erklärung dieser mysteriösen Morde zu viel Arbeit für die Lanzaner bedeutet hatte, wurden ihnen humanere Alternativen zur Jagd gesucht.

 

Nachdem Herr Kemmer seine Unterrichtseinheit abgeschlossen hatte, kündigte er das neue Thema an: Jugendsprache. Ich seufzte. Jugendsprache zählte zu meinen Hassfächern, da ich es einfach furchtbar fand, wie die deutsche Sprache in den letzten Jahrhunderten so verhunzt worden war. Jedenfalls bekamen wir ein Arbeitsblatt, welches wir zu Hause auszufüllen hatten. Annemarie beschwerte sich lauthals über die zusätzliche Hausaufgabe, da sie ja nun keine Zeit mehr für ihren Hip- Hop Tanzkurs hatte. Denn auch Untote treiben Sport oder haben andere normale Hobbies. Bei Annemarie war es das Tanzen, bei Liselott das Zeichnen und bei Theodor das Singen in seiner Band. Bei mir war es das Fotografieren und ab und an das Schreiben von Kurzgeschichten oder Gedichten.

 

 

 

 

 

 

Da der Schnee glücklicherweise schon vor mehreren Wochen geschmolzen war und nun alles wieder getrocknet hatte, beschloss ich zur Kirche zu gehen, um die Wasserspeier zu fotografieren, welche ausgesprochen schön waren. Auf dem Weg dorthin schlug ich noch einen Umweg durch den Park ein, wo ich die verschiedensten Motive vors Objektiv bekam. Unter anderem drei schwarze Raben, die in einer Tanne saßen und mich beobachteten. Eine Gänsehaut überkam mich, da ich an meinen Traum während der UVN Stunde denken musste und ging rasch weiter.

 

Oft war es ärgerlich festzustellen, dass mein Adlerauge die Motive besser wahrnahm als die Kamera. Dennoch war ich mit den Bildern zufrieden und machte mich nun auf den Weg zur Kirche. Als ich durch die Pforte der Außenmauer rund um das geistliche Haus trat, lief ich einmal im Kreis um die Außenfassade der Kirche. Oben am Turm waren die Wasserspeier in Form von Drachen oder auch von Ziegen.

 

Im Schatten der Kirche hörte ich aus der Ferne das Krächzen mehrerer Raben und zuckte zusammen. Erschrocken blickte ich umher. Innerhalb von kurzer Zeit kamen die drei Raben immer näher, flogen über meinen Kopf im Kreis umher. Plötzlich drehte sich mein Magen um, ich bekam ein Schwindelgefühl, fiel fast auf die Knie vor Übelkeit. Meine Arme streckten sich von alleine aus und wurden zu Flügeln mit schwarzen Federn. Nein, nein. Das kann nicht sein! , dachte ich, als nun auch meine Füße zu Krallen mutierten und sich meine ganze Gestalt in einen Raben verwandelte. Aus Zorn über die Verwandlung fauchte ich, was aber nach kurzer Zeit zu einem Rabenschrei wurde. Schnell hob ich mich empor, versuchte Herr über die neue Gabe, das Fliegen, zu werden. Nach ein paar Bruchlandungen hatte ich den Dreh raus und segelte auf die anderen Raben zu, welche mich zum Kirchturm geleiteten; auf dessen Brüstung nahmen sie Platz und sprangen nun in den Glockenturm.

 

 

Ehe ihre Krallen auf dem Boden aufkamen, wurden sie zu Beinen, zu menschlichen Beinen. Einer nach dem anderen, bis schließlich zwei Jungen und ein Mädchen vor mir standen. Sie waren ungefähr 16 bis 18 Jahre alt und musterten mich von Kopf bis Fuß. Da ich immer noch in Rabengestalt auf der Brüstung saß, rief das Mädchen mir zu: „Auf, spring runter. Lass dich ansehen!“, und lachte mit einem der anderen Jungen, welcher seine Arme um ihre Hüften legte. Die roten kurzen Haare des Mädchens passten perfekt zu der grünen Bluse, die sie trug, zusammen mit einer beigefarbenen Jeans. Ihr Freund trug ein dunkelrotes Hemd und eine dunkelblaue Jeans, seine Haare waren mittelblond und kurzhaarig. Der andere Junge, welcher sich bisher nicht am Geschehen beteiligt hatte, trug dunkelbraunes, etwas längeres Haar, welches ihm bis zu den Schultern ging, und besaß ein markantes Gesicht. Mein Herz blieb für einen kurzen Moment stehhen: Es war der Junge der uns im Treppenhaus begegnet war! Seine Kleidung war schwarz und auch er trug wie ich und der Rest der Gruppe ein Lederband um den Hals mit einer Rabenfeder.

 

Ich schluckte kurz, nahm all meinen Mut zusammen und hüpfte von der Brüstung hinunter. Sofort befand ich mich wieder in meinem menschlichen Körper, zog sofort die Zähne ein und schüttelte mich, sah mir meine Arme nach Federn um, doch ich konnte keine mehr entdecken. Amüsiert über mein Verhalten, lachte das Mädchen kurz und kam dann auf mich zu.

 

 

„Du bist also die Neue im Bund. Ich bin Victoria, aber alle nennen mich Vic. Das ist Paul, mein Freund, und dort hinten, das ist Luzi, entschuldige, ich meinte Luzifer.“, und deutete auf den Jungen, ganz in schwarz. „So wie es aussieht gehöre ich jetzt wohl zu euch. Ich bin übrigens Clio“, stellte ich mich vor und versuchte meine Unsicherheit mit falschem Selbstbewusstsein wett zu machen.

 

Sofort begann ich die Gedanken der Drei zu studieren, um mich zu vergewissern, dass keiner von ihnen mitbekommen hatte, wie ich meine Zähne eingefahren hatte. Glücklicherweise schöpfte keiner von ihnen auch nur den geringsten Verdacht. Doch nur in die Gedanken von Vic und Paul konnte ich eindringen, Luzifers Gedanken blieben mir verwehrt. Dennoch versuchte ich mich in der Gegenwart der fremden Rabenwandler zu entspannen und hörte interessiert zu, wie Vic mir die momentane Lage beschrieb:“ Wie du wohl mitbekommen hast, besitzt du ab dem heutigen Tag die Fähigkeit, dich in einen Raben zu verwandeln. Das kann dir von großem Nutzen sein, den andere nicht besitzen. Aber wir haben diese Gabe nicht umsonst. Wir gehören einem Geheimbund an. Allesamt. Auch du, Clio.

Unsere Aufgabe ist es, die Mysterien des 21. Jahrhunderts aufzudecken und die Menschheit vor diesen womöglich blutrünstigen Kreaturen zu schützen. Genaueres wird dir Luzi ein anderes Mal erklären. Jetzt müssen wir wieder los. Wir sehen dich in drei Tagen, selber Ort, selbe Zeit. Und versuch dich gar nicht erst dagegen zu wehren. Du wirst der Verwandlung nicht entkommen können. Es ist wie ein Fluch.“, erklärte sie und lachte. Mit diesen Worten verwandelten sich Vic und Paul wieder in Raben.

 

Mir war, als würde sich das blaue Blut in meinen Adern gefrieren. Ich war in einen weiteren Geheimbund geraten, der meine eigene Rasse zu bekämpfen schien. Schnell setzte ich jedoch einen neutralen Gesichtsausdruck auf und fragte wohl überlegt: „Und wie komm ich bitte hier runter? “ Luzifer lächelte mich an und streckte mir seine Hand entgegen. „Nun komm, ich erkläre es dir“, sprach er aus. Seine Stimme hatte so einen schönen rauen Klang, welchen ich sofort wiedererkannt hatte: Luzifer war es ebenfalls gewesen der mich mitten in der Mathematikstunde am Morgen gerufen hatte. Dennoch kam ich zu ihm und legte meine Hand in die seine. Während Paul und Vic davonflogen, stellte sich Luzifer neben mich, legte seine Hand in meine. Elegant flüsterte er mir Worte zu, welche ich wiederholen sollte. Jedes einzelne Wort wiederholte ich genauso, wie er es gesagt hatte.

 

Sofort krümmte sich mein Körper erneut, Federn schossen heraus und Krallen säumten meine Beine dort, wo bis vor kurzem noch Füße gewesen waren. Hastig schlug ich mit den Flügeln und schwebte davon ohne mich nocheinmal umzusehen.

 

 

 

 

 

Während dem Fliegen zwang ich mich meinen Herzschlag zu verlangsamen um den Flug unversehrt bis zur Villa meiner Eltern zu schaffen. Meine grünen Augen scannten die Großstadt unter mir, erblickten Menschen die sich auf den Straßen tummelten, Häuser betraten oder verließen, auf Bänken saßen und lachten oder einfach nur ihren Hund ausführten. Alles schien normal zu sein. Doch das war es nicht. Nicht mehr für mich.

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Tag der Veröffentlichung: 13.04.2010

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