Sie war schon so lange gelaufen, ihr schmerzten die Füße. Sie wollte sich setzen, doch das war nicht richtig, sie musste weiter. Immer weiter. Voran. Wasser. Wo war nur Wasser? Als sie vor Tagen aufbrach, hatte sie wohl die Entfernung zum rettenden Ziel unterschätzt. Doch sie war zäh. Sie lebte. Sie würde es schaffen. Sie musste es schaffen. Ihr Blick wanderte nach unten. Vor ihrem Bauch in einem schmutzigen Tuch, das sie sich umgebunden hatte, lag ihr Baby. Es war abgemagert, gezeichnet von den Strapazen, der langen Reise. Sie hatte nicht genug Milch. Sie hatte ja selbst kaum Nahrung. So konnte ihr Körper auch keine Milch produzieren. Es schmerzte sie sehr, ihr Kind so zu sehen. Doch noch atmete es. Noch gab es Hoffnung. Jeder Atemzug, jeder noch so kleine Schritt brachte sie näher an ihr Ziel. Sie mussten es schaffen. Sie durften nicht aufgeben. So viele hatten aufgegeben und säumten nun als Mahnmal ihren Weg. Sie wollte nicht auch so enden. Ihr Kind sollte leben, egal was sie dafür tun musste. Es war ihr zu wichtig. Ihr Blick fiel auf ihre geschundenen Füße. Ihre Sandalen waren schon vor ein paar Tagen, vollkommen zerschlissen von ihren Füßen gefallen. Nun lief sie seit Tagen mit bloßen Füßen über den heißen sengenden Boden, der ihr mit jedem einzelnen Schritt, die Füße verbrannte. Erst hatten sich Blasen gebildet, doch schon bald, waren sie offen und fingen an zu bluten. Dreck hatte sich in die Wunden gesetzt und nun waren sie nicht nur offen, sondern auch noch entzündet. Doch das war ihr egal. Dort ganz weit entfernt, lag ihre letzte Hoffnung. Die Hoffnung auf rettendes, so wichtiges Wasser, auf einen Teller Reis oder was immer sie sonst bekommen konnten. Zumindest etwas Nahrung. Mehr als sie in ihrem Dorf hatten, mehr als sie die letzten Tage hatte. An Pause war nicht einmal zu denken, Tags wie Nachts, Schritt um Schritt gezogen wie von einer unsichtbaren Schnur ging sie voran. Immer das Ziel vor Augen. Im Dorf war dieses Gerücht aufgekommen und sie klammerte sich daran. Erst wollte sie nicht gehen, doch als das große Sterben begann, da der Brunnen versiegt war und die Tiere verendeten, sogar ihr Mann starb, erst da entschied sie sich, zu gehen. Ihr Kind hatte so lange durch gehalten. Es hatte eine Chance. Sie gebar es kurz nach seinem Tot. Ihr Mann konnte es nicht mehr erblicken, es war alles was ihr geblieben war. Ein kleiner, wundervoller Junge mit solch großen, dunklen und auch so traurigen Augen. Da entschied sie sich an die Hoffnung zu klammern. Hoffnung war alles was ihr blieb und so lief sie. Erinnern, wann ihre Reise begann, das konnte sie nicht mehr. Ihr Körper war ausgezehrt, ihre Haut spannte sich über ihre Rippen. Der Bauch aufgedunsen vom Hunger, wie bei ihrem Kind. Sobald sie sich vor Erschöpfung einen kurzen Augenblick der Ruhe gönnte, sah sie sich um. Um sie herum gab es nur ausgetrocknete und gerissene Erde, die Sonne hatte jedes kleine Tröpfchen Wasser ausgebrannt. Pflanzen gab es kaum noch. Sie sah sich den Boden an. Ihre Hand legte sie auf diese trockene Kruste, ihre Finger versuchten sie zu lockern, doch sie war steinhart. Ihr gelang es an einer aufgebrochenen Stelle ein Stück zu lösen. Ihr Hunger war unbändig. Irgendetwas brauchte sie um dieses Gefühl zu stillen. Ihr Blick fiel auf ihre Hand. Braun lag das kleine Stück der großen Mutter in ihrer Hand. Sie schenkte leben, so hatte sie es von den Ältesten gelernt. Wie sie wohl schmeckte? Salzig? Sie wusste es nicht. Langsam, ganz automatisch führte sie das Stück Erde an ihren Mund. Gleich würde sie es wissen. Sie steckte es in ihren so trockenen Mund. Den Geschmack konnte sie nicht beschreiben. Vielleicht ein wenig salzig, auf jeden fall füllte es den Magen, sie schluckte ohne zu kauen. Bröckchen steckten in ihrem so ausgedörrten Hals, sie konnte kaum schlucken, doch sie musste. Es ging nicht anders. Vorsichtig brachen ihren zittrigen Finger wieder etwas Erde heraus. Die große Mutter würde sie nähren. Es musste gelingen. Schon würgte sie den nächsten Bissen herunter. Ihr Körper bäumte sich auf und wehrte sich heftig gegen diese „Nahrung“. Sie musste würgen, doch es gelang ihr diesen Reiz zu überwinden. Nur nicht aufgeben. Es konnte nicht mehr weit sein. Ihr Blick fiel auf ihr Kind, das schlafend mit schwacher Atmung vor ihr lag. Sie legte ihn an ihre Brust. Ein paar tropfen Milch mussten da sein. Bald würde er zu schwach sein um zu trinken. Selbst jetzt saugte er nur noch ganz schlecht. Doch er versuchte es. Er gab nicht auf und sie würde ihn auch nicht aufgeben. Schwankend erhob sie sich wieder. Bloß nicht zu lange sitzen, sonst würden sie nie mehr ankommen und auch ihre Knochen würden den Wegesrand säumen. Das durfte nicht sein. Zittrig gehorchten ihre Muskeln den Befehlen. Schritt um Schritt schob sie sich voran. Bald würde der Mond ihr Begleiter sein. Bald würde es kalt werden, nach der sengenden Hitze, des Tages. Ob es ihr so leichter fallen würde, sie glaubte nicht daran, denn durch die Hitze des Tages, begann sie schnell zu frieren, sobald die Sonne ging. Doch auch das war nicht wichtig. Wichtig war einzig und allein Wasser und Nahrung. So ging sie wieder ein paar Schritte voran. Mit dem Mut des Verzweifelnden, rang sie um jeden Meter. Da erblickte sie einen kleinen Kaktus. Einen Wasserspeicher, konnte sie ihren Augen trauen? War dies wirklich oder doch nur eine Spiegelung. Vorsichtig schritt sie darauf zu, die Sonne ging gerade unter, der Mond kam heraus. Schnell kühlte es ab. Sie zückte ihr Messer und vorsichtig schnitt sie in diese so wertvolle Pflanze. Ihre Klinge war feucht. Ja, er hatte noch Wasser. Gekonnt schnitt sie ein Stück nach dem anderen ab. Sie nahm das Kaktusfleisch und drückte es so kräftig sie konnte aus. Die Flüssigkeit, die tropfend heraus quoll, füllte sie in ihren leeren Trinkbeutel. Jetzt wusste sie, sie würden es bestimmt schaffen. Diese Flüssigkeit würde sie über die nächsten Tage bringen. Sie retten bis ins Lager. Dieser Gedanke trieb sie nun wieder voran. Kaum war der Kaktus ausgepresst in ihrer Flasche, zog sie weiter. Sie gönnte ihrer so trockenen Kehle nur einen ganz kleinen Schluck. Mit ihren noch feuchten Fingern strich sie kurz über die Lippen, und danach über das Gesichtchen ihres kleinen Sohnes. Eine kleine Bewegung huschte da über sein Gesicht. Ein Lächeln? Es war zu kurz um es genau sagen zu können. Der Kleine hatte noch nicht viel Freude in seinem bisherigen Leben gehabt. Geboren in einem von der Sonne verbrannten Land, ohne das so überlebenswichtige Wasser, ohne Schatten. Von einem sicheren Versteck, seinem Nest im Bauch seiner Mutter, brach er heraus in eine so gnadenlose trockene und grelle Welt. Seine Mutter liebte ihn von der ersten Minute, nur deshalb machte sie sich auf diese so beschwerliche Reise. Eines Tages würde er wissen was sie für ihn auf sich nahm, doch dafür mussten sie beide diesen Weg überleben. In ihrem Kopf drehten sich immer wieder die gleichen Gedanken. Laufen, Leben, Laufen, bald sind wir da und alles wird gut. Bald sind wir an unserem Ziel und gerettet. Langsam begann die Morgendämmerung. Der Mond beendete seine Runde am Himmel und langsam begann die Luft wieder zu flimmern. Sengend und brennend wie jeden morgen. Sie kannte das schon, jetzt nur nicht aufgeben, die letzten kühlen Atemzüge nehmen, bevor die Luft wieder in den Lungen brannte. Nicht mehr lang. Ihr gesamter Körper erschauderte unter jeder Bewegung, jedem Atemzug. Was war das da vorne? Das musste eine Sinnestäuschung sein, war das ein Schild, waren das Zelte? Waren dort Menschen? Sie blieb kurz stehen und rieb sich die Augen. Sie konnte es kaum fassen. War sie wirklich bald im Lager? Das konnte nicht sein, ihr Herz begann etwas kräftiger zu schlagen. Sie sah ihr Kind an und sah auf das Lager. Bald, ganz bald gab es Wasser zu trinken. Ihr Sohn konnte kaum noch seine Augen öffnen. Sie musste sich beeilen. Das Adrenalin in ihren Adern mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sie würden es schaffen, nur noch eine kleine Weile. Gleich waren sie dort. Schritt für Schritt kamen sie näher. Was Anfangs nur Schemen und Schatten waren, wurden nun richtig klar umrissene Formen und Gestalten. Sie stolperte, fiel auf die Knie, es waren doch nur noch ein paar Meter, nur noch kurz. Ihr Kind schrie nicht auf, gab keinen Ton von sich. Sie konnte nicht mehr auf die Beine kommen, die Kraft hatte sie einfach verlassen. So zog sie das Tuch enger um ihren knochigen Körper und kroch. Es war nicht mehr weit, halte durch, schoss ein Gedanke durch ihren Kopf. Ja, wir halten durch. Wir sind Kämpfer, wir können das. Ihr knickten die Arme ein, mühsam schaffte sie es sich nicht auf ihren Sohn fallen zu lassen. Er musste überleben. Seitlich liegend kroch sie voran. Arme, Beine immer abwechselnd. Ihre Finger krallten sich in den Boden. Vorwärts, immer weiter. Nur noch ein paar Stunden und sie waren gerettet. Ihre Augen schlossen sich für ein paar Minuten. Nur kurz, die Sonne brannte auf ihrer Haut, schützend rollte sie sich um ihr Kind zusammen. Ihr Körper sollte ihm Schatten spenden. Einen kleinen Moment lang. So schlief sie ein. Sie konnte keinen weiteren Schritt voran schreiten.
Sie erwachte ausgeruht. Ihr Blick fiel auf die Zelte. War sie doch so nah am rettenden Ziel? Sie konnte sich nicht erinnern. Irgendwie war alles so leicht. Ihre Füße brannten überhaupt nicht mehr. Ihr Kind? Hatte sie ein Kind gehabt? Sie wusste es nicht mehr. Sie stand auf und ging auf das helle Tor zu. Dort wurde ihr sofort geöffnet und ein Mann sagte zu ihr: „Wir haben schon auf dich gewartet, du hattest einen langen Weg zu uns gehabt. Nun wird es dir an nichts mehr Mangeln. Du warst Tapfer und Mutig. Du hast erreicht, was du erreichen konntest und solltest. Deine Aufgabe ist erfüllt. Nun bist du daheim.“ Fragend blickte sie ihn an. Dann fiel ihr Blick zurück und erblickte ihren Körper zusammengekauert im Sand liegend. Ihrem Kind Schutz bietend. Sie sah, wie Helfer aus dem Flüchtlingslager zu ihr eilten, eine Frau nahm ihr Kind, er weinte. Ja, er lebte. Eine kleine Träne rann über ihre Wange. Irritiert fasste ihre Hand an ihre Wange. Schon seit Tagen hatte sie kein Wasser mehr im Körper gehabt. Sie konnte nicht mehr weinen. So ausgetrocknet war sie. Was geschah mit ihr? Wieso konnte sie weinen? Was war mit ihrem Sohn? Da hörte sie was die Menschen, die ihren Körper nun umgedreht hatten sagten: „Sie hat es nicht geschafft. Der Weg war zu weit, zu schwer, aber ihr Kind konnte sie retten und wir werden alles tun um ihm zu helfen.“ Wieso sagte er das? Sie war doch hier. Sie wollte schreien, doch nichts geschah. Sie sah, wie sie ihren Körper aufhoben und ihn in das so nahe liegende Lager brachten. Ihr Sohn war gerettet. Das war es was zählte. Der Mann der sie am Tor begrüßte griff nach ihrer Schulter, fragend blickte sie in sein freundliches Gesicht. Er lächelte. „Dein Weg endet hier. Dein Kind muss weiter ziehen, er hat noch viel vor sich. Glaube mir, es wird ihm gut gehen.“ Erneut rann ihr Tränenflüssigkeit aus den Augen. Welche Verschwendung von Wasser dachte sie. Wie unnötig, Tränen doch waren. Sie waren salzig, man konnte sie nicht trinken. Sie waren zu nichts nutze. Nochmals sah sie auf die Helfer, die Ihr Kind mit sich nahmen. Sie winkte ihm zu und es kam ihr so vor, als würde er es verstehen und als könnte er sie sehen. Ein letzter Abschied. Kurz bevor die Helfer verschwanden konnte sie hören, wie die Frau, die ihren Sohn ganz eng umschlungen ins Lager trug, sagte: „Wir sollten ihn Thembi nennen. Thembi bedeutet Hoffnung und seine Mutter hatte sehr viel davon.“
Sie lächelte, die Frau hatte gut gewählt. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ihrem Kind noch nicht einmal einen Namen gab, nachdem sie es bekam. Sie war zu umsorgt, zu sehr damit beschäftigt zu überleben, dass sie es einfach vergaß. Thembi gefiel ihr. Und mit diesem Gedanken schritt sie durch das Tor und machte ihren Frieden mit der Welt. Sie spürte, ihrem Kind würde es gut gehen. Es würde leben. Das war alles was sie wollte, alles was sie ersehnte. Nun konnte sie gehen. Stolz blickte sie auf, sah in die Schleier vor ihr. Was war das? Diesen Menschen kannte sie doch? War das nicht ihr Mann? Sie rannte ihm entgegen. Er schloss sie in seine Arme, drückte sie und sagte: „Das hast du gut gemacht Frau. Du hast diesen schweren langen Weg überstanden um unser Kind zu retten. Ich bin stolz und dankbar.“ Zärtlich küsste er sie und beide verschwanden Arm in Arm im Nebel. Durst und der Hunger war fort. Ihr Kind in Sicherheit.
Im Flüchtlinslager kümmerte sich die Frau, die das Kind an sich genommen hatte, sofort um das kleine Wesen. Sie hatte schon viele Babys gesehen, doch irgendetwas verband sie von der ersten Minute an, mit ihm. Sie war Ärztin, was rührte sie nur so an diesem kleinen Jungen? Sie wollte ihn nie mehr los lassen. Sie legte ihm Infusionen und gab ihm ein Fläschchen. Er war ein Kämpfer und gab ihr die Hoffnung, die auch sie brauchte, für alles was sie hier erleben musste und auch durfte. Hier lagen Freud und Leid so dicht beieinander. Thembi, ja den Namen hatte sie gut gewählt. Von Tag zu Tag, man konnte förmlich zu sehen, wurde der Kleine kräftiger und stabiler. Als er über den Berg war, bemühte sie sich darum, ihn zu adoptieren. So wurden sie eine Familie. Thembi erzählte sie sobald er es begreifen konnte von seiner tapferen Mutter, die ihr Leben gab um ihn zu retten. Er wuchs zu einem starken, intelligenten Mann heran. Er studierte und setzte mit seinem Leben ein Zeichen in dem er Hoffnung für alle Menschen brachte, die seine Hilfe brauchten. Er versuchte die Lebensbedingungen für die Menschen auf den Dörfern zu verbessern. Wasser und Nahrung an all jene zu verteilen, die es so dringend benötigten. Er wusste genau, seine Mutter wäre stolz auf ihn gewesen. Sie gab ihr Leben um ihn zu retten. Dies wollte er weiter geben. Er wollte der Hoffnungsschimmer für Menschen wie seine Mutter sein und das wurde er, denn Thembi bedeutet Hoffnung.
Texte: Cleardance
Bildmaterialien: Cleardance
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