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Ich rannte um mein Leben. Ich spürte meine Beine nicht mehr, aber ich wusste, wenn ich langsamer werden würde, wäre das das Ende. Vielleicht war ich aber schon zu langsam, denn ich konnte die eisige Kälte im Nacken spüren.
Während ich rannte, fragte ich mich plötzlich, ob es überhaupt einen Sinn hatte. Ich floh vor der Kälte, doch hatte ich kein Ziel. Die Kälte lebte ewig, ich nicht. Ich würde bald eine Pause einlegen müssen, die Kälte nicht. Langsam wurde mir eines bewusst: Ich hatte keine Chance. Andererseits - aufgeben kam nicht in Frage. Niemals.
Wenn ich in den vergangen Jahren eins gelernt hatte, dann, dass es sich immer lohnt, zu kämpfen.

Die Kälte ist tückisch. Sie wartet auf den richtigen Moment, um dich zu holen. Ich ahnte schon länger, dass ich ihr neues Ziel war. Doch selbst dieses Wissen konnte mir nicht helfen. Denn die Kälte weiß, was sie tut. Sie ist nicht dumm. Sie kriegt dich in dem Moment, wenn du am schwächsten bist. Wenn du alleine bist. Ganz allein. Von allen verlassen. Einsam.

Meine Lippen waren trocken. Jeder Atemzug tat weh. Ich hatte Seitenstechen. Und doch rannte ich weiter. Ich wagte es nicht, einen Blick nach hinten zu werfen. Ich wusste ja, was dort war, was mich verfolgte, mich immer verfolgen würde, bis zum Ende. Die Kälte. Sie kam immer näher, streckte ihr eisigen Finger nach mir aus, fuhr mir unter die Kleidung, ließ mich frösteln.
Bald nahm ich nichts mehr wahr, außer dem dumpfen Pochen meines Herzens. Es schlug viel zu schnell, doch das war egal. Vermutlich würde es nicht mehr lange schlagen, wenn mich die Kälte erst einmal eingeholt hatte. Sie war schon nah dran, sehr nah.
Mittlerweile hatte ich keine Angst mehr. Ich wusste, die Kälte könnte mich jeden Moment einholen. Dann wäre es eben zu Ende. Na und? Was hatte ich schon zu verlieren?

Einsam. Ohne Kontakt zur restlichen Welt. Ein Außenseiter. Genau das war ich. Ein Außenseiter der Gesellschaft. Die Kälte wusste das. Sie bringt es immer in Erfahrung, selbst wenn du selbst es noch leugnest. Leugnen ist zwecklos. Sie kriegt dich ja doch.

Ich hatte Tränen in den Augen. Nicht, weil ich traurig war oder Angst hatte, nein. Es war die Kälte, sie tat das. Wollte mir die Sicht nehmen. Aber da hatte sie sich getäuscht, so konnte sie mich nicht kriegen. Ich rannte die ganze Zeit schon blind für meine Umgebung.
Allerdings kannte die Kälte noch einige andere Tricks, um zu bekommen, was sie wollte. Zum Beispiel Eis. Das gefährliche an Eis ist, dass man es nicht immer sehen kann. Aber glatt ist es trotzdem. Das musste ich feststellen, als ich ausrutschte. Ich ruderte mit den Armen, um mein Gleichgewicht zu bewahren, aber ich fiel trotzdem. „Jetzt hat sie mich!“, dachte ich und schloss die Augen.

Ich war nicht immer ein Außenseiter gewesen. Früher war ich Teil der Gesellschaft. Doch wenn du wagst, sie zu kritisieren, verstoßen sie dich. Du musst nicht einmal verbale Kritik üben. Nichtmal offensichtlich gegen den Strom schwimmen. Es reicht völlig aus, nicht mitzuziehen. Das weiß auch die Kälte. Und dann lauert sie dir auf. Wartet den Zeitpunkt ab, an dem du allein bist. Völlig allein.
Sie ist schon feige, die Kälte. Traut sich nicht, zu kommen, solange du nicht allein bist. Nun ja, diese Taktik funktioniert jedenfalls.

Das merkte ich auch, als ich am Boden lag, der Kälte hilflos ausgeliefert. Für einen Moment fühlte ich so etwas wie Verzweiflung in mir aufkeimen, doch dann erinnerte ich mich, dass ich es geahnt hatte. Das Ende. Bewegungslos verharrte ich auf der kalten Erde, fragte mich, was nun passieren würde. Bumm. Bumm. Bumm. Nur das Pochen meines Herzens. Sonst Stille. Die Sekunden vergingen und ich wartete. Schließlich kam sie, die Kälte. Kam und holte mich.

Es beginnt damit, dass sie dich schief ansehen. Untereinander verstohlene Blicke austauschen. Aufhören zu reden, sobald du in der Nähe bist. Dann ziehen sie über dich her, erst heimlich, dann ganz offen. Stellen dich zur Schau. Aber zu diesem Zeitpunkt bist du noch nicht alleine. Nicht ganz zumindest.
Die Einsamkeit beginnt, wenn sie anfangen, dich zu ignorieren. Sie beachten dich einfach nicht mehr, tun so, als wärst du nicht existent. Anfangs tut das weh. Obwohl du eigentlich wusstest, auf was du dich einlässt, wenn du dich nicht mehr anpasst. Selbstverständlich bist du erst noch hin- und hergerissen. Zweifelst an deiner Entscheidung. Aber wenn du die Zweifel überwunden hast, gibt es kein Zurück mehr.
Du merkst, wenn du alleine bist. Du fühlst es einfach. Das ist die Chance für die Kälte. Sie lockt dich, zupft an deinem Ärmel. Hält sich aber noch zurück. Es ist viel einfacher für sie, wenn du zu ihr kommst, als wenn sie dich holen muss.
Zunächst erscheint sie dir fremd. Unangenehm möglicherweise. Etwas später sehnst du dich fast nach ihr, wenn du merkst, dass du außer ihr niemanden mehr hast. Dann wird sie gierig, will dich gleich verschlingen. Das ist ihr Fehler. Dann merkst du, was sie vorhat. Überlegst es dir anders. Willst ihr fern bleiben. Doch zu spät. Sie kennt dich nun, deine Stärken und Schwächen, sie war zu lange in deiner Nähe. Nun will sie dich. Egal wie. Sie wird dich jagen, und du kannst ihr nicht entkommen. Niemand entkommt der Kälte.

Ich atmete flach. Mein Herzschlag wurde immer langsamer und leiser. Ich begann zu zittern, als die Kälte mich durchdrang, von Kopf bis Fuß. Plötzlich begann ich zu hoffen. Zu hoffen, dass es nicht zu sehr weh tun würde. Es fühlte sich merkwürdig an, zu hoffen. Ich kannte die Hoffnung schon lange nicht mehr, doch jetzt war sie auf einmal wieder da. Trotzdem beachtete ich sie nicht weiter. Sie hatte mich verlassen, als sie gebraucht hätte, warum also sollte ich sie jetzt willkommen heißen?
In diesem Augenblick brach ich auch meinen eigenen Grundsatz. Den, nicht aufzugeben, sondern immer zu kämpfen. Unsinn. Ich war an dem Punkt angekommen, an dem sich Widerstand nicht mehr lohnte. An dem sich nichts mehr lohnte. Also seufzte ich ein letztes Mal und übergab mich der Kälte. Ich konnte sie fast grinsen sehen, als sie mich mitnahm. Die Hoffnung zerrte ein wenig an mir, aber das war unbedeutend. „Du bist zu spät“, flüsterte ich ihr zu.
„Nicht ganz. Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Was? Für einen kurzen Moment entriss ich mich dem Klammern der Kälte. Versuchte, die Augen zu öffnen. Doch ich konnte nichts erkennen. Also erlaubte ich der Kälte wieder, mich mitzunehmen. Fühlte, wie sie mich packte und davontrug.

Halt! Das war nicht die Kälte! Ich merkte, dass sie um mich kämpfte. Mit wem oder was, wusste ich nicht. Aber sie war wütend, riss an mir, wollte mich für sich haben. Ich war überzeugt, sie würde gewinnen. Doch ich lag falsch. Langsam, aber doch spürbar, kam die Wärme zurück. Ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte. Erst verlassen sie mich alle. Erst die Menschen, dann die Wärme und schließlich sogar die Hoffnung. Und dann, wenn es eigentlich schon zu spät ist, kommen sie wieder. Erst die Hoffnung, dann die Wärme, und gleichzeitig auch die Menschen.
Letzteres wusste ich, da ich herausgefunden hatte, wer mit der Kälte gekämpft hatte. Menschen. Fremde Menschen, aber das war egal. Mittlerweile waren alle Menschen für mich fremd. Und doch kamen sie zu mir zurück, kämpften um mich, nahmen mich mit. Warum?

Das „Warum?“ kann ich immer noch nicht beantworten. Obwohl ich mich jeden Tag auf die Suche danach mache, stundenlang. Theorien, das ist das Einzige, was ich habe. Zumindest im Bezug auf das Warum.
Im Leben habe ich jetzt viel mehr. Hoffnung, Wärme, Geborgenheit, Freundschaft. Man merkt erst, wie kostbar all diese Werte sind, wenn man eine Zeit lang ohne sie auskommen musste.
Wie auch schon die Counting Crows in ihrem Song „Big Yellow Taxi“ singen: „Don't it always seem to go that you don't know what you got 'til it's gone?“

Impressum

Texte: (c) Clary S.
Bildmaterialien: (c) Clary S. (komplett selbst erstellt mit GIMP)
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2011

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