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Inhaltsverzeichnis



Türchen 1 - genoveva


Türchen 2 - petitpoint

Türchen 3 - animantis


Türchen 4 - rosenjule


Türchen 5 - sissi


Türchen 6 - vampire70


Türchen 7 - hammerin


Tür 8 - Monirapunzel und Klärchen


Türchen 9 - lorina


Türchen 10 - lacrime


Türchen 11 - carthey


Türchen 12 - dublinertinte


Türchen 13 - GaSchu


Türchen 14 - seewald


Türchen 15 - Helga


Türchen 16 - LadyAgle


Türchen 17 - chitchatcherry


Türchen 18 - Clara


Türchen 19 - fatamorgana


b.w.


Türchen 20 - chiara


Türchen 21 - allesleser


Türchen 22 - szirra


Türchen 23 - sundown


Türchen 24 - tilken




Wenn es abends früher dunkel wird und die Bäume ihre bunten Blätter fallen lassen, bedecken sie wie einen weichen Teppich schützend die Erde.
Dann ist es nicht mehr weit bis zur Adventszeit.
Es ist eine steigende Geschäftigkeit zu spüren. Die Läden sind bunt geschmückt und Kinderaugen glänzen. Wünsche werden geäußert und Träume werden wach.
Jeden Tag kommen wir dem großen Fest einen Tag näher.

Jeden Tag dürfen wir auch von heute an ein Türchen im Kalender öffnen und gespannt sein, was sich dahinter verbirgt.
Lassen wir uns überraschen.



Text: Clara





genoveva






Advent 2010



Egal was kommt, wenige Tage vor dem 1. Advent laufe ich zur Höchstform auf.
In diesem Jahr ist es sehr kalt draußen, ein eisiger Wind fegt durch die Straßen und ein
wenig Schnee liegt auch noch. Das ist in unserer Gegend um diese Zeit äußerst selten, aber
es versetzt mich in die Stimmung, die ich besonders liebe, die stille besinnliche Vorweihnachtszeit.

Also schleppe ich mit meinem Mann die Adventsdekoration, die bei mir auch die Weihnachtsdekoration ist, aus dem Keller.
Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, Diele und Flur werden geschmückt.

Jedes Jahr sagt mein Mann, ich solle es doch sein lassen. Es wäre einfach zu viel Arbeit. Wenn er mich überleben würde, kämen die Sachen nie mehr aus dem Keller und höchstens eine Kerze stände auf dem Tisch.

Vor etlichen Jahren war ich einmal im Sommer zu einer Kur in der Nähe von Oberammergau. In diesem Ort findet alle zehn Jahre das Passionsspiel über das Leiden und Sterben Jesu statt. Die Darsteller müssen langjährig Ortsansässige sein und die Männer lassen sich zwei Jahre vorher einen Bart wachsen.

Hier nun gibt es ein Geschäft einer Käthe Wohlfahrt, die auf zwei Etagen das ganze Jahr über Weihnachtsartikel in unglaublichen Mengen anbietet.

Es war Sommer und heiß wie in der Hölle, aber ich quetschte mich mit 1.000.000 Japanern und Amerikanern durch das Geschäft und geriet in einen Kaufrausch.

Diese Advents- und Weihnachtssachen waren wirklich die schönsten und geschmackvollsten Dekorationen, die ich noch nie so gesehen hatte.
Tischdecken, Baumschmuck, ein ganz eigenwilliger Adventskranz, Tischdekorationen und vor allen Dingen: die schönsten Bozenengel, die man sich vorstellen kann, kamen mit mir nach Hause.

Einige Jahre später fuhren wir ins Erzgebirge. Da geriet ich wieder in Fahrt und meine Ehe in Gefahr.
Man kann sich nicht vorstellen, welch herrliche Weihnachtsdekorationen die Leute aus dem Erzgebirge, in traulicher Heimarbeit, an kalten Wintertagen herstellen!

Der Osten muss ja auch auf die Beine kommen und kauffreudige Kunden helfen eben.
Zu diesen gehörte ich.

Nun kann ich nicht beschreiben, auch nicht fotografieren, wie es jetzt, nach zehnstündiger Dekorationsarbeit bei mir weihnachtet, alles in gold, weiß und grün gehalten.

Ich bin vollkommen fertig, mein Mann schüttelt immer wieder, stumm geworden, den Kopf. Mindestens fünf Wochen erfreue ich mich an dieser geschmückten Wohnung.

Etliche Einladungen sind an Freunde und Verwandte abgeschickt worden, die es sich jedes Jahr, bei mehreren Kaffee- und Teenachmittagen in dieser vorweihnachtlichen Stimmung und bei selbstgebackenen Kuchen, wohl sein lassen.

Ich hoffe, dass alle auch wirklich so begeistert sind. Manchmal höre ich ein leises geäußertes Bedauern, das meinem Mann gilt, der dann besonders strahlt, wenn er hört, dass nicht alle so viel Wert auf adventlichen Schmuck legen.



(c) genoveva



petitpoint





Ein feiner, grauer Nieselregen ging über der Stadt nieder. Die Menschenmasse schob und drängte sich durch die hell erleuchteten Einkaufsstraßen, die im vorweihnachtlichen Lichterglanz tausender, kleiner Lämpchen einem Festsaal glichen. In den Fenstern lagen die Waren zwischen gold- und silbern glitzernden Dekorationsbeigaben, aus manchen Geschäften klang ein fröhliches "Jingle bells, jingle bells" auf den Gehsteig hinaus und aus anderen ein eher besinnliches "White Christmas". Manchmal hörte man auch eines der alten deutschen Weihnachtslieder "Leise rieselt der Schnee" oder "Vom Himmel hoch".
Zwischen all den Menschen, die sich durch die Einkaufsstraße schoben, fiel eine schlanke junge Frau auf, die sich hastig ihren Weg durch die Menschenmassen bahnte. Sie trug tiefschwarze Trauerkleidung. Aber auf ihrem Gesicht lag ein so freudiges, glückliches Lächeln, dass es gar nicht zu dieser Kleidung passen wollte. Barbara, so hieß die Frau, lief eilig in Richtung Parkhaus, wo sie ihren Wagen geparkt hatte. Sie konnte nicht schnell genug nach Hause kommen. "Nach Hause"... wie anders das plötzlich klang. Noch vor zwei Stunden hatte sie überlegt, was sollte sie dort... "Zuhause". Bernd war tot! War dieses Haus da noch ein "Zuhause" ohne Bernd? Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie es ohne ihn weiter gehen sollte. Sie hatten beide als Anwälte in einer gut gehenden Kanzlei gearbeitet. Und dieses Haus war die Krönung ihres beruflichen Erfolges. Mit ihren Freunden hatten sie eine Einweihungsparty gefeiert und stolz ihr neues Heim vorgeführt. Weihnachten wollten sie beide zusammen auf die Bahamas fliegen, um dort die Festtage zu verbringen. Ihr Leben war bis vor wenigen Tagen immer in wohl geordneten Bahnen verlaufen. Schule mit gutem Abitur, Bernd und sie kannten sich schon seit der Schulzeit, dann hatten sie gemeinsam studiert, er Wirtschaftsrecht, sie Arbeitsrecht. Das würde sich ergänzen, wenn sie einmal zusammen in einer Kanzlei arbeiten würden. Denn, dass sie einmal heiraten und für immer zusammen sein würden, das war immer klar gewesen. Beide hatten ein gutes Examen abgelegt und fanden schnell eine Anstellung in einer angesehenen Kanzlei, wo sie Karriere machten. Alles war geplant, alles war gelungen, nur eines hatten sie noch nicht eingeplant... Kinder. Dieser Punkt wurde immer mehr rausgeschoben. Inzwischen waren beide Mitte Dreißig. Barbara hatte wohl manchmal das Thema angeschnitten. Aber Bernd blockte ab, nein, sie hatten doch noch Zeit. Irgendwann. Immer war da noch etwas, was Vorrang hatte. Mal war es eine Reise, und dann sollte ja ein Haus gebaut werden. Und den Traum hatten sie vor wenigen Monaten wahr gemacht. Es war ein wundervolles Haus, lag eine Autostunde von der Kanzlei entfernt in einem Vorort. Dort konnten sich nur sehr betuchte Menschen ein Grundstück leisten. Bernd und Barbara, oder BB, wie sie von ihren vielen Freunden scherzhaft genannt wurden, konnten es. Alles war perfekt. Bis, ja bis zu dem Tag vor einer Woche. Bernd war zu einem Mandanten, einer größeren Firma in die Nachbarstadt gefahren, zu einer Konferenz, bei welcher er als Rechtsbeistand anwesend sein musste. Auf der Heimfahrt geschah es dann. Es war schon spät, als er von dort endlich weg konnte. Es war Ende November und plötzlich einsetzender Frost mit Nieselregen hatte die Autobahn mit gefährlichem Blitzeis überzogen. Bernd hatte keine Chance, als ein LKW, der ins Rutschen geraten war, auf seinen BMW auffuhr und ihn von hinten auf den vor ihm fahrenden Reisebus schob. Er war sofort tot.
Barbara hatte voller Unruhe auf ihn gewartet. Als es an der Haustür schellte, überfiel sie schon die Angst. Zwei Beamte in Uniform standen vor ihr. Noch ehe die beiden etwas sagten, wusste sie, worum es ging. Bernd! Bernd war verunglückt. Von einem Moment zum anderen war nichts mehr wie es war! Die nächsten Tage verbrachte Barbara wie in Trance. Die Beamten hatten gesorgt, dass Freunde kamen, damit Barabara nicht allein bleiben musste. Bernds Eltern hatten sich in den Zug gesetzt und waren ihrer Schwiegertochter sofort zur Hilfe geeilt. Trotz des eigenen Leides. Es gab so vieles zu bedenken, zu regeln. Es war gut, etwas tun zu können. Es machte den Schmerz um den verlorenen Sohn erträglicher.
Barbara ging es nicht gut. Sie fühlte sich schwach und es kam vor, dass sie sich übergeben mußte. Die Schwiegermutter sorgte sich, weil der Schwiegertochter der Tod ihres Mannes offenbar auch gesundheitlich zu schaffen machte. "Sowie die Beerdigung vorbei ist, gehst Du zu eurem Hausarzt, damit er dich mal gründlich untersucht, hörst Du, Barbara." "Ja, Mutter, gleich nach der Beerdigung." Und heute war der Tag, Barbara war bei dem Arzt gewesen, der sie in all den Jahren behandelt hatte, und der sie und auch Bernd gut kannte. Er hatte sie gründlich untersucht, und als er mit einem Ultraschall ihren Bauch abtastete, ging plötzlich ein Lächeln über sein Gesicht. "Barbara, Sie sind kerngesund, aber ... sehen Sie diesen kleinen dunklen Punkt auf dem Monitor?" Der Arzt zeigte mit der Hand auf den Punkt. "Das ist ein Embryo! Sie sind schwanger!" Für einen Augenblick wurde es Barbara schwarz vor den Augen. Schwanger? Ein Kind? Ein Kind von Bernd, den sie erst vorgestern beerdigt hatte?
Barbara wusste nicht, wie sie aus der Praxis gekommen war. Der Arzt hatte noch eine Blutuntersuchung gemacht, kein Zweifel. Sie würde ein Kind haben. Als sie sich in der Einkaufsstraße ihren Weg zum Parkhaus durch die Menschenmasse bahnte, wirbelten ihre Gedanken durcheinander. Ihr ganzes Leben war auf den Kopf gestellt, in wenigen Tagen zweimal völlig umgekrempelt. Erst der plötzliche Tod von Bernd, den sie noch nicht begriffen hatte. Der sie in ein tiefes dunkles Loch gestürzt hatte. Sie hatte einfach nicht mehr gesehen, wie es weiter gehen würde. Und nun? Mit einem Male war es da. Ein kleines Licht im Dunkel der letzen Tage. Sie würde ein Kind haben, ein kleines Wesen das ihrem Leben, das ihr noch vor wenigen Stunden so nutzlos vorgekommen war ohne Bernd, einen neuen Sinn, einen neuen Inhalt geben würde. Ein Kind, das von einem Moment zum anderen das Dunkle vertrieben hatte, das ihr die Zukunft wieder hell und lebenswert erscheinen ließ. Ein Kind, durch das Bernd für immer mit ihr verbunden sein würde, egal was die Zukunft auch bringen würde. Barbara drehte den Schlüssel im Zündschloss und fuhr los. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause, um auch Bernds Eltern, die dort auf sie warteten, die frohe Botschaft zu bringen. Als im Autoradio das alte deutsche Weihnachtslied erklang, "Es ist ein Ros entsprungen", summte Barbara leise die Melodie mit. Trotz der Trauer um Bernd war die adventliche Stimmung auch zu ihr durchgedrungen.

(c) petitpoint



animantis






Gewandte Ostertage
zur Weihnacht



Sie prickelt,
pure Gänsehaut,
es ist,
als wollten Federn wachsen,
Flügel,
die zum Geliebten tragen.
Liebe ist Champagner
unter den Gefühlen.


Chris Ostertag wandte den Blick. Die Faszination, die sich in seinen eisblauen Augen widerspiegelte überstrahlte das traurige Herbstwetter. Sonnige Dauerregentage konnten seine innere Einstellung kaum trüben.
Angelina Gewandt befand sich das erste Mal in ihrem 38 Jahre jungen Leben auf einer Buchmesse. Sie hatte sich vom Bankett der Eitelkeiten zurückgezogen und Gregor das Spielfeld überlassen. Ihr Bruder konzentrierte sich auf die Fashionweek, sein Gespür für Modetrends hatte sich als natürliche Gabe erwiesen: zeitlos, puristisch und mit einem Hauch klassischer Extravaganz zeigte sich seine bodenständige Kollektion. Er war der neue Stern am Modehimmel. Babyalpaka, Mohair, Seide und Cashmere konnte Angelina getrost in seine Hände legen und sich endlich daran machen, ihre eigenen Bedürfnisse zu stillen.
‚Das staubige Grün ihres Overalls harmoniert perfekt mit dem leuchtenden Rot ihrer Mähne‘, Chris Ostertag dachte, als er die schöne Frau sah, sofort an seinen inneren Wunschzettel für das bevorstehende Fest der Liebe. Er lebte von Gegensätzen, wie die Geschichten, die er schrieb. Jade, seine Schaufensterpuppe, war das Bindeglied zu seiner Vergangenheit. Sie stand dekorativ zwischen den acht Vogelkäfigen, welche an Messingketten mit unterschiedlicher Länge von der azurblau gestrichenen Decke hingen. Jeder dieser Behältnisse enthielt eine andere Geschichte. Vor dem großen, bronzefarbenen, auf einer Säule stehenden Käfig, stand die Frau, die an Schönheit und Grazie die bisher schönste Frau seines Lebens, nämlich Jade, überstrahlte. Der Mut, mit dem Chris seine Protagonisten in den jeweiligen Geschichten ausstattete, fehlte ihm persönlich vollständig. Fasziniert von der Kombination anmutiger Bilder, die den japanischen Kurzgedichten noch mehr Ausdruck verliehen, hob die Schönheit den Blick.
„Sind Sie der Autor?“
Sechs Wochen später knirschte der Neuschnee unter den Sohlen des strahlenden Paares. Unumwunden hatten sie den Journalisten im Interview ihren Weihnachtswunsch gestanden, und über der Erfüllung ihrer Träume wachte der Engel der Seligkeit.

(c) animantis








rosenjule






Das ganze Jahr Weihnachten?



Alle Jahre wieder, der Sommer geht, die Sommerzeit ebenfalls und mit der Winterzeit beginnt es auch zu weihnachten, denn in vielen Geschäften liegen Weihnachtsartikel zum Verkauf aus. Und alle Jahre wieder wird darüber diskutiert, ob das gut oder nicht gut ist.
Marie kümmert’s wenig, sie schaut sich gerne an, was an neuen Ideen auf dem Markt ist, und kehrt doch immer wieder zu dem Altbewährten zurück.
Im Spätsommer war sie zu Besuch in Heidelberg, Stadt und Umgebung haben ihr gut gefallen, und gefallen hat ihr auch ein Laden mitten in Heidelbergs Zentrum, der während des ganzen Jahres Weihnachtsartikel zum Verkauf anbietet. Allerdings taten ihr die Verkäuferinnen ein bisschen Leid, nicht nur, dass sie tagtäglich Weihnachtsmusik hören müssen, nein, sie haben auch Tag für Tag strahlend erleuchtete Weihnachtsbäume, Adventskränze und dergleichen mehr vor Augen. Ob die überhaupt noch Weihnachten feiern mögen?
Marie schaute sich in aller Ruhe in dem riesigen Geschäft um, beobachtete Kunden, betrachtete Engel, Kugeln, Nikoläuse, Weihnachtsmänner, Spieluhren, Pyramiden, Nussknacker, Rentiergespanne, Krippen und dergleichen mehr.
Ganz zum Schluss fragte sie dann eine nette Verkäuferin, wie es sei, in so einem Geschäft zu arbeiten.
„Einfach wunderbar“, sagte die junge Frau mit strahlenden Augen, „ich liebe alles, was mit diesem Fest zu tun hat, und darum habe ich den schönsten Job der Welt.“
„Wirklich?“, fragte Maries Begleiter ein wenig ungläubig, doch die junge Frau nickte so heftig mit dem Kopf, dass auch er es glauben musste.
Marie wollte nun aber doch mehr wissen.
„Wie feiern Sie denn Weihnachten? Und was empfinden Sie dabei?“, fragte sie. Die junge Dame lachte:
„Ach, wissen Sie, ich feiere Weihnachten wie alle anderen auch, und freue mich jedes Jahr darauf. Sie müssen es so sehen, ein Bäcker backt jeden Tag Brot und isst es dennoch gerne, und ein Fleischer liebt sicher auch einen deftigen Braten, warum soll ich also nicht gerne Weihnachten feiern?“ Unbemerkt hatten sich einige Mitarbeiterinnen dazu gesellt und nickten bestätigend zu den Worten ihrer Kollegin.
„So betrachtet haben Sie Recht“, lachte Marie, „danke für Ihre Bereitschaft mit mir darüber zu sprechen.“
„Gern geschehen“, gab die junge Frau fröhlich zurück, „es freut mich, dass Sie danach gefragt haben.“ Sie nickten sich noch einmal freundlich zu, und dann verließen Marie und ihr Begleiter nachdenklich das Geschäft.
„Das ganze Jahr Weihnachten vor Augen? Ich weiß nicht recht“, murmelte er beim Weitergehen.
„Die junge Dame hatte so strahlende Augen, die liebt ihren Job wirklich“, sagte Marie und spürte tief in ihrem Inneren, dass auch sie eine solche Arbeit mit der gleichen Begeisterung ausüben könnte!

(c) rosenjule





Sissi





Das Ende aller Tage



Wieder einmal einer dieser langweiligen Adventstage, an denen überhaupt nichts passierte.
Um der Einsamkeit zu entfliehen, könnte ich ein paar Tage auf die Kanaren fliegen.
All-Inclusive schon ab 529 Euro, doch dort würde ich ebenso alleine sein wie hier in dieser ätzend kalten Stadt.
Diese Tage im Dezember kotzten mich schon seit Jahren an, doch was sollte ich tun.
Als Gerda noch lebte, habe ich auch nur herum gestänkert. Doch sie hatte es mit Geduld ertragen. Hatte ihr die Hölle auf Erden bereitet mit meinem ewigen Gerede von: „Schwachsinn, diese Plätzchenbackerei. Da machst du dir die Arbeit und deine Kinder essen alles auf, noch bevor Weihnachten ist“.
„Da schmecken sie doch am besten, wenn sie ganz frisch sind, mein Lieber“, bekam ich zur Antwort und hatte mit Knurren reagiert. „Unverbesserlich“, hatte ich geschimpft, „solltest lieber mit mir um die Ecken ziehen“. Da hatte Gerda nur den Kopf geschüttelt, mir über die Haare gestreichelt und „Muffkopf“ gesagt.
Nun hockte ich hier, verging vor Einsamkeit, und sehnte mich nach dem Duft von Zimt und Tannengrün.
Grau und trostlos war es hier in diesem Loch, in dem ich zu hause war.
Alles hatte ich verkommen lassen. Gerda, verzeih mir, doch ich schaffe das Leben nicht mehr ohne dich.
Mein Blick streifte den verstaubten Rauchglastisch und ich erinnerte mich, dass Gerda ihn nie gemocht hatte. „Da sieht man jedes Staubkorn drauf, da bin ich nur am Wischen. Den will ich auf gar keinen Fall im Wohnzimmer haben“, waren ihre Worte.
Wie immer, können Sie sich denken, hatte ich mich durchgesetzt.
Durch das verschmierte Fenster sah ich im faden Schein der Laterne tanzende Schneeflocken herumwirbeln. Vor der Scheibe machten sie halt, drehten sich im Wind und fielen zu Boden. Denen waren die Scheiben wohl auch zu dreckig.
Ein Spaziergang, dachte ich, dass wäre das Richtige an diesem 2.Advent. Einmal rund um den See, das dauerte höchstens 40 Minuten.
Vielleicht konnte ich dort den Schlittschuhläufern zuschauen.
Hannes, der Schuster von nebenan, war auch manchmal dort.
Auch er war einsam, seit seine Mutter gestorben war. Verheiratet war der nie.
Ein Gespräch unter Männern führen. Oft zwar nur dämliches Gequatsche über nicht gestreute Wege und streunende Katzen, doch immer noch besser, als hier zu sitzen und Trübsal zu blasen.
Ich streifte mir den Mantel über, zog die Mütze weit über die Ohren und betrachtete die verfilzten Handschuhe. Egal, Hauptsache warm.
Ob ich meine Schlittschuhe vorkramen sollte? Mit Gerda war ich immer ins Stadion gefahren und hatte dort ein paar Runden gedreht. Sie konnte Pirouetten drehen und ich war immer ganz stolz auf meine Süße gewesen, wie graziös sie über das Eis glitt.
Ja, warum eigentlich nicht.
Beim Anblick meiner Schlittschuhe musste ich schlucken. Ordentlich standen sie neben Gerdas im untersten Regal der Kammer.
Schnell ergriff ich die Schuhe und stapfte hinaus in den Schnee.
Es waren nur wenige Minuten bis zum See.
Ich winkte den Läufern zu und rief: „Trägt es?“
„Siehste doch, oder?“ bekam ich zur Antwort. War wirklich ne blöde Frage von mir.
Hannes hatte mich wohl auch gehört und winkte mir mit seiner Pulle zu.
„Was haste heute drin?“ wollte ich wissen und begann, mir die Schuhe zu schnüren. „Biste blöde, Alfred, da kannste doch nicht drauf. Du mit deinen 138 Kilo, das hält das Eis nich aus. Am Ende brichste ein oder dir en Bein“, gab der Blödmann mir zur Antwort. „Wollt ich das wissen? Wenn ich gleich zurück komme, gibst de einen aus. Also, was hast du in der Pulle?“
„Rum mit nem Schuss Cola is drin.“
Ein bissl wackelig auf den Beinen war ich schon. Vorsichtig trat ich auf das Eis, schob meinen massigen Körper voran. Musste schon ein wenig mit den Armen fuchteln, um mein Gleichgewicht zu halten.
Ging ganz gut und schon bald fühlte ich mich leicht wie eine Feder, die über dem Eis schwebte. Was für ein Vergleich!
„Hannes, es fühlt sich so gut an“, schrie ich meinem Kumpel zu.
Ich drehte meine Runden, zuerst zaghaft, doch mit der Zeit wurde ich immer mutiger.
Über mir ein glasklarer Himmel und Vollmond.
Ein wunderbar warmes Gefühl durchdrang meinen Körper. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so wohl gefühlt.
Von Ferne drangen Rufe an mein Ohr, doch ich ignorierte sie.
Ein leises Knacken, Knirschen ließ mich aufhorchen.
Was nicht sein darf, kann nicht sein!
Oder doch?
Voller Angst und Verzweiflung stieß ich einen gellenden Schrei aus. Das Eis barst unter den Kufen.
Eisiges Wasser hüllte mich ein und nahm mir sofort den Atem.
Mein Körper glitt schwerelos in die glasklare Stille.
Ich wehrte mich nicht.
War das mein Schicksal?
Sollte so mein Leben enden?
Noch hielt ich die Luft an.
Wie lange noch?
Ich spürte, wie mein Geist sich von meinem Körper abwandte, wie eine Leichtigkeit von mir Besitz ergriff.
Wie von Ferne nahm ich Stimmen wahr, doch ich wusste, meine Kraft würde nicht mehr reichen. Ich würde es nicht an die Oberfläche schaffen.
Vor meinen Augen tanzten tausende von Sternen und trotz des eisigen Wassers, das langsam meine Lungen füllte, hatte ich keine Angst.
Leise schlich ich mich davon.

(c) 2010 sissi kallinger



vampire70






Wunder gescheh'n …



Herr Ericson arbeitete schon seit 25 Jahren in der Spielzeugfirma Kinderträume.
Nur hier hatte er dank seinem Talent und Gespür für Kinderträume einen Job gefunden. Hier saß er jeden Tag außer Sonntag und Montag hinter verschlossener Türe und erfand neue Kinderträume und keinen störte sein Anblick. Ericson liebte seinen Job und die Vorstellung an lachende Kinderaugen ließ ihn immer wieder lächeln.

Ericson hatte vor 26 Jahren einen Unfall, der sein Gesicht grausam entstellt hatte, die Leute wendeten sich angewidert ab oder schauten ihn mitleidig an. Doch jeden 6. Dezember verkleidetet sich Ericson und brachte als Nikolaus die alten Spielzeuge aus der Fabrik den armen Kindern im Waisenheim. Er genoss diesen kurzen Augenblick, wo sich die Kinder freuten, als er kam und ihn ohne Scheu küssten.
Doch alles änderte sich, als die Firma gewinnbringend an ein japanisches Konsortium verkauft wurde.

Dieses Konsortium befand die Tradition, alte Spielzeuge zu sammeln und am 6. Dezember den Kindern des Waisenhauses zu schenken, als eine unnötige Zeitverschwendung. Doch Ericson wollte das nicht und nach einer langen Nacht beschloss er, jeden Tag ein altes Spielzeug einfach mitzunehmen. Jeden Abend verließ er die Firma als Letzter und nahm ein Spielzeug mit. Alles schien gut zu gehen, bis man seine Nachtklauerei entdeckte und ihn fristlos entließ.

Seine Arbeitskollegen verstanden nicht, warum er es getan hatte. Doch eines Morgens, als sie zur Arbeit liefen, begegneten ihnen die Waisenkinder. Drei liefen zu ihnen und bedankten sich für die tollen Spielzeuge vom letzten Jahr. Die Männer schauten sich an, lächelten und sie verstanden.

Heute war der 6. Dezember und Ericson weinte traurig vor sich hin und streichelte dabei einsam seine Katze … Weinend betete er zum Himmel: " Engel, wenn ihr mich hört, lasst ein Wunder gescheh'n. Nicht einem Krüppel zu liebe, sondern den Kindern zu liebe."

Doch war da nicht ein Klingeln? Missmutig öffnete er die Türe und erschrak, vor ihm standen seine ehemaligen Mitarbeiter, jeder mit einem kleinen Geschenk in der Hand. Ericson begann zu weinen, aber diesmal vor lauter Freude. " Los Ericson, zieh dich an, die Kinder erwarten dich schon …"

Das ließ sich Ericson nicht zweimal sagen, schnell zog er sich an . Alle zusammen liefen sie los zum Waisenhaus. Dort wurden sie freudestrahlend von den Kindern empfangen und allen liefen vor Rührung die Tränen runter … und sie beschlossen jeden 6. Dezember hierher zu kommen. Alle hielten sich die Hände und Ericson wusste jetzt war er nie mehr allein.

Nur Ericson bemerkte den Engel, der leise zurück in den Himmel flog, und dankbar nickte er ihm zu.

(c) vampire70





hammerin






Der 7. Dezember.



Heute darf das 7. Türchen geöffnet werden.
Solange ich denken kann, gab es in der vorweihnachtlichen Zeit Adventskalender, und sie sind in der Adventszeit nicht mehr wegzudenken.
Aber seit wann und wieso gibt es sie eigentlich?
Ich habe mich ein wenig schlau gemacht.
Die eigentlichen Ursprünge lassen sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Und zwar kommen die ersten Formen aus dem protestantischen Umfeld.
So wurden in religiösen Familien im Dezember 24 Bilder nach und nach an die Wand gehängt. Oder es gab einen so genannten Strichkalender, d. h. es wurden 24 Kreidestriche an die Wand gemalt, von denen die Kinder täglich einen wegwischen durften.
Die wohl früheste Form eines selbstgebastelten Adventskalenders stammt aus dem Jahre 1851. Der erste gedruckte Adventskalender wurde 1902 in Hamburg veröffentlicht.
Seit 1920 erschienen die ersten Adventskalender mit Türchen zum Öffnen auf dem Markt, so wie wir sie heute kennen.
Der 2. Weltkrieg setzte dem Höhenflug des Adventskalenders ein jähes Ende. Der Grund hierfür war die Knappheit des Papiers und das Verbot, Bildkalender herzustellen. Erst in der Nachkriegszeit konnte der Adventskalender an seinem Erfolg anknüpfen.
Bereits im Jahre 1958 gab es mit Schokolade gefüllte Adventskalender.
Heute sind der Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt. Meine Kinder hatten noch Kalender mit Schokolade gefüllt. Für die Enkelkinder wird eine lange Leine gespannt, an welcher lauter kleine Päckchen hängen, gefüllt mit allerlei kleinen Köstlichkeiten.
Tochter und Enkelkinder haben vor ein paar Jahren für uns eine Advents-CD aufgenommen mit 24 verschiedenen Gedichten, selbst gesungenen Liedern, erzählten Geschichten und Klavier- und Flötenspiel. Mein Mann und ich haben uns jeden Morgen beim Frühstück einen Beitrag angehört. Das war für uns ein Adventskalender der besonderen Art.
Ich selbst, obwohl schon so alt, habe einen Adventskalender gefüllt mit Trüffel-Pralinen. Man gönnt sich ja sonst nichts! Die Redaktion unserer Tageszeitung verkauft jedes Jahr Kalender, deren Erlös einem guten Zweck dienen. Die Kalender haben eine Nummer, und hinter jedem Fenster oder Türchen sind die Nummern aufgeführt, die etwas gewonnen haben. Jeden Morgen kann man in der Zeitung nachlesen, ob die eigene Nummer dabei ist. Es gibt wertvolle Preise zu gewinnen, angefangen mit einem Restaurantessen bis hin zu einer Reise.
Ich kaufe diesen Kalender jedes Jahr und bin bis zum 24. gespannt, ob ich zu den Gewinnern zähle, doch bis jetzt ohne Erfolg. Aber das Ganze dient ja einem guten Zweck.

Folgende historische Ereignisse fanden an einem 7. Dezember statt:
.
Am 7. Dezember 1835 nahm die erste deutsche Eisenbahnlinie zwischen Fürth und Nürnberg ihren Betrieb auf.
1917 am 7. Dezember erklärten die USA Österreich-Ungarn den Krieg.
1941 tritt Japan in den zweiten Weltkrieg ein und greift die amerikanische Pazifikflotte in Pearl Harbor auf Hawaii an.
1970 gab es den Kniefall von Willy Brandt zu Ehren der Opfer der Nationalsozialisten im ehemaligen Warschauer Ghetto.
1972 machten sich zum letzten Mal Menschen mit Apollo 17 auf den Weg zum Mond.
1989 berät der „Runde Tisch" zum ersten Mal über die Zukunft der DDR.
Übrigens Advent heißt Ankunft.
Das reicht für den 7. Dezember. Ich habe mein Türchen bereits geöffnet und lasse mir jetzt die Trüffel-Praline schmecken.

(c) hammerin





Monirapunzel und Klärchen






Gespräche unter Freundinnen




Es gibt auch Wunder

Die ersten Laufschuhe meiner Tochter hatte ich aufbewahrt, dunkelrote aus Leder, an einem Bändchen aufgehängt in meinem Arbeitszimmer.

Meine Schwester hat ihre eigenen Kinderschühchen im Wohnzimmer aufgehängt.

Eines Tages kam unsere Tochter zu Besuch, druckste rum und strahlte über das ganze Gesicht. Sie holte etwas hinter ihrem Rücken hervor und es baumelten ihre Schühchen vor unserer Nase. Am 19. Dezember sollte ein Baby kommen.

Ich kann mir ihr Strahlen vorstellen und ich weiß wie du dich da gefühlt hast. Eine unbeschreibliche Freude.

Ja, du bist immer so mitfühlend und kannst dich in mich hineinversetzen? Warum hast du keine Kinder? Ich mochte nie fragen, weil ich dachte ich verletze dich vielleicht mit der Frage nach Kindern. Manche mögen nicht darüber reden.

Erzähle erst weiter, mich interessiert das sehr.

Unsere Tochter war zwei Jahre verheiratet und insgeheim hatten wir schon auf so eine Nachricht gewartet. Nun sollte alles in Erfüllung gehen. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk konnten wir uns nicht vorstellen. Die ersten Schwangerschaftsmonate verliefen ganz normal, unserer Tochter ging es gut. Sie hatte sich einen Frauenarzt ausgesucht den ihre Freundinnen empfohlen hatten. An jedem Vorsorgetag wurde ein Ultraschall gemacht. Mich wunderte das ein wenig, so oft, das kannte ich nicht. Einmal nahm sie mich mit und ich konnte das Kind auf dem Bildschirm sehen, der Daumen im Mund, aber das Geschlecht wollten wir nicht wissen, auch die Eltern nicht. Unsere Tochter wollte ihr Kind in einem Geburtshaus zur Welt bringen, meine Bedenken, falls etwas schief ginge, lieber ins Krankenhaus zu gehen, legte sie beiseite.
Sie war noch voll berufstätig. Mir fiel ihre Blässe und Müdigkeit auf, aber das ist bei einer Schwangerschaft nicht unnormal.

Wirklich nicht? Du bist so aufgeregt! Was ist dann passiert?

Es war die 29.Woche der Schwangerschaft, ein ganz normaler Tag. Unsere Tochter ging zur Arbeit und ich mit meinem Mann Einkäufe tätigen. Nachmittags um 17 Uhr kamen wir nach Hause, der Anrufbeantworter blinkte. Ich hatte zwar mein Handy zum Einkaufen mit genommen, doch es war abgeschaltet. Unsere Tochter hatte angerufen und versucht uns zu erreichen. „Mama, mir geht es nicht gut, ich muss sofort ins Krankenhaus“.
Mein Schwiegersohn hatte die Fahrt dorthin übernommen, etwa 20 km nach Bremen ins Klinikum.
Wir hatten inzwischen alles versucht herauszubekommen, wo sie war, auch die Schwiegereltern wussten nichts. So konnten wir nur voller Sorge abwarten, dass sich unser Schwiegersohn meldete. Ich heulte und ärgerte mich, dass ich das Handy nicht angeschaltet und meine Tochter mich nicht erreichen konnte. Ich wäre so gern für sie dagewesen

Oh je, solche Situationen sind schrecklich. Ich hätte mir auch Vorwürfe gemacht.

Inzwischen war es 20.15 Uhr. Das Telefon klingelte. Unser Schwiegersohn war am Apparat, „Ihr seid Großeltern geworden von einem Jungen, er heißt Cedric“.
Mehr konnte er uns noch nicht sagen, das Kind wurde versorgt und kam in den Inkubator. Es war der 2. Oktober 1997.
Dave und ich lagen uns in den Armen und weinten beide, vor Schreck und Glück.
Viel zu früh kam er auf die Welt, 10 Wochen, innerhalb von einer viertel Stunde war er da. Der „Kleine“ war schon recht lang, 40 cm und wog 1300 g. Das Wichtigste, er brauchte nur kurz beatmet werden, seine Lungen arbeiteten schon recht gut. Für die jungen Eltern war der Schock über die schnelle Geburt und die Sorge groß, dass der Junge Schäden behalten würde.

Wie hast du das bloß ausgehalten? Zuerst die Freude und dann solche Sorgen!

Es dauerte einige Zeit, bis wir endlich unseren Enkel sehen konnten. Am 8. Dezember kamen Mutter und Sohn nach Hause. Sie umsorgten den kleinen Mann und taten alles um irgendwelche Defizite auszugleichen. Heute sind die Ängste von damals fast vergessen. Es ist 13 Jahre her und der „Kleine“ überragt seine Schulfreunde um Kopflänge. Er ist kerngesund, geht zum Gymnasium und ist sehr sprachbegabt.

Wie schön! Der liebe Gott hat es gut mit euch gemeint. Da gibt es so viele Vorsorgeuntersuchungen und dann so etwas.

Die Frühgeburt wurde durch eine Schwangerschaftsdiabetes ausgelöst, die der Frauenarzt nicht festgestellt hatte, einfach Nachlässigkeit. Zwar wurde viel Ultraschall aber kaum Blutuntersuchungen gemacht. Wir sind dankbar und glücklich, dass wir einen so tollen Jungen haben. Jedes Jahr in der Adventszeit und am 19. Dezember denken wir an unser schönstes Weihnachtsgeschenk.
Es gibt auch das Gegenteil, alles geht nicht gut aus.

Ja, es geht nicht immer gut aus. Weißt du eigentlich, dass heute Maria Empfängnis ist?
Zu meiner Schulzeit war das noch ein Feiertag.

Ach ja, stimmt, daran habe ich nicht gedacht. Aber was ist denn los? Du klingst so traurig?
Dir geht es nicht gut. Ich habe das Gefühl etwas bedrückt dich sehr nach meiner Erzählung.

Eigentlich ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden. Du bist gerade so schön in deine Erinnerungen versunken. Du bist so dankbar und dein Herz ist voller Freude.

Ja, ich freue mich, und weiß es zu schätzen, dass alles gut ging.
Komm schon, erzähle was dich bedrückt. Ich höre Dir gerne zu.

Soll ich wirklich?
Tja, also, mein Kind wäre jetzt im Dezember 25 Jahre alt geworden.


Was …, du hattest ein Kind? Davon hast du nie erzählt? Ich habe mich schon immer gewundert, warum ihr keine Kinder habt.
Ich habe es verloren. Ich hatte eine Fehlgeburt.

Mein Gott, und du hast nie was gesagt, und ich erzähle von unserem Cedric.
Das tut mir schrecklich leid. Was ist denn nur passiert?

Eigentlich wollte ich nie Kinder. Mein Leben war schon schwierig genug. Dann bin ich trotz Spirale schwanger geworden. Zuerst war es ein Schock und dann habe ich mich wahnsinnig gefreut. Der liebe Gott hatte es wohl doch gut mit mir gemeint, dachte ich damals.
Aber ich musste operiert werden. 14 Tage lang habe ich gebangt und gezittert und gebetet. Die Zeit in der Klinik war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Ich habe da so viele Frauen leiden sehen.
Es war ganz schrecklich. Aber ich habe bis zuletzt gehofft, dass alles gut wird.
Leider war die Hoffnung vergebens. Ich hatte starke Krämpfe und habe mein Baby verloren.

Du Arme! Nun verstehe ich auch deine Traurigkeit wenn du Kinder siehst. Ich kenne viele, die auch mehrere Fehlgeburten hatten. Aber sie haben es dann noch mal versucht und manchmal hat es geklappt.
Trotzdem finde ich das schlimm, was Du durchmachen musstest.
Es war so für Euch bestimmt. So ist auch für dich die Adventszeit ein Erinnern, wie bei mir, aber eben eine wehmütige Erinnerung.
Lasse Dich umarmen, meine Liebe, ich fühle so sehr mit Dir.

Ich habe es als Schicksal gesehen. Es sollte nicht sein. Der liebe Gott hatte sich geirrt.
Wer weiß schon, was er sich dabei gedacht hat? Es gibt so viele kranke und behinderte Kinder und auch immer wieder kleine Wunder.

(c) Monirapunzel und Klärchen


lorina







Alwine und Hermann



An das Weihnachtsfest vor 25 Jahren kann ich mich noch gut erinnern, als ob es erst gestern gewesen wäre. Ich war damals überzeugter Single und durch meinen Schichtdienst auch an Feiertagen selten zu Hause. Meistens übernahm ich an solchen Tagen die Dienste der älteren Kollegen, die mit ihrer Familie gerne feiern wollten. Ich war sowieso allein und hatte für Weihnachten, Ostern etc. nicht viel übrig. Außerdem war die Feiertagszulage nicht zu verachten.
In diesem Jahr vor 25 Jahren also hatte ich an Heiligabend Frühdienst und langweilte mich schon nach dem Schmücken des Tannenbaumes. Der Fernseher lief mehr nebenbei, als dass mich das Programm interessierte; ich stand auf dem Balkon meiner Wohnung im zweiten Stockwerk und blickte in die hereinbrechende Dämmerung.
Zu Weihnachten hatte ich mir wenigstens Schnee gewünscht, in meiner Kindheit war Schnee um diese Jahreszeit selbstverständlich.
Schräg gegenüber unseres Acht-Parteien-Blocks stand die feierlich erleuchtete Kirche, deren Glocken den Nachmittagsgottesdienst einläuteten. Familien mit Kindern, ältere Leute, aber auch Jüngere wie ich strömten erwartungsfroh in das Innere des Gotteshauses.
Als kleines Mädchen war auch ich mit meinen längst verstorbenen Großeltern jedes Jahr in die Christmesse gegangen und fand beim Heimkommen die Geschenke unter dem Tannebaum vor. Ja, ja, gute, alte Kindheit, sie lag weit zurück. Warum musste ich ausgerechnet in diesem Jahr so intensiv daran denken und auch noch sentimental werden?
Bei mir gab es weder selbstgebackene Plätzchen noch Geschenke unter dem Baum. Naja, wenigstens hatte ich eine hübsch geschmückte, echte Tanne, das war stets Pflicht!
Während die Glocken noch immer läuteten, beschloss ich nach vielen Jahren mal wieder in die Kirche zu gehen.
Draußen roch es nach Schnee, vielleicht würde es ja diesmal weiße Weihnachten geben?
Vor dem Kirchportal stand eine Bank auf welcher eine alte Frau in einem abgegriffenem Wintermantel saß, den Blick starr auf ihre fellbesetzten Stiefel gerichtet. Im Vorbeigehen hörte ich, wie sie mit sich selbst sprach und schmunzelte bei dem Gedanken im späten Alter Selbstgespräche zu führen.
Sie kam als letzte Person in die Kirche und setzte sich in die hintere Reihe - dort, wo auch ich Platz genommen hatte.
Wie jedes Jahr war auch heute unsere kleine Kirche rappelvoll bis auf den letzten Platz besetzt. Die weihnachtliche Stimmung drückte nicht nur mir auf's Gemüt.
Ab und zu riskierte ich einen Seitenblick auf meine Nachbarin, die so bewegungslos in sich zusammengesunken war, als ob sie schliefe.
Ich lauschte weiter der sonoren Stimme des Pastors und bemerkte erst am Ende der Messe, dass der Platz neben mir leer war. Seltsam, dass ich das Hinausgehen der alten Dame nicht bemerkt hatte. Irgendwie erleichtert musste ich lächeln, als ich sie wieder auf der Bank vor der Kirche sitzen sah. Unschlüssig, ob ich ihr Gesellschaft leisten sollte, blieb ich auf gleicher Höhe bei ihr stehen und schaute in den sternenlosen Himmel. "Ja, Hermann", hörte ich sie murmeln, "wir bekommen bestimmt heute noch Schnee. Es wird endlich wieder weiße Weihnachten werden!"
Hermann? Wer war Hermann? Hatte sie einen Hund bei sich - oder eine Katze? Nein.
Nachdenklich stieg ich die Treppen zu meiner Wohnung hoch, schaltete die Christbaumkerzen und die bunte Lichterkette an meinem Wohnzimmerfenster ein und stellte mich auf den Balkon. Ob die Frau wohl noch da unten saß? Die Kirchengänger waren längst zu Hause und machten Bescherung, während die alte Frau noch immer auf der kalten Bank wartete. Warten - auf wen? Bei ihrem Anblick kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht an diesem Heiligabend genauso allein war wie ich. Spontan zog ich meine Stiefel und Jacke wieder an und rannte aus dem Haus. Das Wetter hatte umgeschlagen, ein eisiger Wind begleitete meinen Weg zu der einsam Dasitzenden und glitzernde Schneeflocken tanzten um mich herum. Ich setzte mich mit einem Abendgruß neben sie. Sie hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Mit einem freundlichen Lächeln erwiderte sie meinen Gruß, blickte wehmütig zum Himmel hinauf und ein wahres Schneegestöber setzte plötzlich ein.
"Siehst du, Hermann, ich hatte Recht, es schneit", freute sie sich. Ich fragte, wer Hermann sei.
"Hermann war mein Mann, er ist vor zwei Monaten verstorben. Fast sechzig Jahre waren wir verheiratet, nun bin ich an Weihnachten das erste Jahr nach langer Zeit ohne ihn."
Inzwischen war es hier draußen ziemlich ungemütlich geworden, doch es hatte den Anschein, als ob gerade dieser Schnee ihr so richtig gefiel. Sie freute sich wie ein kleines Kind.
Ob sie denn mitkommen wolle in meine Wohnung, fragte ich schüchtern, dann wären wir beide nicht allein. Sie schien zu überlegen, so ein Angebot kam sicher selten. "Und vielleicht könnten Sie mir mehr von Hermann erzählen..."
So kam es, dass wir noch Stunden später in meinem warmen Wohnzimmer beisammen saßen und plauderten. Ich hatte Tee gekocht, Lebkuchenherzen und danach belegte Brote hingestellt - eine Tiefkühlpizza fand ich denn doch unpassend. Aus dem Fernsehgerät erklang Weihnachtsmusik, während Alwine - so hatte sie sich vorgestellt - mit Begeisterung von ihrem Hermann erzählte.
Wie sie mit 25, er mit 30 Jahren heirateten und sechs Jahre auf ihr erstes Kind, einen Jungen, warten mussten, der dann mit knapp 2 Jahren an Masern starb. Die Ehe blieb daraufhin kinderlos. Sie berichtete von den Kriegsjahren, wie sie um ihren Mann bangte. Vom Aufbau ihres zerstörten Heimatortes bis zum Bau des eigenen Häuschens. Und wie ihr Hermann den Schnee liebte und es still bedauerte, nicht mit seinem Söhnchen durch die Winterlandschaft zu toben. Nein, er klagte nie, aber sie sah seine traurigen Augen, wenn andere Familien mit ihren Kindern vorbei gingen. Das machte ihr sehr zu schaffen, aber der liebe Gott wollte wohl nicht, dass ihnen noch einmal ein Kindelein geschenkt wurde. Da wurden nicht nur ihre Augen feucht.
Nun seien sie fast alle tot, ihre Freunde und Bekannten aus gemeinsamen Tagen, das wäre schon ein Leid, gab sie zu. Manchmal wünschte sie sich, abends einzuschlafen und morgens nicht mehr aufzuwachen. Aber dann schien die Sonne in ihr Schlafzimmer, sie schaue das Bild ihres Hermanns auf dem Nachtschrank an und meinte, seine Stimme zu hören, dass ihre Zeit noch nicht gekommen sei.
Irgendwann war Alwine in meinem Schaukelstuhl eingenickt und ich breitete eine Decke über ihre Beine aus. Dabei fiel das Hochzeitsfoto von ihr und Hermann aus ihren runzeligen Händen. Sie trug es in ihrer Handtasche immer bei sich. Das musste die große Liebe sein, noch über den Tod hinaus. Meine Kehle schnürte sich zu.
Es war dann schon spät, als sie erwachte und nach Hause gehen wollte. Natürlich begleitete ich sie, denn es war sehr glatt.
Ich besuchte sie so oft es mir möglich war in ihrem kleinen, sehr gemütlichen Häuschen am Waldesrand und sie erzählte unermüdlich immer neue Begebenheiten aus ihrem ereignisreichen Leben. Eine Gemeindeschwester kam einmal die Woche zu ihr. Von ihr erfuhr ich auch, ein Jahr nach unserem Kennenlernen, dass sie Alwine eines Morgens - es war eine Woche vor Weihnachten - tot in ihrem Bett aufgefunden habe.
Sie war endlich bei ihrem Hermann, ihr Alleinsein war beendet. So einsam, wie sie nach dem Tode ihres Mannes lebte, so einsam war sie gestorben und so einsam wurde sie zu Grabe getragen. Außer dem Pastor, der Gemeindeschwester, einer älteren Nachbarin und mir kam niemand zur Beerdigung.
Ich war sehr traurig, dass Alwine nun nicht mehr lebte, aber auch froh, denn jetzt würde sie bei ihrem geliebten Hermann gut aufgehoben sein.
Und ich schaue oft in den Himmel, wie sie es tat, und glaube, dass sie auf mich herunterblickt.
Noch heute besuche ich manchmal das Grab, welches sie nun mit Hermann teilt und denke mit Wehmut an eine liebenswerte, alte Dame und ihre wundervollen Erinnerungen zurück.
Es waren einmal .... Alwine und Hermann.
Eine Liebe für die Ewigkeit!

(c) Lorina Seiler


lacrime






Der Stern der Liebe.



Die siebenjährige Lina war sehr traurig.
Schon seit Wochen schien die Liebe aus ihrem Elternhaus ausgezogen zu sein.
Papa war arbeitslos geworden und kam damit nicht zurecht.
Er hatte kein liebes Wort mehr für sie und ihre Mama.
Selbst Weihnachten, so hatte er verkündigt, würde dieses Jahr ausfallen.
Mit Tränen in den Augen stapfte Lina im tiefen Schnee zu ihrer Oma.
Sie erzählte von ihren Ängsten, von ihrem veränderten Papa und von dem Weihnachtsfest, das nicht stattfinden sollte.
Oma beruhigte Lina, indem sie ihr erklärte, dass der Papa einfach große Sorgen hätte
und er es bestimmt nicht so meinte. Er würde sich nur schämen, weil er seiner kleinen Lina kein Geschenk zum Feste geben konnte.
"Aber Oma", sagte Lina, "Weihnachten ist doch das Fest der Liebe und nicht der Geschenke,
alles was ich möchte, ist einen schönen Weihnachtsbaum und wieder soviel lachen wie früher."
Oma sagte daraufhin zu Lina: "Ja, wenn das so ist, mein Schatz, dann geh mal in die kleine Kapelle, zünde ein Lichtlein für deinen Papa an und wünsche dir ein liebevolles Weihnachtsfest. Du weißt doch: Nur wer felsenfesten Glauben in sich trägt, dem werden auch Wünsche erfüllt."
Ein Strahlen ging über Linas Gesicht: "Und ob ich glauben kann", sagte sie und war schon aus der Tür.
In der kleinen Kapelle am Waldrand angekommen, putzte sich Lina erst mal ihre von der Kälte rotgewordene Nase. Mutig ging sie durch die große schwere Tür und vor zum Altar. Fasziniert schaute sie auf das Bildnis der Maria.
Es schien, als würde sie Lina anlächeln. Lina lächelte tapfer zurück und fragte Maria, ob sie ihr helfen könne, dass der Papa für ihre Familie ein schönes Weihnachtsfest zaubern würde.
Plötzlich hörte Lina von der Empore eine herrliche, kraftvolle Stimme.
"Lina", sagte die Stimme, "öffne am Heiligen Abend dein Fenster, ich werde dir einen sehr kostbaren Stern senden, den man bei uns den Stern der Liebe nennt. Lass ihn hinein und glaube nur...."
Fröhlich ging Lina nach Hause und freute sich aus ganzem Herzen auf den Heiligen Abend.
Als es soweit war, ging sie in ihr Zimmer, öffnete das Fenster und wartete geduldig auf den Stern der Liebe.
Sie dachte noch so bei sich, im Wohnzimmer scheint sich nichts zu tun, es wird wohl keinen Christbaum geben dieses Jahr.
Aber das war ihr jetzt auch egal, denn die verloren gegangene Liebe war ihr wichtiger, als der schönste Christbaum oder das tollste Geschenk.
In ihre Gedanken klang plötzlich ein wundersamer Glockenklang.
Ein herrlicher Lichtstrahl erhellte ihr Zimmer und ein Stern, der die schönste Wärme ausstrahlte, begehrte Einlass.
Lina war so verzückt, dass sie nicht daran dachte, ihn herein zu bitten.
Erst beim zweiten Versuch schien sie wieder bei sich zu sein.
Der Stern schwebte langsam Richtung Tür und war plötzlich verschwunden.
Dann hörte Lina wiederum den herrlichen Glockenklang.
Sie öffnete die Augen und stellte entsetzt fest, dass sie geschlafen hatte.
Sie eilte ins Wohnzimmer, um ihrer Mama den schönen Traum zu erzählen und blieb wie angewurzelt stehen.
Ein wunderschöner Christbaum schmückte das Zimmer, Kerzen tauchten den Raum in zauberhaften Lichterglanz. Ihr Stern schien über dem Haupt ihres Papas zu strahlen.
Es gab sogar Geschenke für die kleine Lina.....und ihre Oma saß mit einem geheimnisvollen Lächeln am Kamin.......

(c) lacrime



carthey






Weihnachtliche Liebe



Der helle Vollmond stand in seiner vollen Pracht am dunklen Dezemberhimmel. Zwischen den vielen Sternen schien er gerade am heutigen Abend besonders heraus zu scheinen. Miriam stapfte durch den dicken Schnee nach Hause. In welchen Straßen sie auch war, überall leuchtete und glitzerte es in den schönsten weihnachtlichen Farben.
Während sie sich umblickte, wanderten ihre Gedanken von allein zu dem bevorstehenden Hochfest. Ob sie am Wochenende den Weihnachtsbaum holen würden? Das war sowieso das Schönste an Weihnachten, fand sie und lächelte. Die Hände tief in den Taschen vergraben, bog sie in die Straße ein, in der sie mit ihrer Familie wohnte.
Das Haus war, auch wenn der weiße Schnee ihre Sicht zum größten Teil beeinträchtigte, leicht zu erkennen. An jedem Fenster war eine gelb leuchtende weihnachtliche Lichterkette angebracht. Ebenso am Giebel und an der Haustür. Wärme machte sich in ihr breit, als sie vor dem Haus stand. Mit kalten Händen, die auch in den Taschen nicht wärmer geworden waren, schloss sie die Tür auf und wurde von dem hechelnden Toni empfangen. Toni war der Beagle, den sie vor ein paar Jahren zu Weihnachten bekommen hatte. Glücklich kniete Miriam sich zu ihm runter und strich ihm über das weiche Fell. Sie konnte sich stundenlang mit dem kleinen Hund beschäftigen. Als sie sich nach ein paar Minuten wieder aufrichtete, befreite sie sich von dem nassen Mantel, dem Schal und der Mütze. Auch die Stiefel nahmen an der Garderobe wieder ihren Platz ein. Erst als sie die nassen Sachen alle zum Trocknen hin gehängt hatte, ging sie ins Wohnzimmer. Dort saß ihre Mutter vor dem brennenden Kamin und war in ein Buch vertieft.
„Mum, ich bin wieder da.“, sagte Miriam und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie zuckte zurück. Miriam aber lächelte. Sie hatte es gewusst.
„Bist du aber kalt.“
Ihre Mutter schaute sie an. Zärtlichkeit und Liebe lag in ihrem Blick. Ihre Augen musterten sie von oben bis unten.
Zu allererst blieben sie an ihren nassen Haaren hängen. Ein paar Sekunden später an ihren Füßen. Miriam hatte die Strümpfe ebenfalls ausgezogen und stand nun barfuß auf den kalten Fliesen.
„Geh erst mal deine Haare föhnen. Dann kommst du wieder und ich gebe dir ein paar selbstgestrickte Wollstrümpfe.“ Noch so eine Sache, die Miriam liebte: selbstgemachte Wollstrümpfe. Für sie waren diese auch ein Zeichen der Weihnachtszeit.
Das Mädchen nickte ihrer Mutter zu und ging hinüber ins Bad.
Als sie kurze Zeit später mit dem Föhnen fertig war, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und streifte sich die warmen, trockenen Strümpfe über die kalten Füße.
„Danke, Mama.“
Monika, so hieß ihre Mutter, grinste und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Miriam hatte sich auf das Sofa gesetzt und beugte sich wieder runter zu ihrem kleinen Beagle, der ihr überall hin folgte. Sie kraulte ihn hinter den weichen Ohren.
„Das magst du gerne, was Toni?“, murmelte das Mädchen fragend und ihre Stimme klang sanft.
Toni schien ihre Worte verstanden zu haben und blickte sie durch seine großen Hundeaugen an.
„Du musst gleich noch mit ihm raus, Miriam.“
„Ich weiß. Aber ich warte, bis es weniger heftig schneit.“
Miriams schaute kurz aus dem Fenster in die Dunkelheit. Es schneite immer noch so heftig. Dann wandte sie sich wieder Toni zu und kraulte ihn weiter.
Monika sah ihre Tochter einen Moment lang liebevoll an und erfreute sich an dem Bild, das sich ihr bot. Vor ihr saß ihre sechzehnjährige Tochter und streichelte ihren kleinen Beagle. Kein seltenes Bild.
Mit einem Lächeln im Gesicht wandte sie sich wieder ihrem Buch zu. Doch sie konnte sich nicht so recht darauf konzentrieren. Immer wieder glitt ihr Blick über die vertraute Zweisamkeit der beiden.
„Wann kommt Papa von der Arbeit nach Hause?“, fragte Miriam in die Stille hinein.
Monika schaute auf die Uhr an der Wand ihr gegenüber.
„In einer halben Stunde, wenn es nicht zu glatt da draußen ist.“
Miriam lächelte.
„Gehen wir am Wochenende den Weihnachtsbaum kaufen? In ein paar Tagen ist schließlich schon Weihnachten.“
„Mal schauen.“
Wieder ein beruhigendes Nicken. Miriam sah einen Moment aus dem Fenster.
Es schien, als würde es weniger heftig schneien.
„Mama, ich geh jetzt eben mit Toni eine Runde um den Block.“, sagte Miriam, als sie ihren Blick von dem Schneefall draußen hinter der Fensterscheibe gelöst hatte.
„Mach das, bis Papa nach Hause kommt dauert es ja noch etwas.“
Miriam stand vom Sofa auf. Sie zog sich die nassen Sachen wieder an. Den Mantel, die Handschuhe, die Stiefel und die Mütze. Sie hatte alles. Oder nein. Die Hundeleine fehlte noch. Toni kam mit wedelndem Schwanz und der Hundeleine in der Schnauze auf sie zu und blieb stehen.
„Fein!“, lobte Miriam ihren kleinen Beagle, tätschelte ihm leicht den Kopf und hakte dann die Leine im Halsband ein.

Kaum waren sie ein paar Minuten später aus dem Haus, versenkte Toni seine Schnauze im dem vom Schnee bedeckten Blumenkübel. Mit weißem Maul hob Toni seinen Kopf und lief auf den Bürgersteig vor dem Haus.
Grinsend lief Miriam hinter ihm her und ließ ihrem kleinen Liebling mehr Freiraum an der Leine. Schließlich war hier abends nur selten Verkehr.
Ein paar Minuten später bog sie durch das Tor in den verschneiten Park ein. Sie löste die Leine von seinem Halsband. Toni ließ sie nun vollends laufen. Er würde immer zu ihr zurückkehren. Auch heute Abend würde er wieder zu ihr laufen, dachte Miriam und lief ihrem Hund in einigem Abstand hinterher. Als sie ihn später bei einem Fremden entdeckte, erschrak sie. Angst keimte in ihr auf. Sie sah dem Fremden einen Moment lang zu, wie er mit ihrem Toni umging. Die Art, wie er ihm mit den Handschuhen über das Fell strich, gefiel ihr. Er war ihr sympathisch, auch wenn er ihr fremd war. Das war das, was ihr Gefühl ihr sagte.
Mit langsamen Schritten ging Miriam auf den Fremden zu. Zwei Meter vor ihm blieb sie stehen. Der Mann vor ihr zog seine Kapuze vom Kopf. Zum Vorschein kam der Kopf eines Jungen in ihrem Alter. Das schätzte sie zumindest.
„Hallo, ich bin Mark.“
„Hey, ich bin Miriam.“
Sie zogen sich die Handschuhe aus und gaben sich die Hände. Ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken, als Marks und ihre Hand sich berührten.
Minutenlang schienen sie sich nur anzuschauen und sich die Hände zu schütteln. Dann ließ Miriam los.
„Ist...ist das dein Hund?“, Miriam zeigte mit dem Finger auf den zweiten Beagle zu ihren Füßen. Er war ihr vorher gar nicht aufgefallen.
„Ja, das ist Luna.“
„Das ist Toni.“, flüsterte Miriam, kniete sich nieder und strich den beiden Hunden über das weiche Fell.
Mark bückte sich ebenfalls und strich, wie Miriam, über die beiden Hunderücken.
Irgendwie hatte er schon was, dachte Miriam und betrachtete Mark verstohlen. Das Gleiche dachte auch Mark. Immer wieder wanderte sein Blick zu ihr hin.
„Wollen wir uns auf die Bank setzten?“, fragte Mark immer noch in gebückter Haltung.
„Ja, klar. Die Hunde können wir auch anbinden.“
Mark nickte. Im selben Moment erhoben sie sich und stießen mit den Nasen zusammen. Beiden schoss das Gleiche durch den Kopf: 'Wenn ich ihn jetzt küssen dürfte.'
'Wenn ich sie jetzt küssen dürfte. Es wäre wie im Märchen', dachte Mark und blickte Miriam in die grünen Augen. Keiner von ihnen rührte sich. Dann plötzlich wendete sich Miriam Toni zu. Dieser war ein paar Mal um sie herumgelaufen und so war das Mädchen kurz davor das Gleichgewicht zu verlieren. Wieso hatte sie ihn vorhin auch wieder angeleint?
Es dauerte nicht lange und Miriam verlor jeglichen Halt. In dem Moment als Toni plötzlich auf Luna zu stürmte, riss es ihr förmlich die Füße unter den Beinen weg.
Mit einer schnellen Bewegung fing Mark Miriam gerade noch auf, bevor sie zu Boden ging. Zumindest wollte er es. Doch er hatte sich soweit vorgebeugt, dass er sein eigenes Gleichgewicht verlor und nach vorne fiel. Auf Miriam drauf.
Sie schwiegen.
Trauten sich nicht ein Wort zu sagen.
Als Mark sich von ihr runter rollte, blieb er neben ihr im Schnee liegen.
Miriam schaute kurz zu dem hellen Vollmond rauf und verlor sich dann in Marks leuchtenden blauen Augen, als er sie ansah.
Auch er konnte nicht anders.
Sein Blick blieb an ihren Augen hängen.
Langsam näherten sich ihre Gesichter einander an. Nach einem kurzen Moment legten sich seine Lippen auf die ihren. Sie waren weich und leidenschaftlich.
Miriam und Mark lösten sich gleichzeitig von einander.
„Entschuldige.“, murmelten sie im Chor und lachten, als sie es bemerkten.
„Es ist einfach über mich gekommen!“, lachte Mark und sah die ebenfalls lachende Miriam an.
„Mich auch.“, erwiderte diese und blieb still neben Mark liegen.
'Liebe auf den ersten Blick', dachte sie und musterte ihn in seinem dunklen Mantel. Er war groß gebaut. Und hatte, wie auch sie, eine Mütze über die Haare gestülpt. Seine dunkle Hose saß so wie die von allen anderen Jungs, die sie kannte, auch. Locker schlackerten seine Hosenbeine im Wind. Seine Füße waren in dicken Winterstiefeln versteckt.
Als ihr Blick wieder sein Gesicht streifte, konnte sie nicht anders, und küsste ihn erneut.
Erst später als sie wieder zu Hause war, bemerkte sie, dass sie ihn ja eigentlich gar nicht kannte. Aber das komische Gefühl, das so plötzlich gekommen war, war so überwältigend gewesen. Miriam lächelte und schrieb ihm dann eine SMS, denn sie hatten, bevor sie sich voneinander verabschiedet hatten, noch ihre Nummern ausgetauscht.

„Hey,
das vorhin,
war einfach unbeschreiblich!
Miriam.“

Mehr brachte sie noch nicht über sich.
Mit angezogenen Beinen saß sie auf dem Sofa. Ihren Eltern hatte sie es schon erzählt. Auch die grinsten und sahen sich vielsagend an. Ihr Vater war schon vor ihr zu Hause gewesen. Sie war länger als sonst im Park gewesen. Miriam grinste.
Schon wenige Minuten später ertönte ein Pfiff. Eine SMS von ihm!
Miriams Herz schlug einen Salto.


„Hey,
ich fand's auch unbeschreiblich.
Lass uns morgen im Café treffen, ok?
Um drei?
Mark.“

Das Mädchen lächelte, sagte zu und legte das Handy dann wieder weg. Was so ein weihnachtlicher Tag alles bringen kann, dachte sie und freute sich auf ihr erstes richtiges Date. Auch den Weihnachtsbaum würden sie morgen beziehungsweise am Wochenende kaufen. Es war perfekt. Ihr eigenes kleines weihnachtliches Märchen.


(c) carthey






DublinerTinte







Der zweite Weihnachtstag im Reitstall – DublinerTinte



Traditionsgemäß, seit Bestehen des Reitvereins, fand das Weihnachtsreiten am zweiten Weihnachtsfeiertag statt. Es wurde eine Kür mit mehr als zwanzig Teilnehmern geritten, Pferde und Reiter in Turnierkleidung, Reiter in schwarz-weiß, die Pferde mit geflochtenen Zöpfchen und weiß einbandagierten Beinen. Danach fanden sich Reiter, Angehörige und Gäste in der großen Scheune ein, wo bereits am Vortag eine Bühne, Musikanlage, Getränkewagen, Grill, Tische und viele Strohballen als Sitzgelegenheiten aufgebaut worden waren.
Bereits Wochen vorher waren alle Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit den Vorbereitungen beschäftigt. Pferde wurden trainiert, Sattelzeug geputzt, Reitstiefel auf Hochglanz poliert. Die fröhliche Hektik verbreitete sich teilweise auch unter den Pferden.
Pferde haben von Weihnachten keine Ahnung, aber sie spüren die Anspannung und wissen, dass etwas anders ist als sonst. Bei den ganz Ausgefuchsten reicht es schon, wenn sie die Turnierzöpfe geflochten bekommen und sie geraten in Wallung.
Der ganze Stall, Reithalle, Haupthaus und Scheune war mit roten Schleifen und Kränzen aus Tannenzweigen geschmückt. Alles war aufgeräumt und sauber, Stalltüren neu gestrichen und der Sand in der Dressurhalle war glatt gezogen.
Am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages hatte jeder die letzte Gelegenheit, sein Pferd zu bewegen, bevor die Halle für das Weihnachtsreiten gesperrt wurde. Ich drehte mit Carli noch ein paar Runden nach der Morgenarbeit mit ihm und er schluffte entspannt vor sich hin. Carli hatte das Arbeiten nicht erfunden, aber einige Lektionen machten ihm Spaß und dann arbeitete er gerne mit.
„Normale“ Reitpferde, mit ein wenig mehr Paprika im Blut, wurden bei der kalten Witterung munter, aber Carli wurde bei Temperaturen um den Gefrierpunkt für gewöhnlich noch gemütlicher als normal. Das war auch der Grund, weshalb wir am Weihnachtsreiten nicht teilnahmen. Wir haben es einmal versucht und sind während der Generalprobe kläglich gescheitert. Er hatte die ganze Abteilung aufgehalten, weil er einfach zu langsam war und sich nicht dazu überreden ließ, schneller zu laufen, und zu allem Unglück konnte er es sich nicht abgewöhnen, einfach stehen zu bleiben, um sein Geschäft zu erledigen. Pferde sind Fluchttiere. Die können ihr Endprodukt im Apfelformat selbst im Galopp loswerden, aber das erschien Carli so abwegig, dass er selbst für einen einzigen Apfel alle vier Beine in den Boden stemmte.
An seiner Box hing ein Schild „Carli ist nicht stur, er lässt mir nur mehr Zeit, über meine Fehler nachzudenken.“ Wenn man sich ein Kaltblut-Pony-Mix kauft, muss man bei einigen Dingen leichte Abstriche machen.
Ich hatte etwa eine Stunde mit Carli gearbeitet, bis sein Dieselmotor warmgelaufen war, dann durfte er im Schritt durch die Halle schlendern, um sein dickes Winterfell trocknen zu lassen. Die Hallentür öffnete sich und Kinder riefen: „Tür frei, bitte!“ Als Reiter antwortet man: „Ist frei!“ und reitet einen Bogen um den Eingangsbereich, um hereinstürmende Fußgänger nicht über den Haufen zu reiten.
Die zwei Mädchen trugen Wäschekörbe mit Weihnachtsdeko herein, stellten die ersten Körbe ab und gingen vor die Halle, um die Nächsten zu holen.
„Wir wollen die Halle dekorieren.“
„Macht ruhig, ich bin fertig.“ Carli schnaubte zustimmend. Ein von Herzen kommendes Hrrmh-prrrrh.
Die Mädchen hatten an alles gedacht, an die grünen Girlanden, die Sterne, Tannenzweige, Heftzwecken, Hammer, Klebeband, Schere.
„Pia?“
„Ja?“
„Dürfen wir Carli haben? Wir haben die Leiter vergessen.“
Ich ließ Carli an der Wand anhalten, stieg ab und half dem kleineren Mädchen in den Sattel. Sie stellte sich erst in den Sattel, dann mit einem Fuß auf seinen breiten Hintern, streckte sich nach oben und klebte den ersten goldenen Stern an die Hallenwand. Ihre Freundin reichte ihr die Girlanden hoch, hielt ihn am langen Zügel fest.
„Macht nur keinen Blödsinn mit ihm“, sagte ich, ging in den Stall zurück, machte seine Box und sein Paddock sauber und als ich zurückkam, um Carli zu holen, hatten die Beiden ihm mit dem schwarzen Klebeband Augenbrauen und einen Schnurrbart ins Gesicht geklebt. Er sah mich mit einem resignierenden Blick an und wollte endlich in seine Box, wo sein Frühstück auf ihn wartete. Die Mädchen hatten mit seiner Hilfe die ganzen Hallenwände geschmückt.
Während des Weihnachtsreitens genehmigte ich mir den ersten Becher Glühwein. Die Kür war perfekt auf die Weihnachtsmusik abgestimmt und alles lief perfekt, niemand bog in die falsche Richtung ab, kein Pferd raste wild bockend durch die Halle.
Später stand ich mit zwei Freundinnen in der wild geschmückten Scheune, wir gaben die Getränke aus und ich hatte die Aufgabe übernommen, mich um den Schwenkgrill zu kümmern, der direkt nebenan stand. Es gab Glühwein, Kaffee und Kuchen und alle warteten gespannt auf den ersten Auftritt. Einige der Jugendlichen hatten ein Lied von den Kellys einstudiert, standen mit Gitarren und in Hippieklamotten ihrer Mütter auf der kleinen Bühne und sangen zum Playback. Sie hatten sich die Kellys ausgesucht, weil die am „uncoolsten“ waren und trotzdem hatten alle älteren Semester Tränen in den Augen vor Rührung.
"Sometimes I wish I were an angel."
Danach waren wir dran. Wir hatten uns Nonnenkostüme besorgt und führten Sister Act auf, was wir seit Wochen geübt hatten. Wir waren richtig gut, durften uns nur dabei nicht ansehen, weil wir dann haltlos loslachten und nicht mehr aufhören konnten. Weil wir die um Zugabe rufenden Gäste nicht enttäuschen wollten, sangen und tanzten wir noch einmal „I will follow him“. Es war das einzige Lied, was wir einstudiert hatten. Leider hatte die beste Sängerin und Tänzerin, die wir als Haupt-Act gefunden hatten, nicht auftreten können. Bei der Generalprobe hatte sie festgestellt, dass sie mit ihrer Fülle nicht in das Nonnenkostüm passte. Sie stand unter den Zuschauern und sang trotzdem mit und es sah aus, als würde sie unsere Choreographie anführen.
Für den restlichen Abend lief Christmas-Rock-Musik, auf dem Grill brannten einige Würstchen an, weil ich mehr tanzte und in der Scheune unterwegs war. Auf diesen Weihnachtsfesten ging es immer lustig zu, dort trafen sich alt und jung, die Großeltern konnten die Ponys der Enkel bewundern, Ehemänner und Freunde, die sonst dem Stall fernblieben, fanden jemanden zum Quatschen.
Wie immer endete die Feier sehr früh morgens beim gemeinsamen Aufräumen, einem letzten Kaffee und die Hunde bekamen die übrig gebliebenen Würstchen. Bevor ich nach Hause fuhr, sah ich noch bei Carli vorbei, der, wie immer, wenn ich das Licht im Stall anmachte, erst müde blinzelte und dann mit dem Huf gegen die Boxentür bollerte.
Weihnachten in der Stallgemeinschaft war nie wirklich heimelig und besinnlich, aber es trug ein anderes Gesicht von Weihnachten. Alle Generationen feierten gemeinsam, die Kinder und Jugendlichen freuten sich bereits Wochen vorher darauf, dachten sich gemeinsam etwas aus, was sie präsentieren konnten. Mütter brachten selbst gebackenen Kuchen und Torten mit, die Väter (meist die mit dem wenigsten Interesse an Pferden) halfen die Ställe und Zäune zu reparieren, besorgten Weihnachtsbäume und stellten den größten Baum, den sie bekommen konnten, gemeinsam in der Mitte des Hofes auf. Häufig kamen „Ehemalige“ vorbei, die weggezogen waren, aber noch immer gerne an den Weihnachtsfeiern teilnahmen. Nach außen mochte es aussehen wie eine Feier mit Kindern, Ponys, Pferden und Erwachsenen, die Weihnachtsmützen trugen, aber wir hatten es zu einer Tradition gemacht, die es in den Familien teilweise nicht mehr gab. Das gemeinsame Essen in einer ausgelassenen Stimmung, das chaotische Miteinander, in dem letztendlich doch alles gut funktionierte, und alle konnten für eine Weile die Zwistigkeiten vergessen. Ein großes gemeinsames Vorbereiten, Feiern und Aufräumen, alles umgeben vom Stall- und Tiergeruch.
Jahre später habe ich den Stall gewechselt, weil ich in eine andere Stadt gezogen bin und Carli mitgenommen habe. Carli geht es dort gut, die Leute sind nett, aber trotzdem fehlt etwas – besonders an Weihnachten.

(c) dublinertinte


GaSchu






Heinz und die Weihnachtsfreude



Langsam schlenderte Heinz durch die überfüllten Straßen der City. Womit hatte er das nur verdient? Jedes Jahr derselbe Trubel und Lärm in der Stadt. Hastende, mit Einkaufstüten und Päckchen bepackte Menschen rempelten ihn an. Niemand sah ihm in die Augen.
Es nervte ihn jedes Jahr mehr. Für ihn gab es schon seit Jahren keine Weihnachtsfeier mehr, schon seit 15 Jahren, seit seine Frau gestorben war. Naja, zuerst feierte er noch mit seinem erwachsenen Sohn, doch seit dieser nach Australien ausgewandert war, verzichtete Heinz auf Weihnachten. Er machte sich drei ruhige Tage in einer Berghütte oder er flog in die Sonne. Dort war es besser zu ertragen, denn dort bekam man von Weihnachten wenig mit. Natürlich hatte er auch schon mal seinen Sohn „Down Under“ besucht, doch der hatte während der Feiertage gar keine Zeit, er war Hotelier geworden und richtete zur Weihnachtszeit viele Firmenfeiern aus. Da war es besser, ihn im deutschen Sommer zu besuchen, denn dann war dort Winter und sein Sohn konnte sich wenigstens um ihn kümmern.
Leider hatte er es dieses Jahr versäumt, rechtzeitig Pläne für die Feiertage zu machen. In seinem Reisebüro hatte man ihm gestern mitgeteilt, dass absolut nichts mehr frei wäre in seinen Wunschorten, sowohl der Sonnenurlaub als auch die Berghütte waren ausgebucht. Heinz ärgerte sich. Das würden drei langweilige, einsame Tage werden. Er hatte keine Alternative gefunden.
Plötzlich stieß er in dem Gewühle mit jemandem zusammen. „Au!“, rief die Person. Heinz blickte auf und geradewegs in ein Paar dunkelbauer Augen. Schöne Augen, dachte er bei sich und nahm die ganze Person ins Visier. Eine sympathische Frau, gestand er sich ein, doch dann lachte er über sich. Wie lange hatte er so was schon nicht mehr gedacht? Das musste eine Ewigkeit her sein! Neben der Frau stand ein Mann, natürlich! Der sah ihn seltsam an und fing an zu reden. „ Hallo, entschuldigen Sie, aber sind Sie nicht Heinz Mayer?“
„Äh, ja?“ Heinz sah den Mann irritiert an.
„Heinz, Mensch, erinnerst du dich nicht an mich?“ Der Mann freute sich anscheinend, Heinz war das einfach nur zu viel. „Heinz, ich bin Werner, Werner Schulte! Wir haben 20 Jahre zusammen gearbeitet!“
„Mensch, Werner! Ach du meine Güte, das ist ja so lange her!“ Nun erkannte auch Heinz den alten Kollegen. Sie waren sogar befreundet gewesen vor langer Zeit, ja, das war eine schöne Zeit gewesen. „Das ist sicher deine Frau?“, fragte er seinen Kumpel. Nun lachten die Zwei. „Nein, Heinz, das ist meine Schwester, meine kleine Schwester Annelie. Wir sind zusammen in die Stadt gegangen, damit sie mir helfen kann, ein Geschenk für meine Frau zu finden.“
Heinz wusste nicht, warum ihn dies nun fröhlich stimmte, denn er kannte diese Frau doch gar nicht.
„Weißt du was, Heinz, lass uns zusammen einen Kaffee trinken, wir haben uns ja so lange nicht gesehen. Hast du Zeit und Lust?“, fragend sah ihn Werner an.
„Zeit habe ich leider viel zu viel! Und Lust auf einen Kaffee, gern!“
Zu dritt gingen sie in ein Cafe und es wurde ein lustiger, unterhaltsamer Nachmittag. Sie redeten über Gott und die Welt. Leider rückten die Zeiger der Uhr unaufhaltsam weiter. Heinz hatte vor dem Ende des gemütlichen Beisammenseins schon Angst, denn dann würden die Einsamkeit und Langeweile wieder da sein, als sein Freund plötzlich sagte: „ Heinz, ich hab damals ja noch mitbekommen, dass deine Frau gestorben ist, bist du allein, oder hast du eine neue Beziehung?“ Als Werner diese Frage aussprach, sah auch Annelie Heinz fragend und interessiert an.
„Nein, ich bin allein geblieben, leider! Aber es sollte wohl so sein!“ Warum lächelte sie jetzt? Heinz lächelte zurück.
„ Weißt du was, Heinz, wenn du nichts Besseres vor hast, wie wäre es, wenn wir Vier dann zusammen Weihnachten verbringen würden? Wir gehen gemeinsam schön Essen, machen uns gemütliche Abende vorm Kamin? Was hältst du davon? Ich möchte dich ungern wieder aus den Augen verlieren!“ Werner war immer sehr direkt gewesen. Das hatte Heinz schon früher an ihm geschätzt.
„Ich will doch nicht eure Familienfeier stören….“, stammelte er.
„Papperlapapp! Es sind sowieso nur wir Drei. Meine Frau, meine Schwester und ich! Also, das wäre doch schön, zu viert kann man den Tisch schöner decken, man kann besser Spiele spielen und zum Unterhalten ist eine gerade Zahl auch ausgewogener. Meine Frau wird sich auch freuen! Bestimmt!“ Werner konnte alle Bedenken wunderbar weg reden.
„ Ja, wenn es wirklich so ist, dann gerne! Ich freue mich sehr!“ Dabei sah er Annelie tief in die dunkelblauen Augen. Sie errötete leicht, was Heinz in Entzücken versetzte. Werner sah nur lächelnd von ihr zu ihm, sagte jedoch nichts.
Sie verabschiedeten sich und Heinz lief frohgemut durch die weihnachtliche Stadt. Wie schön doch alles um diese Jahreszeit ist, dachte er, ohne sich im Geringsten daran zu erinnern, wie sehr er noch vor einer Stunde alles verabscheut hatte.
Weihnachten ist doch ein wunderbares Fest, mit diesem Gefühl stürzte er sich ins Getümmel, um nach Geschenken für seine Gastgeber zu suchen.

(c) GaSchu




seewald







Sir Walter



„Sie spinnt“, sagte Thomas.
„Ich weiß, dass Annabell spinnt“, erwiderte Beatrix. „Trotzdem sind wir heute ihre Gäste, und es wäre nett, wenn du meiner besten Freundin das Weihnachtsfest nicht vermiest.“
Thomas grinste. „Das kommt darauf an, was sie diesmal wieder loslässt.“
Das Pärchen stapfte weiter durch den Schnee. In der Ferne war das hell beleuchtete Haus, das an einer Landstraße im Bergischen Land lag, zu erkennen. In der weiß verschneiten Tanne im Vorgarten leuchteten die elektrischen Kerzen. Der Weg bis zum Haus war zum Glück freigeschaufelt.
Alle Fenster in der unteren Etage waren hell beleuchtet. In der Küche konnte Beatrix drei Leute erkennen, die sich an einem riesigen, dampfenden Topf zu schaffen machten.
Kaum im Flur angekommen, stürzte auch schon ein beleibter, dunkelhaariger Mann auf das Pärchen zu und riss ihnen die dicken Winterjacken von den Schultern. Bevor sie sich an die Wärme, die im Wohnzimmer vom Kamin ausging, gewöhnen konnten, wurde ihnen ein heißer Punsch in die kalten Hände gedrückt.
Der Weihnachtsbaum war mit goldenen und dunkelblauen Kugeln geschmückt.
Annabell saß am oberen Ende des Esstisches und winkte ihnen huldvoll entgegen. Obwohl der Winter in diesem Jahr verdammt kalt war, trug Annabell nur ein dünnes buntes Fähnchen, das eher zu einer Sommer-Grillparty gepasst hätte. Beatrix lächelte verhalten, Annabell nutzte jede Gelegenheit, um ihre beneidenswerte Figur, die sie durch hartes Fitnesstraining konstant hielt, zu präsentieren.
„Holger ist Vertreter für Staubsauger“, stellte Annabell vor. „Sarah und Niko sind in der Küche. Ja, Niko ist Koch und er hat mir eine kleine Überraschung versprochen. Sarah arbeitet bei mir im Büro. Ihr kennt die beiden doch schon von unserer Bootsfahrt im Sommer.“
Thomas nickte. Neben Annabell thronte Sir Walter, ihr fettleibiger betagter Kater, auf einem weichen Kissen. Auch den kannte Thomas schon, ... zur Genüge. Das letzte Mal waren sie hart aneinander geraten. Die Diskussion war damals hauptsächlich von Sir Walter bestritten worden, und er war eindeutig als Sieger hervorgegangen, was er am Ende mit einem befriedigten Zischeln bekundete. Zum Glück brauchten Thomas und Beatrix nicht direkt neben dem betagten, rechthaberischen Katzenherrn zu sitzen.
Gerade als Annabell die Gläser der neuen Gäste mit einem französischen Wein gefüllt hatte, kam Niko, der Koch, mit einer großen, silbernen Platte. Mit einer elastischen Bewegung platzierte er sie in der Mitte des Tisches. Dann hob er den halbrunden Deckel. „Voila!“
Das mehrfach, entzückte „Oh!“ galt dem riesigen Karpfen, der auf einem Bett aus Orangen, Datteln und Kastanien thronte.
„Niko, du hast dich selbst übertroffen“, lobte Annabell und hob ihr Glas. „Dann euch allen ein frohes Weihnachtsfest und lasst es euch schmecken.“
Die Gäste prosteten sich zu und bald klapperten die Gabeln. Thomas hörte dem beginnenden Smalltalk mit halbem Ohr zu. Aus den Augenwinkeln schielte er zu Sir Walter hinüber, der Thomas Bewegungen schweigend und argwöhnisch, aus grünen, rätselhaft schillernden Augen, verfolgte.
Das Dessert, das Niko als Geheimrezept seiner italienischen Mutter anpries, entpuppte sich als rosinengespickte Vanilleeiskugeln in Schokoladensoße.
Nach dem Essen half Beatrix beim Tischabräumen und dann ging es zur Geschenkeverteilung. Da man sich kaum kannte, wurde gewichtelt. Thomas hatte ein paar rosa-gelb gestreifte Socken ergattert, Beatrix dagegen einen Ratgeber für Autoreparaturen. Sie selber hatten neueste Musik-CDs verteilt.
Holger, der beleibte Vertreter für Staubsauger, reichte Annabell ein Glas Punsch und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich wünsche dir ein besonders romantisches Jahr, Annabell“, stammelte er mit geröteten Backen.
Thomas vermied einen direkten Blick auf seine Armbanduhr und hoffte inständig, dass sie sich bald verabschieden konnten. Aber Beatrix glänzende Augen und ihr entrücktes Lächeln deuteten an, dass er mit seinem heimlichen Wunsch nicht auf ihre Zustimmung stoßen würde. Die Stimmen um Thomas herum wurden lauter, ebenso wie das Lachen. Auch Annabell hatte jetzt mehr als einen Punsch hinter sich.
„Sir Walter bekommt später auch etwas von dem Restkarpfen“, sagte sie und strich ihrem Kater zärtlich über sein Haupthaar. „Ja, Schatz, ich sollte es dir klein schneiden. Deine Zähne sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.“
Thomas musste plötzlich husten. Für einen heftigen Biss in seine Hand hatte es immerhin gereicht. Und das war gerade mal drei Monate her.
„Sir Walter ist außergewöhnlich intelligent“, begann Annabell wieder. „Wenn ich mit ihm rede, sieht er mich manchmal an, als würde er alles verstehen.“
„Dabei spricht er nicht einmal deutsch“, witzelte Niko der Koch, was ihm einen missbilligenden Blick von Sir Walter einbrachte.
„Sir Walter ist nicht von hier“, lallte Annabell.
„Tatsächlich?“, fragte Holger dümmlich.
„Nein!“, machte Annabell theatralisch. „Viel weiter weg.“
„Ach ja, aus Ägypten“, tat der Vertreter sein Wissen kund. Dann drehte er sich zu Thomas. „Katzen kommen ursprünglich aus Ägypten.“
„Äthiopien“, erwiderte Thomas und griff nach seinem Weinglas, um sich verzweifelt irgendwo festzuhalten. „Im Mittelalter hat man sie nach Europa eingeführt.“
Holger pfiff annerkennend durch die Zähne. „Sie sind wohl ein Kenner der Materie.“
„Hab’s mal irgendwo gelesen“, knirschte Thomas durch die Zähne.
„Quatsch, Äthiopien.“ Annabell winkte mit der Hand ab. „Noch viel, viel weiter.“
Ihre Gäste sahen sie verwundert an.
„Seht euch nur Sir Walters aufmerksame Augen an. Er beobachtet uns alle ganz genau.“
„Wozu?“, fragte Niko.
„Sir Walter hat sich nur für uns mit diesem Fell bedeckt.“ Annabell begann zu flüstern. „In Wirklichkeit ist er ...“
„Ja?“, machte Beatrix amüsiert. „Was ist er nun in Wirklichkeit?“
„Ein Außerirdischer“, kreischte Annabell verzückt. „Katzen sind nur hier, um uns zu erforschen. Alle Katzen erforschen die gesamte Menschheit.“
Holger, der Staubsaugervertreter, war sichtlich erschrocken. Thomas lachte leise auf. Irgend so etwas Dämliches hatte er fast erwartet. Solange er Beatrix Freundin Annabell kannte, und das waren fast fünf Jahre, kamen am Ende eines feuchtfröhlichen Abends immer die absonderlichsten Theorien auf den Tisch. Hahnebüchend, an den Haaren herbeigezogen, grausam genug, sich das alles anzuhören.
Der beleibte Vertreter hatte sich wieder gefangen und lächelte. „Dein heißgeliebter Kater soll also ein Außerirdischer sein? Annabell, ich bewundere deine Fantasie.“
Thomas bedauerte Holger fast, da der Staubsaugervertreter in Gefahr geriet, sich in eine Verrückte zu verlieben.
„Mein lieber Holger“, erwiderte Annabell. „Unter Sir Walters Fell steckt eine einzigartige Konstruktion. Eine Art Roboter. Und in diesem Gehäuse sitzt sein wahres Ich.“
Thomas schüttelte entnervt den Kopf. „Und warum hat es bisher noch kein Tierarzt festgestellt?“
„Weil“, Annabell drehte den Kopf zu Thomas und sah ihn ernst an, „sie sich hervorragend tarnen können. Unsere Technik ist noch zu dumpf, viel zu dumpf, um ihnen auf die Schliche zu kommen.“
Thomas begann zu japsen. „Und wie ist dieses wunderbare Geschöpf auf unsere Erde gekommen? Vielleicht auf einem Hund geritten?“
Alle begannen zu lachen. Als Beatrix endlich in ihre Jacke schlüpfte, hörte Thomas noch, wie Holger leise im Hintergrund fragte: „Wie bist nur du auf diese ulkige Idee gekommen Annabell?“
„Ach, ich habe nur in Sir Walters Augen gesehen und da habe ich mir was zusammengesponnen.“

„Annabell hat, wie immer Mist geredet“, brummte Thomas, als sie durch den Schnee zu ihrem Wagen stapften.
„Das war der Weihnachtspunsch“, erwiderte Beatrix und hakte sich bei Thomas ein. „Du weißt doch, wie sie ist. Ihr fällt immer etwas ein, um uns alle zu erheitern.“
„Besonders“, knurrte Thomas, „als sie uns ihr fettes, bissiges Katzenvieh als außerirdischen Intelligenzknubbel präsentierten wollte.“
Das Pärchen bemerkte nicht, dass ihnen Sir Walter ein Stück gefolgt war. Der Kater balancierte auf der schneebedeckten Mauer. Aus schrägen Augen blickte er ihnen hinterher, bis sie in ihrem Wagen saßen.
Beatrix gähnte. In einer halben Stunde würden sie in ihrer Wohnung sein. Sie sehnte sich nach ihrem Bett und war sicher, dass sie sehr schnell einschlafen würde. „Sir Walter ist doch wirklich allerliebst“, murmelte Beatrix müde. „Und bei allem, es war doch eine nette und lustige Weihnachtsfeier.“
Thomas ließ den Motor an. „Ja, und so einen Unsinn habe ich noch nie gehört.“
Sir Walter fixierte den Wagen von der Mauer aus, bis er auf die Fahrbahn bog. Es wirkte, als würde der Kater hämisch grinsen. Dabei teilten sich die Haare auf seinem Kopf wie bei einem Scheitel. Die blanke Schädeldecke kam zum Vorschein. In Sekundenschnelle öffnete sich in der Mitte ein Loch und eine kleine Antenne sproß in die winterliche Luft, blinkend und leise fiepend suchte sie den Empfänger. Der Kontakt war nun wieder da, die Botschaft empfangen.
Sir Walter grinste nun eher liebevoll und er hob seine Pfote. Ein Stückchen nur. Und unter seinem dichten Fell schob sich ein dünnes, graues Metallärmchen hervor. Eine kleine Hand schnellte hervor und stellte sich aufrecht. Acht Metallfinger spreizten sich, wie zum Gruß. Die kleine Roboterhand winkte Thomas und Beatrix Wagen hinterher.

(c) seewald


Helga



Zeichnungen: Helga





Eine kleine böse Weihnachtsgeschichte
…alle Jahre wieder…



Das Fest der Liebe steht vor der Tür und begehrt mit permanenter Boshaftigkeit ganz unchristlich, reichlich unverschämt und lautstark Einlass. Eigentlich stehen schon seit Herbstbeginn oder früher als Weihnachtsmann um geschmolzen oder verkleidete Osterhasen in den Auslagen und die Kataloge mit angeblich neuen Geschenkideen drohen uns zu erschlagen.


Eine neue Matratze, so für die Liebe um Weihnachten, eine attraktive goldene Toilettenbürste oder ein besonders tolles Topfset, auch nicht schlecht, denn die Liebe geht bekanntlich durch den Magen, sagt man, wird wärmstens empfohlen. Also wenn ich mir überlege, dass mir Liebe zu Teil werden soll, die schon durch einen Magen gegangen sein soll, dann wird mir mal kurz ziemlich krass unwohl. Solche Liebe mag ich nicht, auch nicht an Weihnachten. Dann würde ich lieber eine weihnachtliche Matratze, todsicher milbenfeindlich, nehmen, wobei ich bereits eine gute habe. Also bitte von derartigen Gaben absehen. Würde ja auch unheimlich viel Einwickelpapier und Schleifenband draufgehen, was mit Sicherheit teurer als die Matratze sein dürfte. Aber was Eingewickeltes möchte ich schon haben.


Sind wir nicht besessen davon, all das so sorgsam und liebevoll Verpackte wie im Rausch aus dem Papier zu fetzen bis die ganze Stube wie nach einem mittleren Erdbeben aussieht und das bei voller Festbeleuchtung. Das zu Tage geförderte Geschenk halten wir sodann schon etwas erschöpft in unseren Händen und in Anbetracht der erwartungsvollen Augen des Schenkers, ringen wir uns ein müdes Lächeln ab, auch eine fade Bemerkung wie: “Das habe ich mir schon immer so gewünscht“, passt nicht so recht im Tonfall zum vorherigen Auspackrausch.
Der Gabengeber murmelt verlegen, man könne das Ding ja umtauschen und beißt sich die Zähne an einer Pfeffernuss aus.


Manchmal kann man schon im trauten Kreis der Familie erfolgreich Tauschgeschäfte starten, dann kommt doch noch ein wenig Seligkeit auf, die aber beim Weihnachtsschmause wieder vergehen könnte, wenn nämlich irgendwas nicht üppig oder ausgefallen genug, manchmal wieder nicht so wie gewohnt, angeboten wird.
Es gibt da vielfältige Möglichkeiten, die Liebe ein wenig schrumpfen zu lassen.
Viele Menschen beschließen daher, einfach zu verschwinden. Sie versuchen der weihnachtlichen Liebe zu entrinnen. Hab auch schon drüber nachgedacht.


Man stelle sich vor, die halbe Menschheit ist verschwunden und das Fest der Liebe steht fordernd vor der Tür. Dem Fest würde ja noch mehr die Liebe vergehen, wenn seine Opfer nicht zahlreich genug gequält schreien: „Wir wollen kein Weihnachten, uns ist nicht danach, wir haben kein Geld und zu dick sind wir auch!!“

Das Fest fordert seine Opfer…viele…unheimlich viele. Letztlich ist es ihm egal, wenn wir danach dick und ohne Geld sind. Wir können ja nun zehren und müssen das Allerletzte geben, um wieder schlank zu werden. Doch unsere Fettpolster bleiben uns hartnäckig treu. Das wäre wieder eine ganz andere Geschichte!

Aber zum Glück machen sich nicht alle davon (nur die Begnadeten, die sich leisten können, oh, so fröhlich abzufliegen).
Wir anderen ertragen die gnadenbringende Zeit, nehmen alle Gnaden hin, zähneknirschend aber milde lächelnd und geben alles an Liebe, was da ist … und weg muss…wie immer. Ein Mondgenie hält alles aus, macht fast alles mit und mogelt bis die Schwarte kracht.
Bis das Gebimmel wieder für ein Jahr verhallt und wir uns vom Feiern, unsere Wunden leckend, erholen dürfen.

(c) Helga



Lady Agle






Schiller und die Urgroßmutter



Gemütlich waren die Abende an den Elbwiesen. Der Strom lag da wie ein breites silbernes Band. Um einen großen Stein kräuselte sich das Wasser, „Großmutter, bitte erzähle etwas von früher“. „Zwei Fotos habe ich mitgebracht und zwar von Auguste. Für alle war sie aber die Gustel. Verständlich, so wie der Schalk in ihren Augen blitzte. Geboren wurde sie 1840. Sie war meine Mutter und damit Deine Urgroßmutter.“

Im ersten Bild sitzt Gustel in einem Sessel mit einem Buch in der Hand. Sie hat mit 30 Jahren ein ebenmäßiges, schönes Gesicht, das einen sofort für sie einnahm. Das volle Haar trägt sie in der Mitte gescheitelt und nach hinten gekämmt, wahrscheinlich zu einem Dutt gesteckt. Ihre Brust ist hoch geschnürt, wie es damals durch die Korsetts üblich war. Und sie hatte eine schmale Taille, trotz ihrer vielen Kinder. Man erkennt auf dem Foto, dass das Kleid gestreift war. Es sieht wie Seide aus, in der Mitte zusammengehalten mit Perlmuttknöpfen. Auf dem Bild ist eine sympathische und auch tatkräftige, resolute Frau zu sehen.

Gustel hatte 13 Kinder, darunter drei Zwillingsgeburten. Mit ihren 10 Töchtern betrieb sie eine Wasch- und Plättanstalt in Blasewitz, einem Stadtteil an der Elbe in der Residenzstadt Dresden. Angefangen hatte sie als Wäscherin, konnte dann als junge Frau einen kleinen Betrieb übernehmen und ausbauen. Viel geholfen hatte dabei ihr Mann. Der technische Aufwand in der Wäscherei war damals nicht sehr groß. Bei diesem Gewerbe war das Wichtigste die Muskelkraft. In einem großen Waschhaus standen Kessel, in denen die Kochwäsche brodelte. Diese kam dann in Holzbottiche und wurde auf Rubbelbrettern gebürstet. Die Wäscherinnen trugen Holzpantinen. Sie standen während der Arbeitszeit im Wasserdampf, gebückt über die Holzzuber. Wie schwer doch die nassen Leinentücher waren! Gustels Söhne mussten sich um das Holz- feuer kümmern und anfangs das Wasser vom Brunnen heranschleppen. Im Sommer wurde die Wäsche auf den Elbwiesen zum Bleichen ausgelegt, begossen mit Wasser aus dem Fluss, der damals noch klar und sauber war. Sie mussten schuften, und wer zu langsam war, bekam schnell mal einen Wasserschwall ins Gesicht. Dann war das Gezeter groß! Und trotz der schweren Arbeit soll es unter den Mädels sehr lustig zugegangen sein!

Auf dem zweiten Foto ist Gustel mit etwa 50 Jahren zu sehen. Die Hände liegen offen im Schoß. Man empfindet sie als kuschelig und weich. Sie müssen rosa ausgesehen haben – vom vielen Hantieren mit Wasser. Ihre Figur ist etwas vollschlanker, noch immer hat sie ebenmäßiges Antlitz. Aber die Lippen sind schmal geworden. Was muss es für sie für Leid und Kraft gekostet haben, ihre ältesten Kinder zu verlieren. Die Großen, vor allem die Söhne, waren nach Amerika ausgewandert. Selten kam Post von ihnen nach Blasewitz! „Wir kannten einander nicht einmal“, erzählt mein Visavis.

Ihr Mann Janosch „kam, sah und siegte“ bei Gustel, als sie noch sehr jung war und er aus Ungarn in Dresden Einzug hielt. Josch, wie man ihn nannte, hatte den damals seltenen Beruf des Masseurs. Er arbeitete am Vormittag in den Lahmann Sanatorien auf dem Weißen-Hirsch. Hier machten die Reichen und Schönen ihre Schlankheitskuren. Wie sahen damals die Verordnungen aus? In einer vorgeschrieben Zeit musste man die steile Plattleite etwa zehn Mal rauf und runter laufen. Zur Therapie gehörte damals auch schon die Massage. Die Nachmittage hielt sich Josch für Arbeiten im Familienbetrieb frei. Und an manchen Abenden war er Feuerwehrhauptmann in der Semperoper. Dadurch bekam er in der Spielzeit immer zwei Freiplätze. Gustel hatte die Devise „Alles was sich Gutes bietet, wird wahrgenommen“. Und so sah man sie oder ihre Kinder, in feiner Kleidung, so oft es ging, zu den Aufführungen in der Oper – trotz der täglichen Plackerei. Das war liebgewordene Abwechslung.

Großmutter sagte am Abend an den Elbwiesen mit Nachdruck zu mir: „Die zwei Fotos hüte ich wie einen Schatz,“ und steckte sie behutsam in ein ausgedientes Abendtäschchen. Dann gab sie mir die Hand. Sie war warm und rosig. Ich fühlte mich geborgen. Ihre Hände konnten ihre Herkunft nicht verleugnen. Und Großmutter erzählte weiter. „Gustel hat ihren Mann um etliche Jahre überlebt. Sie starb 1925. Zehn meiner Geschwister konnten zu ihrem Abschied kommen.“

„Nun müssen wir aber ins Haus gehen. Lassen wir den schönen Abend mit etwas Lustigem ausklingen. Weißt du, was Gustel fuchsteufelswild machte? Wenn man Schillers Zitat aus 'Wallensteins Lager' auf sie bezog: 'Potz, Blitz, da ist die Gustel aus Blasewitz!'"

(c) Helga Schmiedel




chitchatcherry






Der Weihnachtskarpfen



Ich heiße Gustav und es war mein elftes Christfest, an dem sich die Geschichte zutrug, die ich euch jetzt erzählen werde. Ich selbst verstand sie allerdings erst sehr viel später. Denn mit elf ist man zwar alt genug, um zu wissen, wo der Hase lang läuft. Aber noch zu jung, um zu begreifen, was Habgier wirklich bedeutet. Heute liegen die Geschehnisse mehr als sechzig Jahre zurück und der Alte ist schon lange tot. Auch meine Eltern sind es, Gott hab’ sie selig.

Mein Großvater war ein reicher Mann und vor mehr als sechzig Jahren wohnte er in einem Herrenhaus, in dem ich mich stets verlief. Alle Zimmer hatten hohe Decken und es sah in ihnen aus wie in einem Museum. Neben dem Haus waren die Ställe mit den rabenschwarzen Rennpferden. Darin waren auch ein altes Auto, ein schönes Auto und zwei schnelle Autos. All das umgab ein Park mit weiten Rasenflächen. Durch den Wald dahinter ritt mein Großvater an jedem Morgen mit Brutus an seiner Seite. Brutus war sein Jagdhund und so unschuldig wie ich selbst.

Schon immer wurde mein Großvater „der Alte“ genannt. Der Alte war ein Tyrann. Ständig sagte meine Mutter, er sei ein Tyrann. Er tyrannisiere. Er sei tyrannisch. Und zu Vater sagte sie, er solle sich aus der Tyrannei befreien. Dann sagte mein Vater zu ihr, sie sei auch eine Tyrannin. Und er lebe in einer Tyrannis. Das war damals alles sehr schwierig für mich. Doch wie ein Tyrann aussah, das wusste ich. Ich hatte einen in meinem Schulbuch. Der hieß zwar Dionysos, sah aber aus wie der Alte.

Der Alte hatte zwei Kinder. Das eine war Tante Thilda, das Plümpchen. Plümpchen hatte immer der Alte zu ihr gesagt. Und wir irgendwann auch. Vielleicht weil sie uns schon immer zweierlei war: zu dick und zu schwer von Begriff. Dennoch fand Thilda Alfred. Auch Alfred war zweierlei: fuchsschlau und scharf auf Thildas Geld. Nur sie hatte er nie geliebt.

Das andere Kind war mein Vater. Mein Vater war klein, doch nicht klein von Statur. Er war anders klein, mehr so im Wesen. Vielleicht wegen des Alten oder wegen meiner Mutter Sibylle. Für mich war mein Vater groß und ich liebte ihn. Er liebte sein Auto. Das roch sehr gemütlich. Vielleicht saß er deshalb nach der Arbeit dort, statt an unserem Esstisch.

In meinem Schulbuch war auch eine Sibylle. Die sah nicht aus wie Mutter, aber der Rest stimmte. Sibylle sei eine Seherin, die in Rätseln von der Zukunft spreche. Wenn meine Mutter sprach, dann verstand ich nicht viel. Aber das war ihr nicht wichtig. Ihre Stimme schrillte und zischte, triezte und trieb, klagte und klirrte. Dabei schien sie größer und größer zu werden, mein Vater dagegen zu schrumpfen. Danach ging er fort und kam später mit etwas zurück. Einmal war es Schmuck, ein anderes Mal ein Pelzmantel. Wieder ein anderes Mal stand ein neues Auto vor der Tür und Vaters altes Auto war weg. Vielleicht hatte sie mich auch lieb.

Jedes Jahr am Weihnachtsabend waren wir beim Alten auf dem Anwesen. Thilda und Alfred, Vater und Mutter, der Alte und Brutus, und ich. Dann saßen wir alle in einem der großen Zimmer an einer Tafel und aßen den Weihnachtskarpfen. Den bereitete immer Marta zu. Marta kochte für den Alten und lebte auch in der Tyrannis.

Auch an diesem Weihnachtsabend vor mehr als sechzig Jahren servierte uns Marta den Karpfen. Und wie immer ging sie danach wieder hinaus und kam mit einem Tablett voller kleiner Goldschälchen zurück. Auf diesen befand sich für jeden für uns eine silbrige Schuppe des Karpfens. Das sollte uns Geld bringen. Normalerweise ging Marta dann aus dem Zimmer. Doch damals blieb sie, stand da und guckte dem toten Fisch auf unseren Tellern geradewegs ins Maul.

Der Fisch war serviert. Thilda und Alfred, Vater und Mutter, ich und der Alte spießten einen Bissen auf die Gabel. Bevor wir den Karpfen in unseren gierigen Hälsen verschwinden ließen, hielten wir inne. Nicht so der Alte. Der schob seine Gabel weiter in Richtung seines zahnlosen Mundes. Das sah Sibylle. Sie stieß meinen Vater unterm Tisch an. Mein Vater schaute angespannt zu Alfred rüber, der sogleich Thilda anstierte. Ich schaute den Alten an.

Vermutlich wurde zu viel geglotzt an der Tafel. Denn der Alte zog den Fisch auf der Gabel wieder rückwärts aus seinem Maul. Er schaute den Karpfen an, dann Sibylle. Von Sibylle zu Vater. Von Vater zu Alfred, dann zu Thilda. Zuletzt schaute er zu Brutus. Dann gab er Brutus den Weihnachtskarpfen. Ich schaute weg.

Wir haben Brutus am nächsten Tag im Park begraben. Der Tyrann aber lebte noch lange, bis sein Herz ganz von allein still stand. Das Erbe? Das bekam ich.
(c) chitchatcherry


Nur noch 6 Tage,
dann ist es soweit




Clara






Das unsichtbare Leuchten



Welch’ ein Wort, gibt es das überhaupt?
Wenn etwas leuchtet, muss es doch zu sehen sein. In meinem Empfinden gibt es aber ein Leuchten, das nur im Inneren zu spüren und zu sehen ist. Es muss also im Hirn auftauchen. Jedes Mal, wenn dieses Leuchten da ist und ich es spüre, werden meine Augen hell und sie strahlen. Ich spüre ein Gefühl des Glücks. Was auch immer das bedeuten mag.
Es ist eine innere, stille Freude, die Zufriedenheit ausstrahlt und heiter macht und ein Lächeln in mein Gesicht zaubert.
Offensichtlich gibt es mehr als nur Äußerlichkeiten.

Dieses unsichtbare Leuchten wird oft durch Gedanken ausgelöst. Gedanken an schöne Dinge, die einem Freude machen. Sie werden ganz besonders ausgelöst durch andere Menschen, lieb gewonnene Menschen.
Auch beim Anblick schöner Blumen oder liebenswerter Tiere.
Die Kraft, die dieses unsichtbare Leuchten in sich birgt, bewirkt oft Unglaubliches. Das unsichtbare Leuchten ist ein kostbarer Schatz, den man besitzt. Man kann ihn nutzen, um das Leuchten weiter zu tragen, ja zu übertragen auf andere Menschen, so dass auch sie davon profitieren durch unsere positive Ausstrahlung und unser Tun.
Man kann also die Kraft des inneren Leuchtens vermehren und so Gutes tun.
Oft bekommt man ein Leuchten in den Augen anderer zurück.

(c) Clara





fatamorgana






Die Geschenkewerkstatt



Eine seltsame Adventsgeschichte

Zeit, Geld auszugeben. Zeit, Geschenke zu kaufen. Höchste Zeit. Es ist der 19. Dezember.
Wenn man es denn hätte,

das Geld.

Du drückst die Nase an einem der Schaufenster platt. Es ist Sonntagabend,
der 4. Advent, 19 Uhr. Die Bahnhofstrasse mit den Schaufenstern im weihnachtlichen Prunk ist verlassen. Alle sitzen in ihren weihnachtlichen Stuben bei Nüssen, Mandarinen, Lebkuchen und der vierten Kerze. Nur du drückst in klirrender Kälte die Nase an einem Schaufenster platt. Nie hättest du gedacht, dass du so was jemals tun würdest. Aber es fühlt sich erstaunlich gut an, das eisige Glas gegen das Gesicht zu spüren. Die Kälte dringt bis ins Gehirn und friert jeden Gedanken ein.
Du betrachtest die weihnachtlich dekorierte Auslage. Ungeweckte wie auch längst gehegte Wünsche liegen da; ob aus Cashmere, Seide, Spitze, Leder, Gold – alle verführerisch drapiert - gebettet unterm prachtvollen Tannenbaum. Die dezenten Preisschildchen sind nicht zu lesen.

Du lässt ab vom Schaufenster, die Wangen leicht unterkühlt. Weihnachtsmärchen aus Kindertagen kommen dir in den Sinn, in denen arme Knaben und Mädchen vor herrschaftlichen Häusern durch große Fenster prächtige Weihnachtsbäume bewundern und dabei in der Eiseskälte erfrieren.

Du schreitest die Straße entlang, darauf bedacht, auf dem festgetretenen, an den Trottoirrand gefegten Schnee zu laufen, weil die Schuhe dabei knirschen.
Wenn man es denn hätte

, knirschen sie Schritt für Schritt – anstatt ein schönes Weihnachtslied wie etwa „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ oder „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ zu knirschen. Nein, sie halten hartnäckig an dem Refrain fest, wenn man es denn hätte, wenn man es denn hätte…


Du möchtest heuer dem weihnachtlichen Ringelreigen entfliehen. Über Geschenke hast du nicht nachgedacht, und Plätzchen hast du auch noch keine gebacken.

Ein Blick ins Schaufenster der Schokolade: Schokolade ist da nicht schlicht Schokolade. Winzige Stückchen werden hier zu Kunstwerken, gehüllt in aufwändig drapierten Krepp-Kreationen, mit Glitter bestäubt und von Engelchen und Weihnachtsmännern bewacht. Keine Preisschilder. Offenbarung gibt’s im Laden.

Sachte beginnt es zu schneien. Kleine Flocken, die sich zusehends vergrößern und sich zu einem weißen Vorhang verdichten, durch den das Licht der Straßenlaternen nur noch spärlich durchdringt, legen sich auf deine Haare. Der Schnee dämpft jedes Geräusch, und die Nacht wird noch leiser. Du gehst jetzt eilig und achtest nicht mehr auf das dumme Knirschen der Schuhe. Der Schnee in deinen Haaren verwandelt sich in eisige Nässe, die langsam deinen Nacken hinabkriecht und deinen Schritt beschleunigt. Du biegst von der mondänen Ladenstraße ab in eine Gasse der Altstadt, die zur Limmat hinunter führt, und gehst schließlich unter den Bögen der „Schipfe“ hindurch. Der Durchgang ist nur von einer Laterne schwach beleuchtet. In den Schaufenstern ist’s dunkel. Plötzlich bleibst du irritiert stehen. Zu einem Stern geordnete Lämpchen leuchten über dem Eingang einer Ladentür. Seltsam, du hast den Laden noch nie bemerkt, er muss neu sein. Im Schaufenster tanzen Lichter. Du trittst näher. „Geschenkewerkstatt“, steht über dem Eingang. Es handelt sich um ein recht sonderbares Schaufenster. Obwohl von undefinierbarem Licht beleuchtet, vermagst du nichts Genaueres zu erkennen. Drei eigenartige Kerzen brennen, eigenartige Lichter flackern, und eine noch eigenartigere Katze mit leuchtenden Augen sitzt im Vordergrund. An der Tür baumelt ein Schild: „offen“. Eine Einladung - so scheint dir -, der du nicht widerstehen kannst.

Du stößt die Türe auf, ein helles Glöckchen wird dadurch betätigt. Ein Duft von Myrrhe, Patchouli, Sternanis und Fichtenharz liegt in der Luft. Der hintere Teil des Ladens ist im Dunkeln, nur der Ladentisch wird von einer Tischlampe erhellt. Ein eigentümlicher, glatzköpfiger Mann, weder alt noch jung, in einem grün-rot karierten Jackett mit grüner Fliege steht dahinter. Er schaut über den Rand seiner auf der Nasenspitze sitzenden Nickelbrille und scheint über die nächtliche Kundschaft, die er mit „einen schönen guten Abend“ begrüßt, nicht erstaunt.
Nähertretend erwiderst du den Gruß und bleibst unschlüssig vor der Ladentheke stehen, wo sich Schachteln in allen Größen türmen. Was willst du eigentlich hier. Einer inneren Eingebung folgend hast du die Schwelle übertreten, doch jetzt fühlst du dich ob deiner Spontanität in Verlegenheit, und eine wachsende Unruhe ergreift dich.

„Wer sollte wie beschenkt werden?“, bricht der Mann das Schweigen und fixiert dich mit seinen blauen Augen.
„Jaaa…“. Du fühlst dich überrumpelt.
„Wen möchten Sie beschenken?“, vereinfacht der Mann seine Frage.
„Ja, wenige“, antwortest du reserviert.
„Aha, Mutter?“, fragt der Mann weiter.
„Nein“, deine präzise Antwort.
Der Mann nickt wohlwissend.
„Vater?“
„Nein.“
„Verstehe. Freund…?“
„Nnnein…“ hebst du an, doch er fällt dir ins Wort: „Nein, sagen Sie nichts, ich weiss schon. Gehen wir es anders herum an. Was möchten Sie denn schenken?“
Doch die eine Frage ist so verwirrend wie die andere. Der Mann scheint aber seine Kundschaft zu kennen. Er schaut dich über den Rand seiner Nickelbrille an und zuckt nicht mit der Wimper, auch kein Augenrollen oder Stirnrunzeln ob deiner Unschlüssigkeit.
„Es darf nicht viel kosten, habe wenig Geld“, sagst du vorsichtshalber.
„Geld…?“, sagt der Mann mit einer Verwunderung, das Wortende dabei zur Frage in die Höhe ziehend, als würde er die Größe Geld nicht kennen. Auch die Augenbrauen zieht er dabei hoch, was seine Verwunderung unterstreicht. Die unbekannte Größe zur Weihnachtszeit!

Irgendwie scheint dir, dass dem hier so ist. Wie du dich jetzt umsiehst, ist da nichts, was an Geld denken lässt. Ein schwerer, bordeaux-farbiger Samtvorhang ist hinter der Ladentheke beidseits mit einer Kordel auf die Seite gebunden. Dahinter befindet sich eine Wand, wo sich Schublade an Schublädchen reihen, winzige zuoberst, die größten zuunterst. Goldene Buchstaben sind aufgemalt.

„Für Geld gibt es bei mir nichts; nichts gibt es hier, das man kaufen kann“, sagt der Mann.
„Also, was möchten Sie schenken? Liebe, Vertrauen, Friede, Zeit, ein Lachen…? Sehen Sie, wir haben alles da“, der Mann deutet jeweils auf die mit dem entsprechenden Buchstaben bezeichnete Schublade. Die F-Schublade ist riesig. Er sieht deinen erstaunten Blick und denkt wohl, du wunderst dich über die Größe der Schublade. „Die Nachfrage ist hier am größten", erklärt er und deutet dabei auf die mit „F“ bezeichnete Schublade.
„Wir können auch eine Mixtur kreieren.“ Bei diesen Worten stellt er einen goldenen Schüttelbecher auf die Ladentheke.
„Ja, ich wüsste jetzt nicht…“, sagst du unentschlossen.
„Sie können sich ja auch selber was schenken, sich eine Freude machen, was wünschen Sie sich?“ Die Geduld des Mannes scheint unerschöpflich.
„Dieses Jahr haben wir auch Märchen im Angebot“, setzt er die Geschenkesuche fort.
„Ach“, sagst du und weißt nicht, wie das funktionieren soll, sagst aber lieber nichts, um dich nicht zu blamieren.
Doch der Mann hat deine Unwissenheit erkannt und erklärt dir das Prozedere:
„Wir packen das Märchen schön ein, Sie nehmen es mit nach Hause, legen es unter den Tannenbaum und am Weihnachtstag öffnen Sie es – ganz einfach. Und die Hauptfigur persönlich wird Ihnen beim Einstieg ins Märchen behilflich sein. Also dann - ein Märchen?“
Du nickst, dein Mund wird langsam trocken, und du weißt nicht, wie dir geschieht.

Der Mann öffnet die M-Schublade. „Also, da hätten wir: 'das tapfere Schneiderlein, den Froschkönig, im Schlaraffenland, der fliegende Teppich…' Beim Letzteren entwischt dir ein kleines „Oh“.
„Ah“, sagt der Mann, deutet es als Zusage und hebt eine kleine Holzschatulle heraus, die er in eine Schachtel verpackt, in prächtiges Weihnachtspapier einschlägt und eine rote Schleife darum bindet.

Irgendwie perplex nimmst du das Geschenk, das er dir mit einem unergründlichen Lächeln und ein schönes Weihnachtsfest wünschend über die Ladentheke reicht, dankend in Empfang. Vorsichtig trägst du es aus dem Laden und eilst nach Hause.
Noch so lange bis Weihnachten!
Du besorgst den schönsten Tannenbaum, schmückst ihn und legst das Geschenk darunter.
Du kannst den 24. Dezember kaum erwarten.
Aber du weißt, dieses Jahr wird es abgehobene Weihnachten geben. -

(c) Jeanne Guesch
2010


chîara







Stürmische Weihnacht



Unbehaglich sah Mara aus dem Fenster. Diese dunklen Wolkenberge, die sich am bleigrauen Himmel auftürmten, gefielen ihr gar nicht. Es sah ganz so aus, als würde sich dort über den Bergen ein riesiges Unwetter zusammenbrauen. Und das ausgerechnet heute. An Heilig Abend.
Seufzend wandte sie sich vom Fenster ab und ließ sich schwerfällig wieder auf das weiche Sofa vor dem prasselnden Kaminfeuer sinken. Liebevoll streichelte sie über ihren weit vorgewölbten Bauch. »Nicht mehr lange, mein Kleines«, flüsterte sie lächelnd. »Bald ist es so weit.« Der Geburtstermin war irgendwann um den Jahreswechsel angesetzt, und sie und Tom waren schon sehr gespannt, ob ihre Kleine wohl noch vor Silvester oder doch erst im neuen Jahr das Licht der Welt erblicken würde. Vielleicht würde es ja sogar ein Neujahrsbaby werden. Aber so oder so, bei so einem Wetter brauchte sie sich auf jeden Fall nicht beeilen.

Ein heftiger Windstoß fuhr durch die Blockhütte, als Tom mit einem Stapel Brennholz im Arm von draußen herein kam. Er stemmte sich gegen die Tür, um sie wieder zuzudrücken und legte mit einem erleichterten Seufzer die Holzscheite neben dem offenen Kamin ab. »Was für ein Weihnachtswetter«, stellte er kopfschüttelnd fest.
Er setzte sich neben Mara auf das Sofa und legte zärtlich die Hand auf ihren Bauch. »Weißt du was, wir lassen heute das Wetter einfach Wetter sein und machen uns hier einen kuscheligen Weihnachtsabend. Was hältst du davon?«
Mara lächelte und kuschelte sich in Toms Arme. Sie war so froh, ihn bei sich zu haben. Mit ihm wirkte sogar der düsterste Wintersturm nur mehr halb so bedrohlich.

Tom stand gerade auf einem Schemel und schmückte die oberen Äste der prächtigen Tanne, als er Mara hinter sich leicht stöhnen hörte. »Ich glaub ich muss mal…« Sie verstummte. Ihre Augen weiteten sich.
Mit wenigen Schritten war Tom bei ihr. »Schatz, was ist denn?«, fragte er erschrocken.
Dann sah er es auch. Ein dünnes Rinnsal floss zwischen Maras Beinen hervor. Entsetzt sahen sie einander in die Augen. Beide lasen darin denselben Gedanken. »Doch nicht… jetzt!«

In Panik flogen Toms Finger über die Seiten des Telefonbuchs, während vor der Hütte der Sturm heulte und an den Fenstern rüttelte. Hebamme, sie brauchten eine Hebamme! Mit zitternden Fingern wählte er die Nummer. Nichts. Leitung tot. Fluchend warf er den Hörer wieder auf die Gabel.
Was nun? Er fühlte sich vollkommen überfordert von der Situation. Es war das erste Mal, dass er Vater wurde und er war überhaupt nicht darauf vorbereitet gewesen, dass es bereits hier in ihrer Winterurlaubshütte so weit sein könnte. Und dann auch noch während so einem vermaledeiten Gebirgssturm!
Er eilte wieder an Maras Seite, die stöhnend und mit gläsernen Augen auf dem Bett lag. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und ihr Körper krampfte sich unter den Wehen zusammen. Tom drückte ihre zitternde Hand. Er konnte es kaum ertragen, ihr Leid zu sehen und ihr überhaupt nicht helfen zu können, nun wo sie es doch am dringendsten benötigte. Er kam sich machtlos vor und klein.
»Jetzt reiß dich mal zusammen«, rief er sich in Gedanken zurecht. »Josef hatte schließlich auch keine Hebamme bei Hand und der ist ja auch gerade erst zum ersten Mal Vater geworden, schließlich heißt es doch ›Und Maria gebar ihren erstgeborenen Sohn‹. Und dann auch noch in einem Stall zwischen Ochsen und Eseln, da haben wir es hier im Vergleich dazu ja richtig komfortabel. Von einem prasselnden Kaminfeuer haben sie im Stall wohl auch nur träumen können, da wäre ja das ganze Stroh in Flammen aufgegangen. Also wirf hier nicht die Nerven weg, Josef hat seine Maria schließlich unter noch viel widrigeren Bedingungen da durchgebracht. Warum solltest du es also nicht auch können?«
Und er biss die Zähne zusammen und versuchte mit beruhigender Stimme Mara so gut wie möglich bei ihrer ersten Geburt beizustehen.

Erschöpft und schweißgebadet hielt Mara ihr Neugeborenes im Arm, während draußen vor der Hütte der Sturm mit unverminderter Stärke heulte und tobte. Tom saß mit feuchten Augen daneben und streckte vorsichtig seine Hand zu der Kleinen aus. Und als sich ihr winziges Händchen um seinen Finger schloss, schien es ihm, als sei soeben ein Weihnachtsstern in der Hütte aufgegangen. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk hätte er sich nicht erträumen können.

(c) Chîara M. Arbour


Habt ihr denn schon alle euren
Weihnachtsbaum ausgesucht?




allesleser




Der Weihnachtsbaum



Lothar Bergmann trat aus dem Eingang des Bürogebäudes in dem er, seinem Gefühl nach, schon seit ewigen Zeiten arbeitete. Er war froh diesen Arbeitstag beendet zu haben. Er und seine Kollegen hatten im Büro während der Vorweihnachtszeit immer sehr viel zu tun. Dies lag daran, dass ein Großteil der Kollegen im Urlaub war.
Lothar hatte dieses Jahr in der Woche nach den Feiertagen Urlaub. Die Vorstellung nach den Festtagen eine Woche frei zu haben, machte ihn glücklich. So konnte er Weihnachten, mit der Vorfreude auf ein paar freie Tage, entspannt genießen.
Er liebte diese Zeit. Diese Tage mit Lichterglanz in den Straßen, mit den geschmückten Geschäften, mit Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern. Er liebte die Vorgärten mit ihren beleuchteten Rentieren, Nikoläusen und Krippen. Er liebte die Spaziergänge über den Adventsmarkt mit dem Geruch nach gebrannten Mandeln, dem Duft der Bratäpfel und dem Wohlgeruch der Duftkerzen.
Traditionell war er in der Familie für den Kauf des Tannenbaumes verantwortlich. Seine Frau war für das Festessen, die Dekoration des Hauses mit diversen Engeln, Weihnachtsmännern, Tannenzweigen und Schneemann-Fensterbildern zuständig. Die Kinder sorgten für die Vorfreude auf die Bescherung und Geschenke.
Heute war nun schon der 23. Dezember. Das hieß morgen war der letzte Arbeitstag. Bis mittags musste er durchhalten. Dann begann für ihn die schönste Zeit des Jahres. Was den Kauf des Baumes betraf, war er dieses Jahr später dran als die Jahre zuvor. Es war sozusagen fünf vor zwölf.
Er betrat den firmeneigenen Parkplatz, schloss seinen Wagen auf, startete und fuhr los. Er würde auf seinem Weg nach Hause an der Gärtnerei Huber vorbeikommen und dort den Weihnachtsbaum kaufen. Es sollte natürlich, wie jedes Jahr, der schönste und größte Baum sein, den die Familie je hatte.
Bei der Gärtnerei angekommen ging er die Paradereihe der Tannenbäume ab. Da gab es die Reihen der Fichten mit ihrem buschigen Wuchs, dünnen Zweige und hellgrünen Nadeln, die Blaufichten mit dem bläulichen Schimmer im Nadelkleid und den kräftigen Ästen. Der Gruppe der Edeltannen schenkte er besondere Aufmerksamkeit. Ihm gefielen ihre dicken, nicht stechenden Nadeln, die Farbe der Bäume variierte von grün bis silbrig-grau. Die Nordmanntannen ließ er außer Acht. Auch sie hatten zwar weiche, nicht stechende Nadeln, doch mochte er ihre dunkelgrün glänzende Farbe nicht.
Da er unter den anderen Bäumen keinen geeigneten gefunden hatte, ging er noch einmal die Reihen der Fichten ab. Ihm fiel ein Baum auf, der ihm vorher entgangen war. Die Fichte ging ihm mal gerade bis zur Brust. Die Zweige sahen etwas spärlich aus, waren sehr ungeordnet, auf einer Seite war sogar eine ziemliche Lücke im Geäst. Diese Fichte aber zog ihn merkwürdigerweise an, obwohl sie alles andere als ein Muster eines Weihnachtsbaums war. Sie stach aus den anderen Bäumen hervor. Warum konnte Lothar Bergmann nicht sagen.
Er suchte jedes Jahr immer wieder aufs Neue nach dem vollkommenen Baum und hatte ihn nie gefunden.
Warum gefiel ihm nun diese Fichte? Sie war mit Sicherheit nicht vollkommen. Er selbst, Lothar Bergmann, war aber auch nicht vollkommen. Er war nicht groß gewachsen, seine linke Schulter ließ er immer herunterhängen, sein rechtes Bein war, bedingt durch einen Unfall, in seiner Beweglichkeit eingeschränkt. Seine Frau hatte schon seit längerem ein Hüftleiden, sein jüngster Sohn litt an Dermatitis. Wenn er an seine Arbeitskollegen dachte, fiel ihm nicht einer ein, der nicht über irgendetwas jammerte. Wer war also schon vollkommen? Warum sollte er sich also einen vollkommenen Tannenbaum ins Wohnzimmer stellen?
Dieser Gedanke und der Baum, gefielen ihm immer besser. Er ließ sich den Nadelbaum in ein Netz packen und fuhr nach Hause. Wie würde Helene und seinen Kindern der Baum gefallen? Hoffentlich konnte er ihnen deutlich machen, was ihn veranlasst hatte, gerade diese Tanne zu nehmen. Als er den Baum auf die Terrasse verfrachtet, ihn aus dem Netz gezogen und seine Familie zur Begutachtung herbeigeholt hatte, erlebte er eine Überraschung. Seine Kinder lächelten, als sie den Baum sahen und seine Frau meinte erfreut: „Lothar, endlich schleppst Du uns nicht einen deiner Protz-Weihnachtsbäume an, sondern einen ganz normalen Baum. Das freut mich.“
Am Heiligen Abend, als die Fichte geschmückt im Wohnzimmer stand, meinte Lothar, dass die Wachskerzen am Weihnachtsbaum heller leuchteten als in all den Jahren zuvor. Der Baum selbst strahlte, verbreitete Wärme und Besinnlichkeit.

(c) Rainer Güllich





szirra







Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte



Im Supermarkt um die Ecke herrschte, während ich meinen Einkauf tätigte, wenig Betrieb. Es lag wohl an der Uhrzeit, denn normalerweise kaufte auch ich nicht mehr abends gegen neunzehn Uhr meine Lebensmittel ein. Es befanden sich nur noch eine Hand voll Kunden und wenige Verkäufer in diesem Geschäft. Ob es sich lohnt bis zwanzig Uhr geöffnet zu haben? Ich hatte schon lange meinen Zweifel daran, jedoch somit genügend Zeit, vor allem Platz, um mich in den Gängen frei bewegen und in friedvoller Ruhe die Preise vergleichen zu können. Einer von diesen Jugendlichen, die, die nicht erkannt werden wollen indem sie sich in ihrer Kleidung verstecken, übergroße Jeans, die in den Kniekehlen hängen, schlabberige schwarze Sweatshirts mit Kapuze, die den Kopf bedecken, darunter ein Base-Cap, welches tief ins Gesicht gezogen wird um nicht einmal annähernd die Nasenspitze preiszugeben, Turnschuhe, deren Schnürsenkel nicht gebunden sind, so wie wir es einmal gelernt hatten, schlurfte mit gesenktem Kopf an mir vorbei. Sein Augenmerk schien das Zeitschriftenregal in der Nähe der Kasse am Ausgang zu sein. Ich schenkte dem Jugendlichen keine Beachtung mehr und setzte meinen Einkauf fort. Wenig später begab ich mich zur Kasse, legte meine Waren auf das Band und warf noch einen Blick auf das Regal mit den Zeitschriften. Der junge Mann stand wie angewurzelt dort, interessierte sich wohl ausgiebig für ein Comic, denn er blätterte bedacht und schien darin vertieft zu sein. Ich entschied mich aber meinen Einkauf mit der Bezahlung hier zu beenden und den Einkaufswagen schiebend verließ ich den Markt. Draußen vor dem Eingang hielt ich inne, überlegte noch kurz, ob ich auch nichts vergessen hatte, als mich plötzlich jemand unsanft an die Seite schubste. Im Vorbeieilen erkannte ich den Jungen, der sich hier aus dem Staub machte. In seiner rechten Hand hielt er etwas fest, sicherlich das Comic, das er so interessiert studierte, als ich ihn aus den Augenwinkeln von der Kasse aus beobachtet hatte. Aufgrund seiner Eile vermutete ich, dass er das Heft wohl nicht auf ehrliche Weise erworben und deswegen fluchtartig den Supermarkt verlassen hatte. Kurz darauf stürzte auch einer der Verkäufer aus dem Laden, hetzte hinter dem Dieb her um ihn zu stellen, jedoch ohne Erfolg. Der Dieb war ohne Zweifel geübter im Rennen, als der angesäuerte Verkäufer des Supermarktes, denn er verschwand in der Dunkelheit dieses trüben Herbstabends. Keuchend und mit schlaffen Schultern stolperte der Mann im weißen Kittel zurück zu seinem Arbeitsplatz. Gedankenverloren und froh, bald zu Hause zu sein, setzte ich meinen Weg fort. Diese trübseligen Abende verbringt man doch besser in heimischer Umgebung, gemütlich auf der Couch sitzend und Tee schlürfend, denn das Schmuddelwetter, welches uns seit Jahren beschert wurde, ließ uns das Ende des Jahres nicht unbedingt verlockend erscheinen, auch wenn Weihnachten quasi vor der Türe stand. Aber zu einem Weihnachtsfest gehörte nun einmal Schnee und Kälte. Wegen eines Widerstandes, der das linke Vorderrad meines Einkaufswagen blockierte, wurde ich aufgehalten. Ich hegte zuerst nicht die Absicht mich zu bücken, um es an die Seite zu befördern, entschied mich aber dann doch, dieses zu tun, damit nicht der nächste Kunde darüber straucheln sollte. Überrascht stellte ich fest, dass es sich um eine Geldbörse handelte. Eine abgegriffene, schwarze, aus Kunstleder bestehende Geldbörse, die nicht sonderlich wertvoll aussah. Vielleicht hatte sie ja auch jemand achtlos weggeworfen. Diesen Gedanken verwarf ich aber wieder und öffnete diese, um den Besitzer ausfindig zu machen, der den Verlust seiner Börse bestimmt schon bedauerte. Geld war darin nicht zu finden, um so mehr überraschte es mich, als der Ausweis des geflüchteten Jugendlichen zum Vorschein kam. Robin, so hieß also der Dieb und er war gerade erst 16 Jahre alt geworden, für seine Tat aber absolut verantwortlich. Welch ein Jammer, wegen eines Comics, das keiner vermisste, und auch die Tat als solches keinen finanziellen Schaden anrichtete, zum Dieb zu werden. Jedoch war die Rechtslage eindeutig. Nun, was sollte ich tun? Zurückgehen, in den Supermarkt um den Jungen zu verraten? Nein, ich entschied mich dagegen, steckte das Portemonnaie in meine Tasche und mit dem Gedanken, ihn aufzusuchen ,um ihm sein Eigentum zurück zu geben, fuhr ich schließlich nach Hause. Dort angekommen, legte ich die fremde Geldbörse auf meinen Schreibtisch und nahm mir vor, im Laufe der nächsten Tage ihren Besitzer aufzusuchen. Im Wirrwarr meiner persönlichen Dinge auf dem Schreibtisch, verlor ich das Portemonnaie aus den Augen und leider auch aus dem Sinn. Die Feiertage rückten näher und noch immer hatte ich nichts geplant für den heiligen Abend. Auch nach Weihnachtsputz war mir nicht zu Mute und noch nie wirklich gewesen. Für wen sollte ich auch putzen? Ich erwartete niemanden, die letzten Jahre in meinem Leben lebte ich schon lange alleine. Die genaue Zahl der Jahre war mir entfallen. Zu lange schon, aber seit meine Frau gegangen war, die Gute hatte ihren letzten Aufenthaltsort bereits vor langer Zeit schon gefunden, legte ich weniger Wert auf Reinlichkeit, auf das Leben und alles was damit verbunden wurde. Die Einsamkeit frisst Herz und Seele und lässt schwermütige Gedanken aufkommen. Weihnachten, das Fest der Liebe und Geschenke, für Kinderaugen unverzichtbar, für mich jedoch endlos lange Tage, die das Alleinsein noch unerträglicher machen. Mein Schreibtisch, unabhängig davon, hatte eine Aufräumaktion bitter nötig. Schon lange schob ich die Dinge darauf hin und her um Verlorenes oder Verlegtes wiederzufinden. So fand ich auch die Geldbörse wieder, die, die ich ja schon längst seinem Besitzer aushändigen wollte. Der nächste Tag würde der Tag sein, an dem der Junge endlich sein Eigentum wieder erlangen sollte. Dabei übersah ich, dass der Kalender bereits den 24. Dezember ankündigte. Dieser Tag war wie all die anderen Tage in den letzten Wochen. Nichts Besonderes schien sich zu ereignen, darum beschloss ich nun, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ich zog meinen grauen Wintermantel an, setze meinen Hut auf, der nicht unbedingt wärmte, steckte die Geldbörse ein, streifte die alten gestrickten Handschuhe über, die meine Frau einst so liebevoll angefertigt hatte, und verließ meine Wohnung. Seine Adresse hatte ich mir eingeprägt, es war auch nicht sonderlich schwierig, denn ich bin in dieser Stadt aufgewachsen, ich kannte jede Ecke, jeden noch übrig gebliebenen Baum und jede Straße, immerhin lebte ich nun schon 53 Jahre hier. Oh Mann, wie doch die Zeit verging, damals stand dort nur eine alte Mühle, darum bekam die Straße auch den bewährten Namen, Mühlenstraße. In dieser Gegend wohnte Robin also, keine schöne Ecke um Kind zu sein. Das Viertel dieser Stadt bestand aus lauter Hochhäusern, die mit zehn oder zwanzig Stockwerken erbaut waren und weit in den Himmel ragten. Dagegen wirkten die Reihenhäuser mit zwei Stockwerken, in denen ich eine Wohnung besaß, wie Streichholzschachteln. Der Supermarkt, in dem der Junge zum Dieb wurde, war nicht weit entfernt, somit war es kein Wunder, dass er so schnell in der Dunkelheit verschwinden konnte. Ich erreichte gegen siebzehn Uhr die Mühlenstraße, längst dunkelte es um diese Jahreszeit und der Wind pfiff um die Häuserecken. Jetzt musste ich nur noch das passende Hochhaus zu der Hausnummer ausfindig machen, die in seiner Adresse im Ausweis vermerkt war. Hier sah jeder Eingang wie der andere aus, aber die Hausnummern verhalfen einem sich nicht zu verirren. Schließlich stand ich vor dem richtigen Komplex. Eine Menge Klingeln lachten mich aus, denn auf welche sollte ich nun drücken? Die Hälfte davon war unleserlich gekennzeichnet, oder der Rest der Klingeln war namenlos. Ich trat ein, der Geruch, der mir entgegen strömte ließ mich Schlimmes erahnen. Die Wände beschmiert mit Schriften, Muster, oder einfach nur willkürlich mit Farbe versehen. Der Schmutz und der Abfall auf der Treppe lagen bestimmt schon sehr lange dort, ohne dass sich jemand darum scherte. Der Aufzug schien intakt zu sein, aber anhand der Signaturen in der Farbe hatte auch er gelitten. Ich entschied mich die Treppe zu benutzen. Jede Wohnungstür schritt ich ab, bis ich endlich im dritten Stock den Nachnamen von Robin an einer dieser renovierungsbedürftigen Holztüren las. Der Klingelknopf ließ sich problemlos betätigen und ich wartete mit Spannung auf das Öffnen der Türe. Es dauerte eine Weile bis ich jemanden hinter dieser hören konnte. Dann endlich wurde sie quietschend geöffnet und eine alte blinde Frau krächzte glücklich: „Robin, endlich, ich wusste doch, dass du deine Oma zu Weihnachten nicht vergisst.“ Sie breitete ihre knochigen Arme aus, um ihren Enkel umarmen zu können. Ich wusste nicht, warum ich es tat, aber ich tat es. Ich antworte: „Ja Oma, ich bin gekommen, damit du heute nicht alleine sein musst.“ So drückte ich die Alte und schob sie zurück in ihre Wohnung. „Komm, komm mein Junge“, sagte sie glücklich, „ich hoffe, du bringst etwas Zeit mit.“ Der Anblick der Wohnung lud mich zwar nicht gerade ein, aber was konnte man von einer alten blinden Frau erwarten. Ich glaubte, dass Robins Oma es wusste, dass ich nicht ihr Enkel war, denn an meiner Stimme und an meiner Statur musste sie es erkannt haben, daran gab es keinen Zweifel. Jedoch verharrte ich in der Rolle ihres Enkels. Wir kochten und schwatzen, sie berichtet aus vergangenen Zeiten und blühte noch einmal für eine kurze Weile auf, dabei deckte ich den Tisch für uns beide, sogar eine Flasche Rotwein spendierte Oma Mia um dem Weihnachtsessen eine besondere Stimmung zu verleihen. Es war ein perfektes Essen. Wir lobten uns gegenseitig für die gute Küche und amüsierten uns noch eine lange Zeit über dies und das. Schließlich holte die Müdigkeit Oma Mia ein, ich verhalf ihr in ihrem, die Jahre überdauerten Ohrensessel Platz zu nehmen, deckte sie zu und spülte danach das Geschirr. Als ich wieder zu ihr hin trat, schlief sie friedlich, mit leicht geröteten Wangen und leise schnarchend wie ein Baby, ich vermutete, dass es an dem Rotwein lag, eingehüllt in ihrer abgenutzten Decke, in dem alten Sessel. Ich verabschiedete mich leise von ihr, legte die Geldbörse von Robin auf den Küchentisch, verließ die Wohnung und trat meinen Heimweg an. In meinen eigenen vier Wänden sinnierte ich noch eine lange Zeit über das Erlebte und war mir sicher, dass Oma Mia seit langem wieder ein schönes Weihnachten erlebt hatte, so wie ich. Eine größere Freude hätte Robin ihr nicht machen können. Ich überlegte, ob ich Oma Mia noch einmal aufsuchen sollte, vielleicht um mit ihr über das Geschehene zu plaudern, ihr zu sagen, wer ich wirklich war, ein Mann im gestandenen Alter, und dass ich mich Paul zu nennen pflegte. Dieses Mal wollte ich aber nicht so viel Zeit verstreichen lassen, denn mir tat die alte Dame leid, so alleine in der unschönen Bleibe, auch wenn sie blind war, sollte sie doch im Alter ein Heim unter Menschen haben. Ich beschloss nach den Feiertagen, sicherlich hatten ihre Angehörigen diese Tage mit ihr verbracht, Oma Mia ein weiteres Mal zu besuchen. Mein Gewissen plagte mich, obwohl ich nichts Verbotenes getan hatte, ich schlief unruhig des Nachts und auch tagsüber ließen meine Gedanken mich keineswegs ohne Oma Mia sein. Kurzentschlossen zog ich meinen Wintermantel an, vergaß den Hut und die Handschuhe und eilte hinaus in die Kälte. Silvester sollte Oma Mia nicht alleine sein. Ich eilte durch die Straßen, durch die Dunkelheit und außer Atem erreichte ich, immer noch rechtzeitig um mit ihr ein Abendessen zu zaubern, den Block in dem die alte Dame ihr trauriges Dasein verbrachte. Schnellen Schrittes bezwang ich die Treppen bis in den dritten Stock, den langen Gang entlang und blieb erschöpft vor Oma Mias Wohnungstüre stehen. Ich klingelte, wartete, klingelte erneut und wartete eine weitere Weile, nichts rührte sich. Aus der gegenüberliegenden Wohnung blickte mich neugierig eine Frau mittleren Altes an, ich grüßte höflich und fragte nach Oma Mias Befinden und warum sie nicht öffnete. Die Nachbarin sah mich vorwurfsvoll an und erwiderte: „Sie kommen leider zu spät, mein Herr, man trug sie gestern aus dem Haus.“

(c) szirra


sundown






Am Ende der Gasse



Langsam schritt der Mann die Straße entlang. Die Kälte kroch unter seinen Mantel, doch schien er es nicht weiter zu bemerken. Tief atmete er die Luft ein, die ihm sauberer anmutete als sonst. Ein wenig, dachte er, riecht es sogar nach Schnee. Er war dankbar für die Kälte, sie legte sich wie ein schützendes Tuch über den Gestank, der sonst über der Gasse hing. Im Sommer war es unerträglich, setzte er sich doch in allen Poren fest. Den anderen Menschen, die hier lebten, schien es nichts auszumachen, doch er hasste diesen widerlichen Geruch, der aus allen Ritzen der Häuser quoll.
Christa, dachte er, wie hältst du es hier nur aus?
Er wusste die Antwort, verbat sich aber in diesem Moment daran zu denken. Leider blieb es bei diesem Versuch.
Wenn er an Christa dachte, sah er nicht nur sie, auch zwei Kinderaugen blickten ihn an. Augen die er nie mehr sehen würde.
Außer in seinen Träumen. In Christa sah er sie schon lange nicht mehr, obwohl sie die gleichen Augen hatte wie Colin.
Colin - sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ein Jahr ist es nun schon her, doch für ihn war es, als hätte erst gestern die Polizistin an seiner Tür geklingelt.
Mach du auf, hatte Christa gerufen, ich muss noch den letzten Stern am Baum befestigen.
Komisch, ich kann mich nicht mehr erinnern, ob sie es noch getan hat.
Seit diesem Tag war nichts mehr wie vorher.
Stumpf liegen seitdem Christas Augen in tiefen, wundgescheuerten Höhlen. Nie mehr hatte sie zu ihm gesprochen. Ihn nie mehr berührt.
Wie eine leblose, starre Puppe saß sie seitdem, Tag ein Tag aus, auf ihrem Sessel.
Aß nur, wenn er sie fütterte, und ließ sich erst ins Bett führen, wenn die nahe Turmuhr Mitternacht schlug.
Er hatte seine Arbeit aufgeben müssen, um bei ihr sein zu können. Für seine Trauer blieb nur Platz auf den wenigen einsamen Spaziergängen, die er sich zuweilen gönnte.
Vor ein paar Monaten waren sie nun hier gelandet. In dieser Gasse, am Rande der Gesellschaft. Christa bemerkte es nicht einmal, dass sie aus dem Haus in der Blue-street ausziehen mussten, weil er die Miete nicht mehr zahlen konnte.

Ich müsste ihr einen Christbaum besorgen, auch wenn ich dafür mein letztes Geld geben müsste. Es ist doch Weihnachten.
Der Gedanke an einen Baum ließ den Mann ein wenig schneller gehen. Mittlerweile war es dunkel geworden. Gleich ist Ladenschluss, vielleicht hat der Discounter dort an der Ecke noch einen kleinen Baum für mich, dachte er. Es ist zwar schon morgen Heiligabend, aber ein Baum, klein und krumm und schief, blieb doch immer übrig.
Zwei Mülltonnen standen ihm im Weg und ärgerlich schob er sie beiseite.
Arm, dachte er, arm heißt doch nicht, dass alles verwahrlosen muss.
Als aus einer der Tonnen ein kläglicher Laut zu hören war, blieb er verwirrt stehen. Neugierig geworden schob er vorsichtig den Deckel beiseite. Sicherlich haben sie wieder versucht ein paar Katzenkinder loszuwerden. Wäre nicht das erste mal, dass er so etwas fand.
Das erste was er sah, war eine rote Wolldecke, die sich bewegte. Er hob das Bündel aus der Tonne, schlug die Decke zurück, und hätte es vor Schreck beinahe fallen lassen.
Zwei Händchen streckten sich ihm entgegen und ein weinerlich verzogenes Gesicht lugte aus der Decke hervor.
Völlig erstarrt und ungläubig schaute der Mann auf dieses kleine Lebewesen.
Wer um alles in der Welt hatte so etwas getan, fragte er sich, nachdem der erste Schreck überwunden war. Geistesgegenwärtig schob er das Kind unter seinen Mantel, um den kleinen Körper zu wärmen.
Dich schickt der Himmel, dachte er. Anders kann es nicht sein. Es muss so sein, Gott hat mich auserwählt, dich zu finden. Beruhigend flüsterte er auf das Kind ein.
Vorsichtig sah er sich um, in der Erwartung, dass gleich jemand hinter ihm schreien würde. Doch die Straße war verlassen, so wie vorhin auch schon.
Mechanisch drehte er um und eilte die Gasse entlang. Christa, rief sein Herz, Christa, ich komme nach Hause. Nein, verbesserte er sich rasch, wir kommen nach Hause.
Den Stern, der heimlich am Himmel zwinkerte sah er in seiner Freude nicht.
Doch das störte diesen in keinster Weise. Er blinkte noch ein wenig und zog dann weiter seine heimlichen Bahnen.

(c) Perdita Klimeck





Die Kaiserin Auguste Victoria überreichte der christlichen Gemeinde zu Jerusalem
"Die Heilige Schrift", als sie 1898 das Heilige Land besuchte



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Weihnachten in Bethlehem

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1980 in Tel Aviv, am Morgen des christlichen „Heiligabend“. Gänzlich unverhüllt strahlt die Sonne vom Himmel, lässt Hibiskusblüten aufleuchten in den prallgrünen Hecken vor den Häusern, und wir haben schon am Vormittag fast 20 Grad plus. Früh sind wir – meine Töchter und ich – aufgestanden; wir haben für heute etwas Besonderes vor. Diesen Tag wollen wir nicht zu Hause in Tel Aviv, sondern in Bethlehem verleben, an dem Ort, an dem das Jesuskind geboren wurde.
Der Autobus Chamesch (Nr 5) ist knüppeldick voll mit Fahrgästen. Es ist Mittwoch und ein ganz normaler Arbeitstag in Israel. Das jüdische Chanukka (Lichterfest) ist gerade zu Ende gegangen, die normalen Landeseinwohner strömen ihren Arbeitsplätzen zu. Ein junges Paar quetscht sich herein; auf den Schultern die Riesenrucksäcke weisen auf Touristen hin. Der Mann hat zusätzlich vor dem Bauch im Tuch ein Kind. Wir hören, sie reden deutsch. „Na, so hab ick mir det ja nich jedacht, det wir noch paarmal umsteigen müssen. Ick dachte, det jeht jlatt durch!“ Etwas hilflos sehen sie um sich. Niemand kümmert sich darum, Geplauder, mehr oder minder angeregt, wogt auf und ab. Der Blick des jungen Mannes streift mich und meine zwei Mädels, er murmelt, eigentlich zu sich selbst sprechend, vor sich hin: „Mensch, wenn wa doch jemand fragen könnten!“ Ich grinse leicht. „Versuchen Sie es doch mal!“, fordere ich ihn auf. Fassungslose Miene: „Wat denn, Sie verstehn mich?“ Ich bin voller Aufklärungseifer: „Es sprechen hier noch sehr viele Leute deutsch, es war sogar mal ihre Muttersprache, ehe sie das Vaterland wechseln mussten.“
Meine ältere Tochter, Marliese, schubst mich heimlich. Ich weiß, sie befürchtet, ich könne jetzt ins Quatschen kommen. Das hat sie nicht so gern. Ich dagegen lasse mich nicht gern bevormunden, so haben wir häufig Meinungsverschiedenheiten. Aber heute ist Heiligabend, heute bin ich friedlich gestimmt und frage den Berliner nur salopp: „Wo wollen Sie denn hin?“
„Erst mal zur Bushaupthaltestelle. Und dann umsteigen. Eijentlich wolln wa nach Bethlehem. Sind extra aus Deutschland jetürmt, weil uns det da allet auf´n Keks jeht, det janze Lametta und der Jeschenkerummel. Aba man find´t sich ja hier janich zurechte.“
„Wir wollen auch…“, fange ich an und verschlucke den Rest, weil mich ein schmerzhafter Rippenstoß von hinten traf. Da steht Marliese und tut, als höre sie nichts von dem, was um sie herum vor sich geht. Ich verstehe. Wir hatten uns vorgenommen, für uns zu bleiben, frei und unabhängig das tun zu können, was nur uns Spaß macht; Anhängsel, denen wir Zugeständnisse machen müssen, wollen wir heute keine, deutsche schon gar nicht. Ich huste und vollende den Satz möglichst unverfänglich. „Wir wollen auch – zur Tachana. Dort steigen Sie in den Bus nach Jerusalem. Von da aus geht es dann weiter nach Bethlehem. Ist ganz einfach.“ „Ach Jott, ach Jott, und denn det allet inne Hitze. Isset hier immer so?“
„Nein“, sage ich fröhlich. „Noch viel wärmer!“
Marliese drängelt sich vor. Sie plagt sich damit, den Riesensack in ihren Händen zu schützen. Wir haben ihn morgens bis obenhin mit Keksen gefüllt und wollen nicht nur mit Krümeln ans Ziel kommen. Es ist unser Plan, die Kinder in Bethlehem, die uns begegnen, mit selbst gebackenen Weihnachts-Schoko-Butterplätzchen zu beglücken. Einfach so!
Jerusalem ist ein häufiges Wochenendziel für uns, aber heute durchqueren wir mit dem Bus die ganze Stadt, um sie wieder auf der anderen Seite zu verlassen. Ganz hinten sitzt die Berliner Familie und hat anderen Anschluss bekommen Ein vielfältiges Stimmengewirr und das Sprachgemisch verschiedenster Idiome umgibt uns. Weihnachten im Heiligen Land, in geheiligter Umgebung zu verbringen, das ist Begehren und Ziel zahlreicher Touristen aus aller Welt, die sich nun von inländischen Autobussen weiter nach Bethlehem verfrachten lassen.
Unsere Straße führt südwärts an Rachels Grab vorbei, und nach kurzer Fahrt durch ein wüstes Gebiet haben wir Bethlehem (was „Haus des Brotes“ heißt ), erreicht. Falafelstände erwarten uns, und wirklich stürzen sich etliche Touristen sofort heißhungrig darauf, als wären sie seit Tagen mit nichts Essbarem in Berührung gekommen. Marliese, der Teenager, zieht abfällig die Mundwinkel herunter.
Ich frage meine Mädels: „Seid ihr hungrig?“ Sie schütteln die Köpfe. Bloß essen, des Essens wegen? Ist von uns allen nicht so das Ding. Wir gehören nicht zu den uns umschwirrenden Touristen aus fernen Ländern. Wir sind hier einfach zu Hause, und unsere Umhängetaschen beinhalten eigene Verpflegung: Pitot und Weißkäse. Wir könnten uns an den nächsten Straßenrand setzen und picknicken - verhungern würden wir nicht! Wenn alle Stränge reißen, der Keksesack ist ja auch noch prall gefüllt.
Kleine braunhäutige Araberjungs umwieseln uns und machen sich mit Geschenkartikeln an die genormten Reisenden heran. Die meisten Ladies der Touristentrupps tragen riesige Strohhüte, ihre Männer schützen sich durch kleine Kibbutzhütchen, und den meisten baumelt die Fotoausrüstung vor dem Bauch. An uns drei rennen die Jungs vorbei. Wir fallen kaum auf, höchstens durch Tinas weizenblonde Haare. Wir wollen auch gar nicht zu den Touristen gezählt werden. Seit fast einem Jahr leben wir in Erez Israel und fühlen uns absolut den inländischen Bürgern mit allem Drum und Dran zugehörig.
Aber in Bethlehem sind wir auch zum ersten mal. So schlängeln wir uns an eine englische Gruppe heran, die sich ihren eigenen Guide mitgebracht hat. Vielleicht können wir davon doch profitieren. Er geht seiner braven Herde voran, einen meterlangen Stock in Sichthöhe für alle hochhaltend. An seiner Spitze flattert ein buntes Tüchlein, denn jede genormte Gruppierung liebt etwas Fahnenähnliches, als wäre das ein Freiheitssignal. Mit allumfassender Handbewegung erklärt er nun seinen Schäfchen: „Dort drüben sehen Sie Shepherds Fields, das Feld der Hirten. Ein Engel verkündete hier den Schäfern die Geburt Jesu.“
Ein allgemeines Einatmen durchweht wie ein laues Lüftchen die Menge, die sich erschauern fühlt durch das bis in die Gegenwart reichende Mysterium. Davon werden sie noch nach vierzig, fünfzig Jahren ihren Nachkommen berichten…
Marliese, Tina und ich machen kehrt und finden uns in einer Seitenstraße, die so gut wie menschenleer ist. Die Temperatur beträgt inzwischen gewiss schon 25 Grad. Wir hoffen, sie steigt nicht. Wir schwitzen. Zwei, drei Kinder, die wir erblicken, lassen uns unsere Mission einfallen.
„Bringt den Kleinen doch paar von unseren Keksen rüber!“ fordere ich meine Mädels auf. Tina ist begeistert, sie hat keine Kontaktschwierigkeit. Marliese dagegen mault leicht. „Kannst du das denn nicht selber machen, Ihma?“ Ich seufze, denn die Schwierigkeit, locker auf Fremde zuzugehen, hat meine Ältere wohl von mir als Erbe mitbekommen. Tina zieht eine Tüte aus dem Säckchen und rennt auf die arabischen Kinderchen zu. Als die jedoch den kleinen blonden Engel auf sich zuflattern sehen, springen sie auf und ergreifen die Flucht. Tina stoppt verblüfft, kommt zu mir zurück und erkundigt sich: „Warum laufen die vor mir weg?“ Ich zucke mit den Achseln und halte nach neuen kleinen Opfern unserer überströmenden Gebefreudigkeit Ausschau.
Es scheint sich aber wie ein Lauffeuer zu verbreiten, dass da irgendwelche sonderbaren Leute mit Tüten herumgehen und vielleicht Bomben schmeißen wollen… Wir haben das Gefühl, aus finsteren Fensterhöhlen genau beobachtet zu werden. So hatten wir uns das eigentlich nicht vorgestellt.
Betont fröhlich schlage ich meinen Mädchen vor: „Kommt, gehen wir erst mal zur Geburtskirche, da - wo der Patriarch aus Jerusalem - erwartet wird, um den Heiligen Abend einzusegnen.“
Der große Platz zwischen Omar-Moschee und gegenüber liegender Geburtskirche ist abgesperrt durch Israelis mit Gewehren. Als Vorsichtsmaßnahme ihrerseits, lassen sie die Besucher nur einzeln herein. Endlich sind wir innerhalb der Absperrung, in der sich sehr viele Araber befinden, erkennbar an Burnus und der obligaten Kopfbedeckung, der Kefiye. Nicht lange, und es werden verschieden gekleidete Scharen junger Menschen gruppenförmig heranziehen, fast den Eindruck einer karnevalistischer Zeremonie erweckend. Unweit von uns stehen kirchliche Würdenträger, in weißen Kutten, christliche Araber bekreuzigen sich fromm.
„Wann passiert denn nun endlich mal was, Mutti?“ Tina ist gelangweilt und fängt an zu nerven. Woher soll ich denn wissen, was wann passiert? Ich schlage vor, in die Geburtskirche hinein zu gehen. Dort drinnen die Geburtsgrotte, die sich an der Stelle befindet, an der Maria mutmaßlich das Jesuskind zur Welt brachte, würde ich mir schon gerne anschauen.
Irgendwann einmal im ständig stürmischen Schicksalsverlauf dieses Landes wurde die im Jahr 333 erbaute Kirche von irgendwelchen – ich glaube türkischen – Invasoren als Reitstall genutzt. Als diese Horden endlich abzogen, mauerte man das Tor der Kirche als Schutzmaßnahme gegen erneute Requirierung zu, bis auf einen für Liliputanergröße zugeschnittenen Durchlass, den man nur gebückt durchschreiten kann. Wir sehen mehrere junge Leute, die versuchen, einen gelähmten Kameraden in das Innere des Gebäudes hinein zu bugsieren. Zwei stehen bereits drin, packen seine Beine, während einer draußen ihm unter die Arme greift, um ihn hineinzuschieben. Endlich sind auch wir drin. Fromme Touristen und einfach nur neugierig fotografierende Besucher mischen sich durcheinander. Wir verfallen unwillkürlich auch in den allgemein gehandhabten Flüsterton, und plötzlich hören wir einen geradezu engelhaften Gesang auftönen. In der Geburtsgrotte knien katholische Schwestern und singen christliche Weihnachtslieder, in die viele Touristen andächtig einstimmen.
Auf der anderen Seite der Kirche kommt man leichter wieder nach draußen. Wir wandern über eine nach oben führende Straße. Ein koptischer Priester lächelt uns entgegen und lädt uns mit beredten Gesten ein, eine winzige, in den Felsen geschlagene Höhle zu betreten, die sich als Minikirchlein entpuppt. Er sieht mich einige Schekel in eine Opferschale legen, nimmt ein Kreuzlein aus Olivenholz, küsst es und überreicht es mir. Dann besuchen wir noch „Marias Milchgrotte“. Hier verharrte die Heilige Frau vor der Flucht nach Ägypten, um ihren kleinen Sohn zu stillen.
Wieder zurück auf der Straße, versuchen wir erneut, uns von unserem Keksvorrat zu befreien. Diesmal gehe ich mit gutem Beispiel voran, halte eine Frau mit Kind an, ziehe einen Keks aus der Tüte und mache die Geste des Hineinbeißens. Dann nehme ich einen zweiten und halte ihn der arabischen Mutter hin, auf das Kind deutend, dessen große, braune Kulleraugen das Gebäck anstarren. Ich habe Glück. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens nickt sie dem Kind zu. Das schnappt nach dem Plätzchen, rennt weg und zeigt es einigen anderen, die im Straßenstaub spielen. Nun ist der Damm gebrochen. Von verschiedenen Seiten kommen sie gerannt und bilden einen Kreis um uns drei. Alle wollen sie einen Keks, und sie bekommen ihn auch. Es reicht – Baruch ha Schem - für die ganze Schar. Arabische Eltern kommen aus ihren kleinen Häusern und Hütten, durch das Gelächter und fröhliche Geschrei ihrer Kinder gelockt. Dann nähert sich ein junges Paar mit einer selbstgebastelten Karre, in der sie ein Kind schieben. Wir reichen dem Kleinen auch einen Keks, da packt der Mann mich am Arm, hält mich fest, die Frau fängt an, mit aufgerissenen Augen auf mich einzureden. Ich bekomme es mit der Angst zu tun und versuche ihnen mit meinem großartigen Englisch klarzumachen, dass ich ihr Kind keineswegs zu vergiften versuche, - im Gegenteil. Heute ist doch Christmas, und alle Menschen sollten sich freuen.
Marliese ist aufgrund ihres Sprachtalentes wieder mal meine Retterin. „Du“, sagt sie halblaut, „stell dich doch nicht so dämlich an, die wünschen uns nur ein - Merry Christmas -. Sie sagen immerzu, dass sie uns mitnehmen wollen.“ „Mitnehmen, wohin denn um Himmelswillen?“, frage ich konsterniert. Marliese zuckt die Achseln. „Woher soll ich das denn wissen! Wenn wir mitgehen, werden wir es herausfinden.“ Das Elternpaar ist verstummt. Sie merken genau, wer hier bei uns das Sagen hat und verlassen sich auf Marliese. Langer Rede kurzer Sinn, wir gehen mit.
Abdul ist ein Holzschnitzer. Er fertigt Kreuze und Christusköpfe. Und in seinem Haus finden wir sogar einen kleinen Tannenbaum aus Plastik, mit bunten glitzernden Bändern bestückt. Er und seine Familie sind Christen. Nun werden wir bewirtet. (Im Vertrauen: mit schrecklichen Dingen, die sich nicht wirklich definieren lassen.) Ich esse niemals etwas Süßes, aber ich darf die Gastfreundschaft nicht verletzen. So mümmele ich verzweifelt auf irgendwelchen, ohnehin schon süßen, zusätzlich in Honig getauchten, Kernen herum, trinke schwarzen Kaffee und kann mich nur mit Mühe und Not eines türkischen Gebräus erwehren. Dann zeigt mir der Hausherr seine Werkstatt, ärmlich – aber sauber. Als das Kind zu schreien anfängt, muss sich die Mutter darum kümmern und wir brechen auf, Abduls Adresse für den Fall, dass wir ihm mal etwas abkaufen wollen, in der Tasche.
Draußen ist es übergangslos dunkel geworden. Sterne stehen am Himmel. In der Ferne, auf dem Vorplatz der Geburtskirche ist Lärm und Singen zu hören. Aber nach dem beschaulichen Besuch bei den christlichen Arabern wollen wir da nicht mehr hin. Langsam schlendern wir durch die Straßen zurück zu der Haltestelle, wo die Autobusse stehen, von denen einer uns nach Jerusalem zurückbringen wird.
„Happy Christmas! – Happy Christmas!“ schreit es hinter uns her. Es sind einige der Kinder, die wir vorher mit Keksen gefüttert haben. Wir antworten im Trio: „Happy Christmas!“
Jetzt ist die Luft kühl, fast kalt. Sie riecht nach Holzkohle. Hier werden am offenen Feuer auf Gitterrosten mundgerechte Lammstücke gebraten.
„Na?“, frage ich meine Mädchen und bin sogar bereit, nun was springen zu lassen. Es ist immerhin Heiligabend, das Fest der Freude, des Friedens. Aber mit Lammbraten kann ich ihnen scheinbar keine Freude machen. Marliese hat schon wieder schlechte Laune. „Ich will nach Hause, du denkst bloß immerzu ans Essen, Ihma!“
Also treten wir die Heimreise an, die immerhin noch etwa ein und eine halbe Stunde währt, bis wir müde und erschöpft in Tel Aviv zu Hause ankommen. Vor die Wohnungstür hat uns unsere liebe Nachbarin Ewa einen wunderbaren Blumenstrauß hingelegt. Wir mögen uns. Vor einer Woche hatte ich ihr zu Chanukka einen Kuchen gebacken.
Der Strauß und eine Kerze schmücken den Tisch. Ich packe Pitot samt übriggebliebenem Weißkäse aus, Hühnerschenkelchen finden sich im Kühlschrank und lege neben den Teller jedes Mädchens ein Minipäckchen. Ich habe selten vorher (und nachher immer seltener) so glückstrahlende Blicke geerntet wie damals, als ich ihnen einen Kugelschreiber und ein Püppchen mit Apfelsinenkopf (es trägt bis heute den Namen Appleleg im Aleph = Apfelbein der Erste), auf den Abendbrottisch legte.
Noch heute sind wir drei uns einig, wir haben damals ein einmaliges Weihnachtsfest erlebt. Ich wollte euch davon profitieren lassen.
* * *
(c) tilken





Konnte ich euch das Warten auf den Weihnachtsmann ein bisschen verkürzen? Ich wünsche allen Menschen guten Willens Frieden, Freude und besinnliche Feiertage. Eure Tilken



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Tag der Veröffentlichung: 25.11.2010

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