Mit Beginn des
Zweiten Weltkrieges
begann die Schulzeit
Erinnerungen an
schwere Zeiten
Ostern 1939. Es war ein trüber Tag, der Himmel war von einer gleichmäßig grauen Wolkendecke überzogen. Ein nicht ungewöhnliches Bild für die norddeutsche Tiefebene.
Mein erster Schultag stand bevor. Ich hatte einen braun-ledernen Ranzen als Ostergeschenk bekommen mit Schiefertafel, Griffeletui und Schwamm. Ich war sehr stolz darauf und probierte schon eifrig auf der Tafel zu malen und den einzigen Buchstaben, das "i" korrekt in die vierlinig, rot vorgezeichneten Zeilen zu schreiben.
Auf meinen ersten Schultag freute ich mich riesig. Meine Kindheit verbrachte ich in einem größeren Ort in Niedersachsen zwischen Elbe und Weser. Ich wuchs mit meiner 2 Jahre jüngeren Schwester Karin auf. Mutter stammte aus einer rechtschaffenen Handwerkerfamilie mit eigenem Geschäft, die in einem Ort in der Nähe wohnend hohes Ansehen genossen und gut situiert waren, trotz der wirtschaftlich schweren Zeiten, die sie durchlebt hatten. Vater war ebenfalls Sohn eines Handwerksmeisters, dessen Betrieb Höhen und Tiefen erlebte und zeitweise durch die Trinkleidenschaft Großvaters Gratwanderungen nur mit Mühe passierte. Großmutter, die für die Buchhaltung verantwortlich war, hatte es nicht immer leicht.
Zum ersten Schultag hatte Mutter mir einen Mantel aus Vaters altem Anzug genäht. Dazu bekam ich einen roten Filzhut aufgestülpt, eine lederne Brottasche umgehängt, passend zum neue Ranzen und dann ging es zum Fotografen. Ein Foto fürs Familienalbum: Mein erster Schultag.
Endlich war es soweit. Ich durfte mit anderen ABC-Schützen unseres Ortes zur Schule gehen.
Eine 3-klassige Grundschule für 8 Schuljahre. Herr Lüdeke, unser Klassenlehrer, las uns den ersten Tag aus einem Buch in plattdeutscher Sprache vor und in der zweiten Stunde wurde gemalt, für mich schon immer eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.
Ein schöner erster Schultag!
Schon am zweiten Tag wurde mit der ersten Seite der Fibel begonnen und in der Rechenstunde mit Schreiben von Zahlen.
Es machte viel Spaß und ich entwickelte mich zu einer guten Schülerin.
Nach einem halben Jahr, als im Herbst der 2. Weltkrieg ausbrach, wurden viele Männer unseres Dorfes zur Wehrmacht eingezogen, so auch mein Klassenlehrer.
Wir wurden von nun an von einer sogenannten Arbeitsmaid unterrichtet. Die Arbeitsmaiden waren junge Damen, die zum Arbeitsdienst eingezogen wurden. Auch in unserem Ort befand sich ein derartiges Lager.
Abiturientinnen oder Studentinnen dieser Lager hat man seinerzeit u.a. auch als Hilfslehrkräfte für ABC-Schützen eingesetzt. Das war für uns Kinder eine schöne Zeit, denn diese Damen bzw. Mädchen waren noch relativ jung, meist 19 oder 20 Jahre, sie hatten für uns viel Verständnis. Bei Auseinandersetzungen mit dem Schulleiter stand "unsere" Arbeitsmaid meist immer zu uns.
Dann begann auch bald die Zeit, dass alle Türen und Fenster abends verdunkelt werden mussten. Es durfte kein Licht herausscheinen. Es wurde regelmäßig kontrolliert. Autoscheinwerfer hatten nur einen schmalen Lichtschlitz und wurden nach oben abgedunkelt.
Im Frühjahr 1941 wurde ich als einzige unseres Dorfes ausgewählt zur Teilnahme an einer Kinderlandverschickung. Eine Einrichtung des Dritten Reiches zur Erholung von Kindern. Marienhausen bei Aßmannshausen sollte das Ziel sein. Eine Schwester vom Roten Kreuz war die Begleiterin einer größeren Gruppe aus dem gesamten Regierungsbezirk Stade. Man hängte uns Karten um den Hals mit unseren Personalien und dem Zielort, wie bei Frachtgut.
Abends ging es per Eisenbahn bis Cuxhaven. Dort übernachteten wir im Hotel "Zur Sonne". Wir waren ca. 15 - 20 Kinder zwischen 8 und 10 Jahren. Unsere Begleiterin, die wir Tante Marga nannten, riet uns, uns vorm Schlafengehen nicht ganz zu entkleiden, damit wir bei Fliegeralarm schneller in den Keller kommen.
Es kam prompt Alarm, nachdem wir ca. 1 1/2 Stunden in unseren Betten lagen. Jedoch keiner kam, um uns zu wecken. Wir blieben also liegen. Ich teilte mit einem Mädchen, das in unserem Nachbarort wohnte, das Hotelzimmer. Anscheinend wollte man zunächst abwarten, wohin die feindlichen Verbände fliegen. Es passierte nichts, wir konnten weiter schlafen. Am nächsten Morgen ging es weiter in Richtung Köln über Bremen, Osnabrück und Münster. Beim Überqueren des Rheins über die große Bogenbrücke sahen wir zum ersten Mal das Prunkstück von Köln, den Dom. Da wir in Köln umsteigen mussten und noch Zeit hatten, wurde der Dom besichtigt. Es war für uns Kinder ein großes Erlebnis. Diese gewaltigen dicken Säulen, das riesengroße hohe Kirchenschiff. - Phantastisch! - Ich kaufte von meinem Taschengeld, das mir Mutter mitgegeben hatte, eine Ansichtskarte vom Dom, die ich später nach Ankunft am Zielort nach Hause schickte und von der schönen Fahrt berichtete. Ich schrieb u.a. ". . und ich habe auch den kölna Don gesehen". –
Auf der Weiterfahrt, immer am Rhein entlang, haben mich besonders die vielen und manchmal langen Tunnel fasziniert. Außerdem gab es richtige Burgen, die man sonst nur von Märchen kannte.
In Aßmannshausen stand ein Bus bereit, der uns nach Marienhausen brachte. Dort, in einem Seitenflügel eines Klosters war das Kinderheim.
Unsere Begleiterin Tante Marga übergab uns einer Erzieherin aus dem dortigen Heim, die uns als Tante Bärbel vorgestellt wurde. Zum ersten Mal hörte ich den rheinischen Dialekt, der mir gleich sympathisch war.
In einem großen Schlafsaal, wo ca. 50 Betten standen, bekam ich das dritte in der zweiten Reihe.
Das Heim hatte etwas Geheimnisvolles, Burgenartiges. Ich freute mich, mit so vielen Kindern in einem Raum schlafen zu dürfen.
Jeden Morgen um 8.00 Uhr, mussten alle Kinder des Heims, die aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands kamen, unter der Fahne antreten und es wurde gesungen.
Es wurden viele Ausflüge unternommen. So z.B. zum Niederwalddenkmal, wo man sogar zu der Zeit noch Andenken kaufen konnte. Ich entdeckte ein reizendes Schmuckkästchen mit Metallfüßchen, reich verziert, einem Glaskörper und einem Deckel mit dem Niederwalddenkmal darauf. Das war etwas für Mutter als Mitbringsel. Obgleich es für mein nicht sehr reichhaltiges Taschengeld etwas teuer war, kaufte ich es trotzdem.
Jeden Mittag, während wir an den langen Tischen im Speisesaal des Heims unser Essen einnahmen, wurde Post verteilt. Ich wartete natürlich mit Spannung, ob auch ein Brief für mich dabei war. - Eines Tages kam sogar ein Feldpostbrief aus Russland. Er war von Onkel Heinrich, ein Bruder von Vater.
Mein Aufenthalt hier dauerte 6 Wochen, davon war ich die halbe Zeit krank. Die Krankenstation war mit im Haus.
Ich bekam Windpocken und musste das Bett hüten. Während dieser Zeit erreichte mich eines Tages ein Riesenpaket von den Großeltern. Es waren aus Großvaters Bäckerei Plätzchen darin, weiße und braune mit Zuckerguss. War das eine Freude. Ich habe gleich großzügig davon verteilt und nur einen Teil behalten.
In dieser Zeit, die für ein Kind ziemlich langweilig ist, habe ich mir die Zeit mit Büchern aus der Bibliothek vertrieben. Es gab dort Bildbände und Kinderbücher.
Ich erinnere mich noch an eine wunderschöne, romantische Zeichnung von Ludwig Richter in einem Buch, in die ich so verliebt war, dass ich sie am liebsten herausgerissen hätte, um sie mit nach Hause zu nehmen. Doch ich traute mich nicht. So klappte ich das Buch wieder zu.
Die Zeichnung ließ mich jedoch nicht los. Es war ein schönes Mädchen darauf mit einem Kranz im Haar. Sie saß in einer Laube aus Kletterrosen. Zu ihren Füßen zwei Steinkrüge, Tauben und eine Katze , die auf der Mauer saß und ins Tal hinunter schaute. Hinter der Laube ein schlossartiges Gebäude. Fast wie das Märchen Dornröschen, es fehlte nur noch der Prinz.
Ich dachte also tagelang an dieses Bild. Schöne Bilder haben mich schon als Kind fasziniert.
Es kam der Tag, dass ich unbeobachtet allein im Zimmer war. Eiligst ergriff ich das Buch, blätterte und blätterte bis ich endlich die Seite mit "meinem Bild" hatte. Vorsichtig begann ich ein wenig an der oberen Kante zu reißen. Das Blut stieg mir in den Kopf. Ich wusste genau, es ist schade um das schöne Buch. Dennoch riss ich weiter. Es zog mich, wie mit einer fremden Kraft. Ich konnte es nicht verhindern. Ich riss und riss bis ich es ganz herausgetrennt hatte. Dann ging alles ganz schnell. Ich klappte das Buch zu, legte es beiseite und da öffnete sich die Tür. Meine Bettnachbarin, die auch wie ich, ihre Windpocken fast auskuriert hatte, kam herein. Sie sah auf meinem Bett die herausgerissene Buchseite, die ich nicht schnell genug verstecken konnte. Ihre schönen rotblonden Locken hingen bis zur Schulter herab und die großen Augen sahen mich vorwurfsvoll an: "Hast du die Seite aus einem Buch gerissen?" - Ich gab keine Antwort und schaute verlegen und voller Scham nach unten. Aus Angst, dass sie mich verraten könnte, habe ich ihr den Rest meiner Kekse aus Großvaters Paket geschenkt. Das schlechte Gewissen hat mich sehr lange begleitet.
In der letzten Woche dachte ich schon viel an Zuhause, obgleich ich eigentlich kein Heimweh kannte. Die Zeit wurde mir schon fast zu lang. Die Rückfahrt begann dann endlich wenige Tage vor Schulbeginn nach den Ferien.
Das Jahr verging sehr schnell. Weihnachten stand vor der Tür.
Vater, der kürzlich eingezogen wurde, bekam Heimaturlaub. Wir fuhren wieder, wie üblich, am Heiligen Abend zu den Großeltern. Gedichte und Lieder hatten wir fleißig vorher gelernt. Meine Schwester und ich haben ohnehin fast jeden Abend, nachdem wir im Bett waren, noch ca. eine halbe Stunde lang Lieder gesungen, oft zweistimmig.
Das Schaufenster hatte Großmutter wie jedes Jahr zu einer kleinen Märchenwelt gemacht. Das Dekorationsmaterial, das jedes Jahr das gleiche war, hat uns Kinder immer wieder fasziniert. Weiße Glitzerdecken sahen aus wie eine Schneelandschaft. Darauf kleine Weihnachtsmänner auf Schlitten, Wichtelmänner aus Tannenzapfen, aus Holz geschnitzte Tiere und neben den an breiten Schmuckbändern herabhängenden Glocken ein ca. 60 cm hoher Bäcker in seiner Berufskleidung mit Schürze und hoher Bäckerhaube. Er trug mit beiden Händen einen Korb mit frischem Weihnachtsgebäck. Mit seinem ständig nickenden Kopf begrüßte er jeden, der ins Fenster schaute, bis Großvater am späten Abend den Stecker aus der Steckdose zog.
Nach dem Festessen und vor der Bescherung wurden Gedichte und Lieder vorgetragen. Mit einem oder zwei waren Großeltern jedoch nicht zufrieden. Ein halbes Dutzend musste es schon sein. Aber wir taten es mit Vergnügen.
Der Riesentannenbaum, der bis zur Decke des über 3 m hohen Zimmers reichte, war wie jedes Jahr mit sehr altem Schmuck, der schon teilweise fleckig und vergilbt war und auch schon hier und da einen Tropfen Wachs abgekriegt hatte, liebevoll verziert und von oben bis unten mit Engelhaar überzogen, das an den Fingern piekte, wenn man es zu unsanft anfasste. Die brennenden Kerzen bildeten hinter dem Engelhaar Heiligenscheine.
Das große, mit wunderschönen, handgearbeiteten Möbeln aus Nussbaum ausgestattete Zimmer, sah sehr anspruchsvoll aus. Vor der hohen, breiten Tür, die nach nebenan ins Esszimmer führte, war eine Portiere aus tannengrünem Samt angebracht, die über einen vergoldeten Pfeil geschlungen war, passend zu den Polstermöbeln. Der hohe weiße Kachelofen wurde nur zu besonderen Anlässen beheizt. Der Parkettfußboden des 8 m langen Zimmers war einige Tage zuvor noch von dem Hausmädchen und Großmutter mit Stahlwolle abgezogen worden und anschließend gewachst. Er sah aus wie neu. Zwischen den hohen Fenstern ein ebenso hoher Spiegel mit Nussbaumrahmen und -konsohle, gedrechselten Säulen mit glitzernden Bleikristallvasen und -schalen. - Ganz vorn an der Tür, wo wir uns zum Singen aufgestellt hatten, stand der Servierwagen. Auf der lang herabhängenden, blütenweißen Decke mit Lochstickerei standen Zuckerdöschen, Kaffee- und Teekanne, ein Teelöffelkörbchen und weitere Sachen aus blankgeputztem Silber.
Alle saßen in der Runde und hörten unseren Liedern und Gedichten zu, Großeltern, Eltern, beide Gesellen, das Dienstmädchen und natürlich Tante Hanne. Tante Hanne war eine unverheiratete alte Dame, sie war Großmutters Freundin und wohnte im Nachbarhaus. Sie gehörte schon seit Jahren immer dazu bei Familienfeiern.
Dann kam endlich der große Augenblick. Großmutter nahm die Papierbogen von den Geschenken. Für jeden war etwas dabei.
Das Dienstmädchen bekam Wäsche für die Aussteuer, die Gesellen neue Fahrradbereifung, Tante Hanne einen Fresskorb und die Eltern eine gerupfte Gans. Für uns Kinder hatte Oma noch schöne alte Spielsachen auf dem Boden gefunden. Sie stammten aus Mutters Kindheit.
Am nächsten Morgen fuhren wir mit Sack und Pack wieder nach Hause. Nicht nur die Geschenke mussten in unserem alten Auto untergebracht werden, auch Weihnachtsstollen und Gebäck aus Opas Backstube und Eingewecktes aus dem Keller. Wir mussten eng zusammenrücken. Der hohe schmale Kofferraum, der hinten am Auto wie ein angehängter Rucksack wirkte, reichte nicht aus. - Es war draußen bitterkalt. Wir Kinder bekamen jeder eine Wärmflasche. Die Rückfahrt (18 km) kam uns vor wie eine Ewigkeit. Vater musste unterwegs mehrmals anhalten und bei fremden Leuten um Wasser bitten, der Autokühler kochte. Wir froren. Die Scheiben waren vereist. Wir bliesen uns Gucklöcher hinein.
Müde und abgespannt fielen wir ins Bett, als wir endlich zu Hause angekommen waren.
Auch zu Hause stand ein wunderschöner Tannenbaum. Es wurde in den nächsten Jahren schwieriger, Tannenbäume zu bekommen.
Zwei Jahre später wechselte ich in die 2. Klasse (4. Schuljahr) und kam zu dem Klassenlehrer Lemke.
Herr Lemke war ein sehr strenger Lehrer. Wer nicht parrierte oder faul war, wie er zu sagen pflegte, wurde mit dem Rohrstock bestraft. Unaufmerksamkeiten während des Unterrichts kamen fast nie vor trotz der 45 Schüler, die sich aus zwei Jahrgängen zusammensetzten.
Ich blieb nur ein Jahr in dieser Klasse, ich sollte nach Vollendung des 10ten Lebensjahres das Oberlyzeum für Mädchen in Stade besuchen.
Dies' eine Jahr war aber dennoch für mein späteres Leben von großer Wichtigkeit, denn Herr Lemke, ein Lehrer alten Zuschnitts, verstand es, seinen Schülern in kurzer Zeit die wichtigsten Grundlagen mit auf den Weg zu geben. Alle Nebensächlichkeiten waren für ihn vergeudete Zeit.
Die Wichtigkeiten, dazu gehörten vor allem Rechtschreibung, deutsche Grammatik, großes und kleines Einmaleins und Erdkunde, wurden ständig gepaukt und wiederholt. - Und dadurch, dass er es meisterhaft verstand, alle Schüler an sich zu fesseln, manchmal auch mit etwas Humor und Mutterwitz, konnte einem kaum etwas entgehen.
Bauern unseres Dorfes waren in dieser Zeit in zunehmendem Maße um Hilfskräfte auf ihrem Hof verlegen, denn die Söhne waren meist alle eingezogen. So geschah es, dass die Lehrer angewiesen wurden, uns für die Ernte und zum Pflanzen von Steckrüben einzuteilen.
Auch ich wurde einem Bauern zugewiesen. Für mich als Handwerkertochter war das etwas ganz Neues. Morgens um 6.00 Uhr musste ich schon bei Landwirt Hinck auf dem Hof erscheinen zum Steckrübenpflanzen. Mit Pferd und Ackerwagen, auf dem die zu pflanzenden Stecklinge lagen und der Proviant für die Frühstückspause, ging es hinaus aufs Feld. Auf dem holprigen Kopfsteinpflaster, mit Eisen bereiften Holzrädern war die Fahrt innerhalb der Ortschaft nicht besonders gemütlich. Noch ca. 1 km auf einem ausgefahrenen Feldweg entlang bis wir den Acker erreichten. Der hölzerne Wagen knarrte in allen Fugen. - Ich war sehr gespannt, welche Aufgabe ich zugewiesen bekam.
Der Bauer begann mit seinem Pflug hinter dem schweren Arbeitspferd in der Mitte des Ackers. Ich musste nun in Abständen von 30 bis 40 cm je eine Pflanze, in der Furche langgehend auf den vom Flug aufgeworfenen Wall legen. Von einer Frau, die mir folgte, wurde die Pflanze eingesteckt.
Das wiederholte sich bis der Acker voll war. Während der Frühstückspause gab es, wie es bei den norddeutschen Bauern Tradition war, Butterkuchen und Kaffee. - Ein Festmahl auf dem Feld. Wir saßen auf Säcken, die auf dem lockeren Boden ausgelegt waren, in Kreisform zusammen. - Nachdem der zweite Acker bestellt und ich auch ganz schön erschöpft von der ungewohnten Arbeit war, gab es Entlohnung, 20,- Reichsmark. Ich war sehr stolz darauf, mein erstes Geld verdient zu haben.
In den Schulen wurde es mehr und mehr zur Pflicht gemacht, Heilkräuter zu sammeln und zu trocknen, die in der Schule sortiert abgegeben werden mussten.
Der Schulwechsel ins Lyzeum rückte näher. Ich freute mich über diese Entscheidung meiner Eltern, denn damals war für höhere Lehranstalten noch Schulgeld zu entrichten, und vielen waren solche Privilegien finanziell nicht möglich. Mein Stolz darüber kam in einer Schulpause besonders zum Ausdruck. Ein 3 Jahre älteres Mädchen, das von der Statur und Robustheit eher ein Junge sein konnte, sich auch gern prügelte und andere provozierte, hatte sich eines Tages mich ausgesucht. Heute jedoch nicht zum Prügeln, sondern nur, um verbale Nadelstiche zu verteilen. Als ihr die Worte schließlich nach meiner erfolgten Verteidigung ausblieben, drohte sie mir: "Komm' du erst 'mal in unsere Klasse . . .". Darauf ich, indem ich immer größer und länger wurde: "Ich werde nie in eure Klasse kommen, ich werde ab nächstes Jahr zur Oberschule gehen!" - Ich spürte, dass sich eine Art Kluft zwischen mir und den herumstehenden Mädchen breit machte. Von nun an war ich eine andere. Zeitweise lauerte man mir auf und versetzte mir eine Tracht Prügel.
Ich war ein ziemlich romantisches, verträumtes, vielleicht auch naives Mädchen. Erwachsene hielt ich für perfekt, allwissend und geradlinig. Diese schöne Vorstellung wurde nach und nach immer mehr enttäuscht. Sicherlich bin ich nicht die einzige, die diese Erfahrung in den Jahren der Entwicklung machen musste. Das reale Leben ist härter und kompromissloser als man es sich in dem Alter vorzustellen vermag.
Die Erziehung bei uns zuhause war streng und autoritär. Man hatte großen Respekt vor Eltern und Erziehern und traute sich kaum, Widerworte zu haben. Es wurde auch deutlich gesagt, dass man als Kind nicht zu widersprechen hat. Bei Tisch hatten wir Kinder zu schweigen, es sei denn, wir werden etwas gefragt. Die Eltern behielten sich diese kurze gemeinsame Zeit bei den Mahlzeiten dafür vor, geschäftliche Dinge zu besprechen. Der Tag war zeitlich eingeteilt. Timing und Management, um es mit den heute gebräuchlichen Begriffen zu formulieren, wurde damals auch schon praktiziert.
Der Zeitpunkt der Aufnahmeprüfung zum Lyzeum rückte näher. Meine Mutter war sehr aufgeregt, ich eigentlich weniger.
Am Tag der Prüfung begann der Morgen schon um 5 Uhr. Die Anreise nach Stade per Bus und Bahn dauerte mit Aufenthalt am Bahnhof 1 1/2 Stunden. Um 8 Uhr trafen sich alle Mütter mit ihren 10-jährigen in der Aula des Oberlyzeums.
Eine etwas eingebildete ehemalige Schulfreundin meiner Mutter aus einem Nachbarort war auch mit ihrer hübschen blonden Tochter erschienen. Sie war davon überzeugt, dass ihr Zögling die Prüfung selbstverständlich spielend hinter sich bringt. Meine Mutter wurde noch nervöser. Nach der Begrüßungsansprache von Dr. Galle, dem Direktor, teilte man alle 120 Prüflinge in Klassen auf. Der Vormittag war für die schriftlichen Aufgaben vorgesehen. Mittags, nach einer längeren Pause, wurde das Zwischenergebnis bekannt gegeben. Von den 120 Prüflingen waren 55 durchgefallen. Nur 12 wurden von der mündlichen Prüfung, die nachmittags stattfinden sollte, befreit. Diese 12 wurden dann verlesen. - Große Spannung - Fast zum Schluss wurde auch mein Name aufgerufen. Meine Mutter nahm mich vor Freude in den Arm.
Wir verabschiedeten uns von der eingebildeten Freundin, die noch mit ihrer Tochter zur mündlichen Prüfung bleiben musste und gingen in ein Speiserestaurant in der Großen Schmiedestraße, wo ich mir etwas von der Speisekarte aussuchen durfte. Ich wählte Pfannkuchen und Kopfsalat. Meine Mutter wunderte sich nicht darüber, war es doch immer schon mein Leibgericht. Ich aß mit großem Appetit und hatte die Prüfung schon längst wieder vergessen. Ich dachte an die bevorstehenden Osterferien.
Während dieser Zeit durfte ich meine Großeltern an der Oste besuchen. Dort verbrachte ich meistens die Ferien. Am liebsten hielt ich mich im Aussendeichgelände auf. Bei Ebbe traten die Schlickstreifen des Flussbettes hervor und ich ließ mit Vorliebe flache Steine auf der Schlickoberfläche springen. Großvater, Bäckermeister von Beruf, der ein äußerst humorvoller Mensch war, rief mich manchmal, wenn er Torte garnierte, in seine Backstube und sagte: "Jap op", mit anderen Worten: Mach den Mund auf, und hielt mir die mit Schlagsahne prallgefüllte Garniertüte vor den Mund. Ich öffnete ihn und er spritzte mir mit spitzbübischem Lächeln fast zuviel von dem süßen Schaum in den Mund.
Am späten Nachmittag durfte ich meist mitgehen, wenn der Geselle und das Küchenmädchen mit Milchkannen an hölzernen Schultertragen zum Melken auf die vorm Ort liegenden Wiesen hinauszogen. Ja, früher hatten Bäckereien auf dem Lande oft einige Teile Vieh, Schweine und manchmal sogar Kühe. Es kam vor, dass unsere vier Kühe am äußersten Ende der Wiesen grasten, die immerhin ca. 500 m lang und von tiefen Entwässerungsgräben gesäumt waren. Es wuchsen Binsen in den Gräben, aus denen ich gerne Taschen und Sohlen für Sandahlen flocht. Zweimal die Woche fuhr Großvater mit seinem Bäckerwagen, der von "Fanny", einem schwarzbraunen Pferd, gezogen wurde, auf Kundentour. Es machte Spaß, neben Opa hoch oben auf dem Bock zu sitzen.
Die Fahrt ging auf die andere Flussseite der Oste. Dazu mussten wir uns mit der Fähre übersetzen lassen. Bei Niedrigwasser wurde der Wagen mit einer Seilwinde, die hinten am Wagen befestigt wurde, langsam auf den Fährprahm heruntergelassen. Großvater hat dabei das Pferd geführt. Wenn Hochwasser war und die Uferböschung nur ein kurzes Stück ausmachte, wurden als Bremse Vorder- und Hinterräder zusammengekettet, so dass sie blockierten und der Wagen rutschte praktisch herunter. Es war immer eine aufregende Sache für mich. Die Fähre hatte keine festen Abfahrt- und Ankunftszeiten. Sie fuhr ständig hinüber und wieder zurück. Man wartete bis sie genügend Fahrgäste aufgenommen hatte, damit sich die Überfahrt lohnt. Bedarf war ausreichend vorhanden. Während der Liegezeit an der einen oder anderen Seite, wurde das schräg in den Fluss führende Anlegeufer, das mit Kieselsteinen aufgeschüttet war, von Schlick freigehalten. Mit einer Schaufel spülte der Fährmann ständig Wasser über die Steine.
Die Fähre, ein sogenannter Prahm, hatte keinen Motor. Sie musste mit Hilfe eines Holzklöppels am Stahlseil hinübergezogen werden. Alles mit eigener Körperkraft. Je nach Tideströmung zog der Fährmann das Seil entweder über die rechts- oder linksseitigen Rollen.
Während der Fahrt durften wir nicht auf dem Wagen sitzen. Schade, ich hätte so einen viel besseren Überblick gehabt.
Drüben auf der anderen Seite gab es zahlreiche große Marschbauern, deren Höfe vielfach nur über lange Privatalleen mit wunderschönen großen hölzernen oder schmiedeeisernen Toren davor, zu erreichen waren. Der Bäckerwagen blieb an der Straße stehen. Die schöne Bronze-Glocke, die am Wagen hing, zu betätigen, wäre bei der Entfernung der Hofgebäude zwecklos gewesen. Da Großvater aber immer ziemlich genau wusste, was gebraucht wurde, brauchte er den langen Weg meistens nur einmal zu machen.
Als ich bei einer anderen Gelegenheit wieder einmal mit Großvater unterwegs war, hat uns ein kräftiges Gewitterschauer überrascht. Wir waren auf freier Strecke ohne Unterstellmöglichkeit. Es war auf dem Heimweg und der Brotwagen nahezu leer. Opa sagte zu mir: "Komm', kriech' schnell hinten in den Wagen, ich lasse die obere Klappe offen; aber verstecke dich, dass dich keiner sieht!" - Ich aß dort den Rest der dicken Weintrauben, die Oma mir für unterwegs mitgegeben hatte. Sie wuchsen an der Vorderseite von Großvaters hohem Backsteinhaus direkt hinterm Deich.
Abends nach Feierabend, wenn auch der Bäckerladen geschlossen war und wir Abendbrot gegessen hatten, saß ich oft mit Großeltern vorm Haus auf der weißgestrichenen Holzbank. Ich beobachtete gern den wunderschönen bunten Zwerghahn mit seinen beiden Hennen, die Opa nur zu seinem Spaß hatte, gelegt haben sie nur selten.
Ich fragte Opa, der einen etwas x-beinigen Gang hatte, warum er so eigenartig geht. Er erklärte mir, dass er zweimal während des ersten Weltkrieges in die Speichen eines Kanonenwagens geraten wäre. Die Bruchstellen wurden nicht fachgerecht behandelt und sind somit schief angewachsen. Trotzdem fuhr er aber noch mit seinem alten rostigen Fahrrad, auf das er immer von hinten aufstieg, indem er auf die verlängerte Achse des Hinterrades trat.
Vokabeln lernen und Mathematik
Die Osterferien gingen viel zu schnell zu Ende. Die Zeit des Schulbeginns in Stade rückte heran. Neue Unterrichtsfächer, wie Englisch, Physik und Allgebra bzw. Geometrie und später Französisch, Latein und Chemie kamen hinzu.
Die Neuanfänger wurden in eine A- und eine B-Klasse aufgeteilt. Stader und Auswärtige. Die B-Klasse für Auswärtige, zu denen auch ich gehörte, wurde von Frl. Schreiber, einer älteren Dame als Klassenlehrerin, betreut. Sie war streng und etwas altmodisch. Meine neuen Klassenkameradinnen kamen aus allen Schichten, Altländer Bauerntöchter, Töchter aus Beamten- und Handwerkerfamilien und von Ärzten, Studienräten und anderen Akademikern. Es war also eine ganz andere Umgebung für mich als in der Grundschule meines Heimatortes, in der vorwiegend Kinder kleinerer Bauern und kleiner selbständiger Handwerker zu finden waren.
Unsere Schule war ein reichverziertes ehrwürdiges altes Gebäude mit überdimensional großer Eingangstür aus massiver Eiche. Sie konnte von uns Schülern, da sie zudem noch einen automatischen Türschließer hatte, nur mit großer Anstrengung geöffnet werden. Der breite Treppenaufgang hatte ein schmuckvoll verschnörkeltes, schmiedeeisernes Geländer. Was hatten wohl die blanken Messingknöpfe auf dem Holzhandläufer zu bedeuten? Man sagte mir später, damit keiner herunterrutscht.
Die langen Flure hatten Gewölbedecken, die von dicken verzierten Säulen getragen wurden.
Bei Regenwetter wanderten wir Schüler in den Pausen zu zweit oder dritt, unser Frühstücksbrot verzehrend, um die Säulen herum. Eine Lehrerin stand meist zur Aufsicht dabei.
Frl. Schreiber meinte eines Tages, mich von oben bis unten abschätzend beäugend: "Zieh' dir das nächste Mal einen Rock über deine Trainingshose!" Für Mädchen galt es als unanständig, nur in langen Hosen zu erscheinen. Und wie würde es erst aussehen, wenn wir beim morgendlichen Fahnenappell auf dem Schulhof antreten müssen, Hände hoch und „Deutschland, Deutschland über alles..“ singen müssen.
Auffällig war zu dieser Zeit, dass wir vorwiegend von weiblichen und älteren männlichen Lehrkräften unterrichtet wurden. Ein großer Teil der jungen Lehrer war zum Militärdienst eingezogen. Mehr und mehr spürten wir, dass wir uns im Kriegszustand befanden. Die Sirenen riefen uns nicht nur zwei- bis dreimal wöchentlich, sondern schon fast täglich in den Luftschutzkeller, der nur ein ganz normaler Keller war und keiner Bombe standgehalten hätte. Wir freuten uns jedesmal auf den Alarm, weil im Luftschutzkeller nicht unterrichtet werden durfte. Es kam vor, dass die auswärtigen Schüler erst am späten Nachmittag per Bahn nach Hause fahren konnten. Dann mussten abends noch Schulaufgaben gemacht werden. Ich war in der Oberschule nur eine mittelmäßige Schülerin. Meine Lieblingsfächer waren Mathematik, Zeichnen und Handarbeiten. Die Anforderungen waren durch die Begleitumstände groß. Ich erinnere mich, dass ich nach einem langen Bombenalarm für die Heimfahrt erst den letzten Zug nehmen konnte. Damals fuhren nur 3 - 4 Züge in eine Richtung. Es waren umgebaute Viehwagen, hauptsächlich für Schüler und Arbeiter. Die Züge bestanden nur aus 3 Waggons. Ich stierte im Abteil auf das Plakat an der Wand, darauf war zu lesen: "Räder müssen rollen für den Sieg". Irgendeiner hatte mit etwas unordentlicher Schrift darunter gekritzelt: " . . . und Kinderwagen für den nächsten Krieg!"
Daneben hing das sicherlich noch vielen bekannte Plakat vom Kohlenklau. - Völlig erschöpft schlief ich ein und verpasste meine Bahnstation. Ich erwachte bei der nächsten und entschloss mich nun, in Höftgrube auszusteigen, um bei meinen Großeltern an der Oste zu übernachten. So ist es mir auch manchmal passiert, dass ich meine Schultasche entweder auf dem Bahnsteig oder im Zug vergaß. - Stress und Überforderung damaliger Schulkinder.
Wenn wir Schüler, wir waren ca. 10 - 15 aus unserem Ort, aller Jahrgänge von Mittel- und Oberschule, einmal restlos die Nase voll hatten, wurde geschlossen geschwänzt. So beschlossen wir eines Tages an einem herrlichen Sommertag morgens im Bus auf dem Weg zum Bahnhof, gar nicht erst in den Zug zu steigen, sondern gemeinsam in Basbeck ins Freibad zu gehen. In Ermangelung von Badekleidung durch den spontanen Entschluss, wurde in Unterwäsche bzw. "ohne" gebadet. Unsere Entschuldigung in der Schule war Buspanne, was damals glaubwürdig war.
Unser Bus wurde bald durch einen Postpaketwagen ersetzt, der nur zwei lange Bänke an der Seite hatte und Schlaufen an der Decke für Stehplätze. Es war ziemlich dunkel darin, wenn der Fahrer hinten die beiden Türen von außen verriegelte. Durch die zwei winzigen Fenster fiel nur sehr wenig Licht , weil der Wagen meistens überfüllt war.
Meine Freundin Susi, meine Schwester und ich haben uns manchmal abends, wenn der letzte sogenannte "Bus" zum Bahnhof fuhr, den Streich erlaubt, mit einem Stock durch das Loch in der Karosserie des uralten Fahrzeugs die Fahrgäste zu erschrecken.
Ein anderer beliebter Streich von uns war das Kirschenklauen. Außerhalb unserer Ortschaft auf einem kleinen Hügel gelegen, war ein wunderschöner Obst- und Blumengarten mit einem Wochenendhaus. Das Grundstück, das von Tannen gesäumt und mit einem Zaun von den angrenzenden Feldern getrennt war, war mit großer Liebe und Fachkenntnis angelegt. Ein Kirschbaum und zwar eine Glaskirsche hatte es uns angetan. Wir krochen durch den Zaun und gingen zielstrebig auf unsere Lieblingskirsche zu.
Einer von uns kletterte auf die Äste, einer stand schmiere und ich breitete meine Dirndlschürze aus, um die Kirschen aufzufangen. Meine Schürze war noch längst nicht voll, als plötzlich der Gartenbesitzer erschien, uns nach den Namen fragte und drohte, unsere Eltern zu benachrichtigen. Ich knotete zögernd und unauffällig meine Schürze zu einer Tasche zusammen, die mir dann wie ein Beutel vorm Bauch hing. Herr T. jagte uns von seinem Grundstück mit den Worten, uns nicht noch einmal sehen zu lassen. Die abgepflückten Kirschen hatte ich aber dennoch gerettet. Hinter einem Weißdornstrauch auf dem Heimweg haben wir sie uns gut schmecken lassen.
Meine Schürze hatte zur Strafe dicke Obstflecken davongetragen. Von Vater, der zufällig einige Tage Heimaturlaub hatte, gab es einen Rüffel, hat uns Herr T. doch tatsächlich verpetzt. In Vaters Gesicht glaubte ich aber doch ein verstecktes Schmunzeln entdeckt zu haben. Herr T. war ein guter Bekannter von Vater.
Privatfahrzeuge durfte schon lange niemand mehr besitzen. In unserem Ort hatte nur der Arzt noch ein Auto. Mutter hatte, da Vater mittlerweile eingezogen worden war, rechtzeitig unseren PKW so auseinandergenommen und wesentliche Dinge ausgebaut und versteckt, dass sie die aufgebockte Karosserie als fahruntüchtig und defekt deklarieren konnte. Von Vater bekam sie dafür später ein großes Lob, sie hatte doch eigentlich überhaupt keine Ahnung von technischen Dingen.
Es kam die Zeit, dass für unsere Strecke von 10 km zum Bahnhof kein Bus mehr zur Verfügung stand. Alle Fahrzeuge wurden für den Krieg gebraucht. Wir Schüler waren also auf Fahrräder angewiesen. Das bedeutete, noch früher morgens aufzustehen. Der Gastwirt gegenüber dem Bahnhof erklärte sich bereit, sämtliche Fahrräder der auswärtigen Schüler in seiner Scheune unterzustellen. Radpannen waren nicht selten. Zum Reparieren mussten wir in der damaligen Zeit viel improvisieren. Ersatzteile und Flickmaterial war knapp. Wenn nichts mehr ging, ging man halt "per pedes". Einige ließen sich den Trick einfallen, zu zweit ein Fahrrad zu benutzen und zwar folgendermaßen: Der eine ging zu Fuß los, während der zweite sich auf sein Fahrrad schwang und den Fußgänger überholte und in etwa 200 bis 250 m das Fahrrad an einen Baum stellte und zu Fuß weiterging. Hatte der zweite das Fahrrad erreicht, benutzte er es, überholte wieder und so ging es weiter. Auf diese Weise waren immerhin beide zugleich am Ziel und man hatte die Fahrradbereifung nicht dadurch überbelastet, jemanden auf dem Gepäckhalter mitgenommen zu haben.
Für die Wintermonate hatte sich ein Bauer bereit erklärt, alle Schüler unseres Dorfes mit Pferd und Wagen zur Bahn zu bringen. Dafür hatte er irgendwo einen geschlossenen Schaustellerwagen erstanden. Er baute Bänke ein und als Beleuchtung dienten innen und außen Stalllaternen, d.h. Petroleumlampen.
Den Bus verpassen gab es jetzt nicht mehr, unser Bauer kannte jeden und wenn einer fehlte, hängte er sich ans Telefon. Bei Luftangriffen während der Fahrt, wurde in den Zickzackgräben, die in Abständen von 200 - 300 m an den Straßenrändern ausgehoben waren, Schutz gesucht. Eine abenteuerliche Zeit.
Ein unvergessliches Kriegserlebnis war eine Großangriffsnacht auf Hamburg. Ich hockte mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen mit ca. 20 - 30 serbischen Kriegsgefangenen, die ihr Lager unserem Haus gegenüber hatten, in einem ausgehobenen Schutzgraben. Auf dem Lande gab es keine Luftschutzbunker, wie man sie von den Großstädten kannte.
Die Bomberverbände, aus Richtung Norden kommend, flogen in ziemlicher Höhe über uns hinweg. Ich habe heute noch das schwerfällig brummende Geräusch in den Ohren. Ca. 45 Minuten später setzte der Großangriff auf Hamburg ein. Man sah, wie sich am Horizont der Himmel rot färbte. Die Feuerfront wuchs nach rechts und links.
Das Ausharren im Graben erschien mir unendlich. Wir saßen enggedrängt in diesen Löchern. Der muffige Geruch der Lagerinsassen zog uns in die Nase. Da aber für uns keine Entwarnung gegeben war, durften wir nicht vorzeitig in die Häuser zurückkehren.
Als die Bomberverbände zurückkamen, sah man unzählige Scheinwerferstrahlen am Himmel, die die feindlichen Bomber zum Abschuss einzufangen versuchten. Plötzlich hörten wir einen gewaltigen Knall über uns. Es wurde taghell. Etwas Brennendes, vermutlich ein getroffenes Flugzeug, flog dicht über unsere Häuser hinweg. Es musste unmittelbar hinter unserem Dorf niedergegangen sein.
Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg. Wir hatten noch ca. 3 km zu laufen, bis wir den Acker erreichten, wo in 1000 Stücken zerborsten, in großem Umkreis verstreut, die Reste des britischen Flugzeugs lagen. Darunter blutige Körperteile. Ein Bild des Graues. Es waren inzwischen viele Menschen herbeigeeilt.
Wir Kinder wurden mit scharfen Worten aufgefordert, nach Hause zu gehen. Dort angekommen, wollten wir unsere Eindrücke schildern, doch Mutter war wieder einmal, wie immer in regelmäßigen Abständen, zum sogenannten "Bezugscheine schreiben". Da alles, was es zu kaufen gab, rationiert war, Kleidung, Schuhe, Lebensmittel, sogar Brot und Brötchen, wurden für unseren Ort ca. 5 - 6 Frauen für die Vorbereitungen und Ausgabe dieser Karten eingeteilt. Einmal monatlich wurden diese in unserem Dorfschulgebäude verteilt. In langen Schlangen bis auf die Flure hinaus drängte man sich, als ob der eine oder andere keine mehr bekäme.
Milch und Butter war auch rationiert. Vollmilch bekamen nur Familien mit Kleinkindern. Wir mussten uns mit Magermilch und Buttermilch zufrieden geben. Für die Körperpflege gab es damals Schwimmseife. Winzig kleine Stückchen. Sie war so leicht, dass sie tatsächlich auf dem Wasser schwamm und nach drei- bis viermal Waschen verbraucht war.
Bei meinen Großeltern, in der Bäckerei, durfte ich des öfteren helfen, die von den einzelnen Kunden-Lebensmittelkarten abgeschnittenen Brot- , Brötchen- und Kuchenmarken auf Zeitungspapier aufzukleben. Es wurde Mehlkleister verwendet, den uns Großvater kochte bzw. anrührte. Wir sangen dabei Lieder und erzählten uns Erlebnisse oder hörten zu, wenn Großmutter uns aus alten Zeiten berichtete.
An eine Geschichte erinnere ich mich noch sehr genau, weil sie unheimlich aufregend war. Es war eine Sturmflutnacht, von der sie erzählte. Alle Männer mussten die Deichscharte mit den bereitgestellten Brettern doppelwandig schließen und die Zwischenräume mit Sand füllen, der immer bereitliegen musste. Es fanden regelmäßig Deichkontrollen statt. Keiner wusste wie hoch das Wasser kommen würde. Die Scheune mit dem Vieh im Außendeich hatte eine Höhe, dass die Kühe und das Pferd nicht rausgeholt werden mussten, das Wasser würde allenthalben bis an den Bauch der Tiere reichen. Wenn das Wasser höher kommt, läuft ohnehin der Deich über. Aber die Schweine mussten raus. Es war stockdunkel und das Wasser kam schneller als erwartet. Es stieg und stieg. Mit Gummistiefeln, die über die Kniekehlen hinausreichten, sind die Großeltern in den Stall gegangen, um die Schweine zu retten.
Oh Schreck, die tragende Sau war nicht da, eine Holzluke hatte sich irgendwie geöffnet. Nachdem ein Schwein ins Trockene geholt worden war, ging es mit Boot und Laterne auf Suche. Ohne Erfolg. Als nach etlichen Stunden das Wasser wieder zurückging und man im Morgengrauen auch wieder besser sehen konnte, fanden sie die Sau auf dem Dach des Plumpsklos, das hinter der Scheune stand.
Weil die Geschichte trotz allem eine gewisse Komik hatte und alle lachten, hat keiner mehr gefragt, wie sie die Sau wieder herunterbekommen haben. - Das zu den Erlebnissen aus alten Zeiten, die Oma zu erzählen hatte.
Meistens saßen wir auf dem Backofen, dort war es warm und wir sparten Feuerung. Es war der Garraum für Hefeteig und er wurde auch häufig zum Trocknen von Dörrobst gebraucht.
In der Backstube war zu der Zeit längst Feierabend.
Großvater saß mit seiner langen Pfeife, die mit ihrem Porzellankopf bis zum Fußboden reichte, mit aufmerksamen Ohren am Volksempfänger. Manchmal hieß es: "Ruhe, der Führer spricht" oder: "Sei still, die neuste Luftlagemeldung".
An der Wand hing eine gepolsterte Samtplatte mit vielen kleinen Holzfiguren des Winterhilfswerks. Sie war so überfüllt, daß man keine mehr unterbringen konnte
Großvater war in der NSDAP, er sagte, sonst hätte man ihm die Konzession für seine Bäckerei entzogen.
Ungern erinnere ich mich an ein Erlebnis in meinem Heimatort, als der Dorfpolizist hoch zu Roß, in Uniform und Tschako, in der Hand eine Peitsche, ein Mädchen vor sich hertreibend, zum Dorfausgang ritt. Wieder einmal sollte eine Polin bestraft werden, weil sie ihr "P" nicht sichtbar auf der Brust trug. Polnische Männer, Zwangsarbeiter, die sich angeblich etwas zu Schulden kommen lassen hatten, wurden in eine Einzelzelle gesperrt, ein schmaler Gang mit Pritsche und hölzerner Außentür, die mit einem Eisenriegel gesichert war, quer über die ganze Tür hinweg und ein dickes Vorhängeschloss davor.
Wir Kinder haben manchmal heimlich Äpfel aus unserem Garten oder eine Scheibe Brot oder Bonbons durch das ca. 20 x 20 cm große vergitterte Guckloch der Tür gesteckt. Ein Fenster hatte dieses Verließ nicht.
Auf der anderen Seite des Gebäudes war der mit Stacheldraht gesicherte Freilauf serbischer Gefangenen, die hier ihr Lager hatten. Manchmal hörte man Akkordeonmusik herüberklingen. Vater hatte während eines Heimaturlaubs dieses alte Instrument, das er nicht mehr benutzte, bei Dunkelheit durch die Einzäunung gesteckt. - Wehe, wenn er erwischt worden wäre!
Einmal wöchentlich, später sogar zweimal musste ich zum Dienst, ich gehörte - wie in der NS-Zeit alle Mädchen ab 10 Jahre - zu den Jungmädeln (JM), die älteren ab 14 oder 15 Jahre waren im BDM (Bund Deutscher Mädel).
Dort wurde gebastelt, wir machten Geländespiele und einmal monatlich war politischer Unterricht. Ich höre heute noch die Worte der Bannführerin: "Eisern müsst ihr sein, eisern!" - Ich konnte damit überhaupt nichts anfangen. - Eine wichtige Aufgabe war später auch das Stricken von Puls- und Kniewärmern für die Frontsoldaten in Russland. Für die Feldlazaretts stellten wir Wundpäckchen her. Aus Leinenquadraten wurden alle Kett- und Schussfäden herausgezogen, so hatten wir eine weiche, saugfähige Füllung für die eigens dafür genähten weißen Kissen. Auch die Frauenschaft befasste sich mit solchen Arbeiten.
Später, als sich der große Flüchtlingsstrom aus den deutschen Ostgebieten in Bewegung setzte, bekamen wir weitere Aufgaben, z. B. Taschen aus Stroh zu basteln, Einkaufsnetze knüpften wir aus Papierbindegarn, das die Bauern zum Binden der Korngarben verwendeten. Aus Wollresten strickten wir Quadrate, die zu Schlafdecken zusammengenäht oder -gehäkelt wurden. Dafür ging dann auch unsere Freizeit zuhause drauf.
Zu Beginn jedes Dienst-Nachmittags, der immer um 15.30 Uhr begann, wurde angetreten, die Hakenkreuzfahne gehisst und das Deutschlandlied gesungen. Natürlich hatten alle in Uniform zu erscheinen, die aus schwarzem Rock mit Golffalte und weißer Bluse mit aufgesetzten Taschen, bestand. Alle Knöpfe trugen die Prägung BDM. Nach einem Vierteljahr Zugehörigkeit durften man das schwarze Dreiecktuch mit braunem Lederknoten tragen. Dazu gab es aus Velveton braune kurze Jacken, auch Kletterweste genannt. Alle waren stolz auf ihre Uniform.
Ich erinnere mich an einen Nachmittag nach Dienstschluss. Es war auf dem Heimweg, als ich einen Dorfschullehrer traf, den ich freundlich mit "Guten Tag" grüßte. Er dreht sich barsch um und sagte: "Was hast du gesagt? - Guten Tag? - Wie heißt das?", ich sagte etwas kleinlaut: "Heil Hitler!" - "Lauter!", sagte er, "und den Arm gerade nach vorn". Ich tat, wie mir befohlen und ging mürrisch weiter. Religionsunterricht gab es schon länger nicht mehr in der Schule.
Im Geschichtsunterricht wurde nur alte römische und griechische Geschichte gelehrt. Wie gern hätten wir Schüler etwas über gegenwärtige Geschichte gehört. Ich habe damals nie verstanden, warum alles so war, wie es war. Zu Hause wurde über Politik kaum gesprochen, zumindest nicht in Gegenwart meiner Schwester und mir. Jeder kennt den Satz: Kindermund . . . usw. usw.
Wie leicht hätte man ins KZ wandern können. Nur gut, daß ich von all' diesen Dingen keine Ahnung hatte. Ich war ohnehin damals für solche Themen noch viel zu naiv und unreif. - So ist mir sicherlich auch manches erspart geblieben.
In unserer Freizeit streiften wir Kinder gern über die Felder. An den Wegen mit ihren tiefen von Pferdegespannen ausgefahrenen Furchen wuchsen Mohn und Kornblumen; auf den tiefer gelegenen, feuchten Wiesen gab es sogar die geschützte Sumpfdotterblume.
Manchmal saß ich am Wegesrand, ordnete einen Feldblumenstrauß für Mutter und dachte darüber nach, warum die Menschen sich bekämpfen und Krieg führen. Warum werden Länder und Städte zerstört, warum werden Menschen erschossen, warum werden Leute zu Gefangenen gemacht und eingesperrt, warum gibt es Hass auf unserer schönen Erde? Ich verstand das alles nicht. Vater hatte mir manchmal so merkwürdige Fragen gestellt wie z.B.: "Weißt du, wie auf unserem Globus hier das riesengroße nicht zu übersehende grüne Land heißt?" - "Natürlich", sagte ich, "das ist Russland." - "Und wo liegt Deutschland?" fragte er. Nachdem ich zwischen den vielen sehr kleinen Ländern in Europa suchte, fand ich es und zeigte mit dem Finger auf das kleine, rot abgebildete Land. "Weiß Adolf Hitler das auch?" fragte er und meinte wohl den gewaltigen Größenunterschied.
Überall auf den Feldern lagen von feindlichen Flugzeugen abgeworfene Silberstreifen herum, die die deutschen Radarschirme irritieren sollten. Wir sammelten sie, um daraus zu Weihnachten Lametta zu machen. Andere abgeworfene Gegenstände, wie Spielzeug, Füllhalter oder ähnliches dürften wir nicht berühren, sagte Mutter, sie seien mit Sprengstoff oder Gift gefüllt.
Aber eigentlich wollten wir heute zu den abgeernteten Steckrübenfeldern. In gleichmäßigen Abständen lagen die gelben Früchte zu Haufen gestapelt abholbereit. Ein Messer hatten wir dabei. Wir suchten uns eine schön gleichmäßig gewachsene Rübe heraus und verzehrten sie gemeinsam , verstohlen hinter einem Haufen hockend, damit uns auch keiner entdeckt.
Großvater väterlicherseits, der sein Grundstück direkt neben unserem hatte, beschloss, nachdem die Angriffsgefahr der feindlichen Flugzeuge immer bedrohlicher wurde, einen bombensicheren Bunker zu bauen. Gesagt, getan, es wurde sofort begonnen. Einen Meter dick sollte die Betondecke dieses Bunkers werden, mit Notausstieg, wie vorgeschrieben. Es war Platz für ca. 15 Personen darin. Oberhalb des Erdbunkers baute er einen aus Brettern gezimmerten Holzschuppen. Eine gute Tarnung von oben.
Wir mussten tatsächlich später noch manche Nacht darin verbringen.
Auf meine Mutter sollte bald in ihrer aktiven Rolle beim Roten Kreuz eine verantwortungsvolle Aufgabe zukommen, denn es kamen jetzt zahlreiche Flüchtlinge aus Ostpreußen, Westpreußen und Pommern. Unsere Bauern im Dorf waren angewiesen, mit Pferd und Wagen, Strohbündeln und Wolldecken wegen der Kälte, denn es war Winterszeit, zum 10 km entfernten Bahnhof zu fahren, um Flüchtlingsfamilien abzuholen, die in unserem Ort untergebracht werden sollten.
Sie wurden, bis sie eine endgültige Unterkunft zugewiesen bekamen, in den Grundschul- und Landwirtschaftsschulräumen untergebracht, die mit Strohsäcken ausgestattet wurden.
In einem größeren Gasthaus des Dorfes kochten die DRK-Helferinnen Erbsensuppe, Weißkohl oder Kartoffelsuppe für die heimatlos gewordenen Menschen.
Einige Wochen später trafen die ersten Trecks ein, die sich in ihrer östlichen Heimat mit eigenem Gespann auf den langen Weg gemacht hatten. - Nicht alle erreichten ihr Ziel. Viele verhungerten, erfroren oder kamen auf andere Weise um. Alle, meist erschöpft eingetroffenen Flüchtlinge wurden ärztlich und vom Roten Kreuz versorgt. Sie bekamen Decken und warme Kleidung.
Bis alle ihre vorläufige Unterkunft zugewiesen bekamen, vergingen einige Tage. Die mit Planen überspannten und mit den letzten Habseligkeiten vollgepackten Pferdewagen standen dicht an dicht in Seitenstraßen.
Wir gingen neugierig an den vielen Wagen vorbei. Mütter mit ihren dick in Decken gehüllten Kindern saßen oben auf ihren Bündeln und schauten hinter der Plane hervor, abwartend und verunsichert, was wohl mit ihnen geschehen wird. Ich schäme mich noch heute über meine damalige Neugier.
Wir sahen unsere Mutter in dieser Zeit nur selten. Sie war viele Stunden am Tag durch DRK-Aufgaben eingespannt.
In jedem Haus unseres Ortes wurden die räumlichen Verhältnisse geprüft und festgelegt, wer wie viel Räume abzugeben hatte, um dort die eine oder andere Familie aufzunehmen.
Auch zu uns kam Einquartierung. Es war eine entfernt verwandte Tante mit ihrer kleinen Tochter und ihrer Schwester. Sie kamen etwas verspätet mit 2 Pferden und einem Planwagen. Es wohnten nämlich noch ausgebombte Verwandte aus Hamburg bei uns, die aber bald darauf in ihrer Stadt nach vielen Bemühungen wieder eine Bleibe gefunden hatten. Man rückte so eng zusammen, wie es nur irgend ging. Es war für viele jahrelang notwendig, daß ganze Familien in einem Raum wohnten, schliefen, kochten und wuschen.
Bei unseren Großeltern an der Oste standen eines Tages 9 Personen, es waren Verwandte, die mit Pferden und Wagen aus der Gegend von Wriezen kamen, vor der Tür. Sie hatten dort ihre Güter verlassen. 2 Personen fehlten. Ein Onkel war von den gegnerischen Soldaten erschossen worden und eine Tante unterwegs verhungert und erfroren. Das Personal, das sie begleitet hatte, war mit dem Proviantwagen und den Reitpferden plötzlich verschwunden. Die verstorbene Tante wurde irgendwo am Wegesrand in aller Eile begraben.
Alle konnten untergebracht werden. 2 Personen bei den Großeltern und die anderen im ersten Obergeschoss eines größeren Gebäudes im Ort, in dem unten ein Gemischtwarenladen war mit ziemlich leeren Regalen. Die relativ großen hohen Räume wurden geteilt zu kleineren und mit sogenannten Kanonenöfen ausgestattet, deren Ofenrohre teilweise durch ein Fenster gesteckt werden mussten, weil nicht überall ein Schornstein zur Verfügung stand.
Als das Kriegsende nahte, wurden sogar kleine Orte von Tieffliegern angegriffen. Dächer und Fenster wurden durchschossen und Brandbomben geworfen.
An einem warmen sonnigen Tag hielt ich mich mit meiner Schwester und einer Freundin hinter unserem Haus auf, als plötzlich ohne Ankündigung durch Alarmsirenen, einige Tiefflieger unser Dorf aufs Korn genommen hatten, weil bei uns deutsches Militär lag, das auf dem Rückzug war. Wir hatten keine Möglichkeit mehr, über den Hof zum Bunker unseres Großvaters zu gelangen. Wir flüchteten uns ins Haus, wo unsere Mutter sich mit uns drei in eine vermeintlich einigermaßen sicheren Ecke verkroch. Die Arme hatte sie schützend um uns geschlungen.
Wir hörten Schüsse und viel Gepolter. Unser Haus musste getroffen worden sein. Eine Staubwolke zog an uns vorbei und Putz fiel von der Decke.
Als der Spuk nach kurzer Zeit vorbei war, hörten wir, dass eine Arbeitsmaid, die auf einem Bauernhof arbeitete, beim Überqueren des Hofes erschossen worden war und dass zahlreiche Brandbomben niedergegangen waren und Dächer und Fensterscheiben durchschossen wurden.
Meine Eltern hatten sich abgesprochen, dass Vater während der Zeit des Krieges täglich einige Zeilen schreibt, auch wenn es nur die Worte waren: "Ich bin in Sewastopol, in Kertsch oder . . . und mir geht es gut." Mutter führte Buch darüber und die Landkarte lag immer ausgebreitet auf dem Schreibtisch und hatte viele Markierungen in verschiedenen Farben. Vaters Feldpostnummer habe ich bis heute nicht vergessen, sie hat sich so eingeprägt, wie Brandmale bei Rinderherden.
In den letzten Wochen und Monaten haben wir so manche Nacht in Großvaters bombensicherem Bunker verbringen müssen. Schlafen konnten wir dort kaum, weil er mit meist 15 Personen besetzt war und dann zum Liegen der Platz nicht ausreichte. Alle halbe Stunde ging Großvater an die Tür, um zu schauen und zu horchen, ob es schon Entwarnung gibt. Solange noch die Suchscheinwerfer am Himmel kreisten, war die Luft noch nicht rein.
Nach langer Zeit ohne Post von Vater, der zuletzt auf der Krim gewesen war, er war Oberwerkmeister für die Instandhaltung der Fahrzeuge seiner Kompanie, hörten wir endlich wieder ein Lebenszeichen von ihm. Er war auf dem Rückzug verwundet worden und lag in einem Lazarett in Lörrach. Gott sei Dank in Sicherheit!
Im Frühjahr 1945 wurden unsere Ängste immer größer. Die Front rückte näher und an den Ortseingängen baute man Panzersperren von Baumstämmen, die dicht an dicht eingerammt und mit Sand gefüllt wurden. Die Hitlerjugend zog ziemlich zum Schluß noch mit Panzerfäusten hinaus, um unser Dorf zu verteidigen. - Welch' sinnloses Unterfangen.
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag des Kriegsendes. Ich stand vor einem alten strohgedeckten Bauernhaus in der Nachbarschaft. Auf dieses Strohdach warfen wir Kinder immer gern unsere Bälle, um sie dann, wenn sie zurückrollten, wieder aufzufangen. - Plötzlich kamen alle Leute aus ihren Häusern, Kinder kamen angerannt und alle riefen: "Der Krieg ist aus, der Krieg ist aus!" Ich weiß nur noch, dass ich vor lauter Freude Luftsprünge machte und eiligst nach Hause rannte, um meiner Mutter diese Neuigkeit, die sie natürlich längst wusste, zu berichten. - Es war wie ein neues Leben, keine Angst mehr haben zu müssen, kein Bombenalarm mehr, nicht mehr in den Luftschutzbunker zu müssen.
Jetzt waren auch alle Kriegsgefangenen, die in unserem Dorf in Lagern waren, frei. Sie tanzten, sangen und musizierten auf den Straßen. Parteigenossen, die ein Amt inne hatten, wie in unserer dörflichen Umgebung z. B. Ortsgruppenleiter, Frauenschaftsleiterinnen, auch Polizisten hatten sich bei Nacht und Nebel aus dem Staube gemacht. Ihre Häuser wurden in einigen Fällen geplündert, Frauen wurden belästigt. Unsere Mutter hatte das Glück durch ihre Zugehörigkeit zum DRK - sie trug auch zu diesem Zeitpunkt ihre Tracht - daß sie von 2 Gefangenen aus dem Lager gegenüber und dank des Verhaltens meiner Eltern den Lagerinsassen gegenüber, beschützt wurde.
Als die Besatzungsmächte eintrafen - bei uns waren es britische Truppen - wurden alle Häuser inspiziert. Öffentliche Gebäude wurden besetzt. So auch unsere Schule in Stade. Für unseren Direktor und das Lehrer-Kollegium wurde es nun schwierig, den Unterricht fortzusetzen. Jeden Morgen erwartete uns ein Lehrer am Stader Bahnhof, um uns für den jeweiligen Tag den Unterrichtsort zu nennen. Einmal war es ein Kartenraum in dem riesigen Athenäum, das ansonsten als Lazarett der britischen Truppen diente, einmal ein Zimmer in der Berufsschule, selbst im Gerichtsgebäude unterrichtete man uns an manchen Tagen. Es wurde von Woche zu Woche problematischer, Räumlichkeiten freizumachen, bis schließlich der Unterricht völlig ausfiel.
Wie geht es weiter mit Unterricht?
In den folgenden Wochen und Monaten hatte ich endlich Zeit für meine Lieblingsbeschäftigungen - Hobbys, wie man so schön sagt. Ich malte Landschaften, Stillleben, Blumen etc. mit Wasserfarben. Meine Lehrer, sowohl in der Volksschule als auch der Oberschule sagten manchmal: "Du willst wohl einmal Kunstmalerin werden." Ich konnte dann meist meine Verlegenheit nicht verbergen. Mein Vater hielt diese "Künste" ohnehin für brotlose.
Ich beschäftigte mich auch in dieser Zeit mit alten Handarbeiten, die mir meine Großmutter, bei der ich jederzeit Anleitung hatte, beibrachte, wie z.B. Richelieu, Okey, Lochstickerei und natürlich die bekannten Techniken, wie Stricken, Häkeln usw.. Mit großer Leidenschaft strickte ich Decken aus Baumwoll- und Seidengarn auf Rundstricknadeln mit komplizierten Lochmustern.
Mutter bemühte sich darum, einen Platz für mich in der Grundschule zu bekommen, damit ich von der Straße komme, wie sie damals sagte.
Es schien zu klappen. - Für mich galt es jetzt, eine Hemmschwelle zu überwinden, denn ich befürchtete, nicht in die Gemeinschaft kameradschaftlich aufgenommen zu werden. - Es war aber weniger schlimm als ich mir vorgestellt hatte. Ich wurde vielmehr mit Zurückhaltung und abwartender Neugier aufgenommen. Ich fühlte mich in dieser Rolle nicht wohl.
Vom Lehrer, der gleichzeitig Schulleiter dieser Grundschule war, hatte ich den Eindruck, dass immer nur ich im Unterricht gefragt werde. Ich musste auch regelmäßig meinen Aufsatz vorlesen - es war seine Lieblingsaufgabe, uns Schülern täglich Hausaufsätze aufzugeben. Ich hoffte auf eine baldige Änderung dieser Situation.
Nach einem Vierteljahr tauchte in unserem Dorf ein junger Dramaturg auf, der sich recht und schlecht irgendwie durchschlagen musste. Er kam nach Abstimmung mit unserem Pfarrer, dessen Kinder ebenfalls in der Zeit als Oberschüler auf Unterricht verzichten mussten, auf die gute Idee, in einem 45 qm großen Raum des Pfarrhauses, der aus Mangel an Heizmaterial nicht genutzt wurde, allen Mittel- und Oberschülern des Dorfes Notunterricht zu erteilen. Jeder Schüler sollte für den riesigen Kachelofen täglich je ein Stück Holz und Torf mitbringen. Das Entgelt für den Unterricht bestand darin, dass Herr Deppe, so hieß der Dramaturg, eine Woche lang von den Eltern des einen Schülers und die nächste Woche im Hause des anderen beköstigt wurde.
Das ging so Reih' um. Im Sommer, an warmen Tagen, fand der Unterricht unter der Rieseneibe im Pfarrgarten statt. Obgleich alle Jahrgänge gemeinsam unterrichtet wurden, haben doch alle von dieser Zeit profitiert.
Die Pfarrersfamilie war erst seit einem Jahr in unserem Ort. Sie gehörten zu den vielen Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten. Mit der Tochter Antje freundete ich mich mit der Zeit an. Wir waren dann fast täglich auch nach dem Unterricht zusammen, sei es zum Klavierspielen oder zum Lernen von lateinischen Vokabeln. Ein Jahr später wurde in Warstade, ca. 10 km von unserem Ort entfernt, eine 3-klassige Notschule eröffnet. Ein schon pensionierter Studienrat stellte sich freiwillig zur Verfügung, alle Mittel- und Oberschüler der umliegenden Ortschaften zu unterrichten. In Zusammenarbeit mit einem Dipl.-Ing., der die Fächer Mathematik und Erdkunde gab, lehrte Herr Dr. Finke, der Studienrat, Deutsch, Englisch, Latein und Religion. Der Unterricht fand in Konfirmandenräumen des dortigen Pfarrhauses statt.
Inzwischen fuhren auch wieder Busse, so dass wir nicht per Fahrrad zur Schule zu fahren brauchten.
Auch hier war es erforderlich, dass wir Schüler für Heizmaterial sorgten. Die erste Aufgabe der Jungen war jeden Morgen, den großen Kachelofen mit gusseisernem Sockel, der reichlich verziert war, anzuheizen. Das Mobiliar war alt und brüchig. Teilweise saßen wir auf zusammengezimmerten Holzbänken, weil die vorhanden Stühle nicht ausreichten. Lehrbücher gab es in dieser Zeit keine. Auch Schreibhefte waren Mangelware.
Unterrichtsmaterial, d.h. Texte hat unser Studienrat selbst zusammengestellt, von seiner Frau auf einer alten Schreibmaschine schreiben lassen und dann wurde das ganze im Ormig-Verfahren vervielfältigt und an die Schüler verteilt. Er muss schon Beziehungen gehabt haben, um an dieses Material gekommen zu sein. Schreibhefte haben wir uns damals aus Feldpostbriefen gemacht, die einen Kleberand hatten und bei feuchter Lagerung häufig zusammenklebten. Großvater hatte in seiner Bäckerei noch einen Vorrat an pergamentartigem Einwickelpapier, das auch zeitweise für Schulhefte für meine Schwester und mich verarbeitet wurde, allerdings ließ es sich nur mit Bleistift beschreiben.
Neben mir saß Karl-Heinz, der sehr schlecht in Mathe' war. Ich half ihm dabei und er brachte mir dafür täglich einen dicken roten Apfel aus dem Apfelhof seiner Eltern mit. Manchmal mußte ich den Apfel weitergeben, da auch ich ein Fach hatte, in dem ich ziemlich schwach war. Es war Latein, mir half Doris und sie freute sich über den Apfel.
Unser "Schulgebäude", das Pfarrhaus, hatte neben der Kirche, auf einem Hügel gelegen, einen großen Hof, der als Schulhof genutzt wurde.
An einem schönen Herbsttag, als schon alle Blätter vertrocknet am Boden lagen, kamen einige der 13- bis 14-jährigen Jungen auf die Idee, aus diesen trockenen Blättern zusammen mit herausgerissenen Schreibheftseiten "Zigaretten" zu drehen und dann natürlich auch zu rauchen. Sie müssen wohl nicht geschmeckt haben, das Husten und Spucken hinter dem Toilettengebäude wollte kein Ende nehmen.
Meine Schwester erlaubte sich eines Tages den Spaß, Herrn Dr. Finke, der eine blanke Glatze hatte, eine Brille trug und ziemlich klein war, hinten ans Jackett einen Kaninchenschwanz zu heften. Er hatte die Angewohnheit, während des Unterrichts durch die Bankreihen zu gehen und hier und da stehen zu bleiben, so hatte sie Gelegenheit dazu. Als er dann sein Buch, aus dem er vorlas, aus der Hand legte, nahm er beide Hände auf den Rücken und fühlte das weiche Fell. -
Er wurde so wütend, dass er drohte, die Angelegenheit nach Stade zu melden, dort waren inzwischen wieder die oberen Klassen des Lyzeums eingerichtet. - Keiner hat etwas verraten, wer diesen Streich ausgeführt hatte. Dafür musste die ganze Klasse büßen. - Strafarbeit: Wie habe ich mich während des Unterrichts zu verhalten? - 10 Seiten sollten es werden.
Die Schüler fragten, worauf sie diese Strafarbeit schreiben sollten, sie hätten kein Papier. "Auf Zeitungsränder mit Bleistift", sagte Picolo, diesen Spitznamen hatte wir Dr. Finke gegeben..
In diese Zeit des Schulbesuchs Warstade fiel auch meine Konfirmation. Die größte Schwierigkeit war, Stoff für ein Kleid zu beschaffen. Schneiderinnen gab es genug. Es war üblich, in schwarz an diesem besonderen Tag zu gehen. Nirgends war Stoff aufzutreiben, auch nicht gegen Speckeintausch. Großmutter erinnerte sich, daß in der Truhe auf dem Boden noch ein alter schwarzer Rock von Urgroßmutter lag. Das Konfirmationskleid daraus wurde knapp und eng aus Mangel an Material und war nur für diesen einen Tag bestimmt; denn der Stoff, nicht mehr reißfest genug, erlaubte mir keine wilden Bewegungen. - Es hielt auch nur einen Tag. Genäht hatte es Frau Allward. Sie war früher Innenarchitektin in Hamburg gewesen und jetzt total ausgebombt. Ihr blieb nichts als das nackte Leben. Sie ging zum Schneidern von Haus zu Haus, um sich so über Wasser zu halten. Der Bedarf war so groß, jeder wollte sich aus alten Sachen etwas Neues zaubern lassen.
Als Konfirmationsgeschenk bekam ich von meinen Eltern ein Besteck für 6 Personen mit Silberauflage. Mutter hatte es früher vor dem Krieg einmal für sich selbst angeschafft. Von Tante Irma bekam ich ein Fläschchen Parfum, auch Vorkriegsware. Etwas daraus war schon verdunstet, obgleich die Flasche noch original verschlossen war. Großmutter, die auch gleichzeitig meine Patentante war, hatte mir drei wunderschön umhäkelte Taschentücher geschenkt, eins mit einer so breiten Spitze, dass alle meinten, es könne einmal als Brauttaschentuch dienen. Sie hatte sie liebevoll in einem leeren Pralinenkarton verpackt, ein rotes, aufgebügeltes Band mit Schleife und eine gepresste Blüte aus dem Garten verzierte das ganze.
Eine Nachbarsfrau brachte ein selbstgebasteltes Kästchen aus bunten, bereits beschriebenen Postkarten zusammengenäht. Ein Geschenk war aus rohem Holz, eine kleine zusammenklappbare Miniatur-Schultafel mit einem aufgeklebten Kissen, darauf viele bunte Stecknadeln, es sollte wohl ein Nadelkissen sein. - Ja, man war recht bescheiden, aber es gab auch nichts besseres.
Es waren immer noch britische Besatzungstruppen in unserem Dorf, die sich in einigen repräsentativen Gebäuden, die von den Besitzern geräumt werden mussten, einquartiert hatten.
Wir Kinder hatten schnell heraus, dass sich die jungen Soldaten gern unangenehme Arbeiten, wie Stopf- und Flickarbeiten, Küchewischen etc. abnehmen ließen. Dafür gab es Bonbons und Schokolade und schönes helles Weißbrot, was wir schon lange nicht mehr kannten.
Die wirtschaftliche Situation wurde immer schwieriger. Die Inflation nahm größere Ausmaße an. Unsere Mahlzeiten zu Hause bestanden aus Brot mit Apfelmus, gesüßt mit Süßstoff. Zeitweise gab es nur Maisbrot, das den Bäckern beim Backen große Schwierigkeiten bereitete. Es fiel beim Kneten leicht auseinander. Ich höre Opa noch heute in seiner Backstube darüber schimpfen. In Omas Haushalt hatte jeder seinen eigenen Butterteller mit einem kleinen abgewogenen Häufchen und dem Namenschild darauf, damit es, da ja auch Personal beköstigt wurde, keinen Ärger gab. Schmalz auf Brot gab es nur selten. Es wurde eingeteilt und war zudem ein wichtiges Tauschprodukt wie auch Speck, wenn man Schuhe oder Ähnliches brauchte. Abends gab es tagaus, tagein Bratkartoffeln in Rapsöl gebraten und Buttermilchsuppe, manchmal auch Suppe aus Magermilch, die man ständig rühren musste, damit sie nicht anbrennt. Die Hauptmahlzeiten mittags bestanden meist aus Kartoffelsuppe, Erbsensuppe, Weißkohl und Steckrüben. Wenn man dann noch ein Stückchen Speckschwarte hatte, damit auch ein paar Augen herausgucken und nicht nur welche hinein, freute man sich.
Um Rapsöl zu gewinnen, hatte Vater, der inzwischen gesund aus dem Lazarett zurückgekehrt war, während Onkel Heinrich, sein Bruder, am Ilmensee in Russland gefallen war, eine seiner Drehbänke in der Werkstatt technisch umfunktioniert, dass man die Rapskörner auspressen konnte. So haben wir vielen im Dorf helfen können und hatten selbst, als Lohn dafür, auch Speise-Öl. Es schmeckte besser als das Fischöl, das wir vorher bekamen.
Für die Beleuchtung hatte Vater sich etwas Besonderes ausgedacht. Eine Fahrrad-Karbidlampe, die sehr helles Licht spendete, hängte er uns in der Küche an die Wand. So waren wir unabhängig von dem häufig abgeschalteten Stromnetz. In den anderen Räumen genügte das etwas schwächere Licht von Petroleumlampen, deren Glaszylinder fast täglich geputzt werden mussten. Wenn es kein Petroleum mehr gab, waren wir auf Kerzen angewiesen, die teilweise aus alten Stummeln selbstgegossen waren.
Große Probleme gab es mit Schuhen. Die ganze Familie hatte nur je ein oder zwei Paar ausgelatschte, mehrfach besohlte Schuhe. Wir Kinder durften diese nur für die Schule tragen, in der Freizeit liefen wir mit Holzschuhen, die wir uns in unserem Dorf beim Holzschuhmacher anfertigen ließen. Ich hatte große Schwierigkeiten, damit fertig zu werden. Meine Füße bekamen wunde Stellen. Ich wunderte mich über manche Kinder, die damit liefen als wären es Sportschuhe.
Von Großmutter erfuhren wir, dass es in ihrem Ort einen Hersteller von eleganten Holzsandalen gäbe, deren Keilsohlen Gelenke hätten und mit schönen Mustern verziert sein sollten. Diese Muster brannte er mit glühenden Eisenwerkzeugen ein. Für die Oberteile hatte er stabiles Leinen, eingefasst mit farbigen Biesen aus Stoffresten. Wer noch Lederreste zu Hause hatte, war besonders gut dran. Diese Sandalen wurden für jeden individuell angemessen. Sie saßen hervorragend. Die ganze Familie ließ sich hier Schuhe anfertigen.
Die Nachkriegszeit war eine außergewöhnlich kreative Zeit. Wir haben Gardinen geknüpft aus einem grünlich-weißen, glänzendem Bindegarn, das die Bauern zum Garbenbinden bekamen. Das Garn wurde geteilt, weil es viel zu dick war und dann verarbeitet. Auch Unterwäsche haben wir daraus gestrickt. Nach jeder Wäsche wurden die Hemden länger. Alle alten Kleidungsstücke hat man weiterverarbeitet bis der Stoff auseinander fiel. Aus zu stark gestopften Seidenstrümpfen haben wir Endlosstreifen geschnitten und zu Bettvorlegern verhäkelt.
Miederwaren waren eine besondere Rarität. Geschickte Frauen haben für BHs Schnitte entworfen und diese an alle interessierten und geschickten Näherinnen weitergegeben.
Aus alten Filzhüten wurden von geschickten Frauen neue, modernere gezaubert. Man konnte nicht einmal Knöpfe bekommen. So wurden meistens stoffbezogene alte genommen. Man ließ sich viel einfallen. Die damalige Mode bestand fast nur aus Materialmix, d.h. aus Resten und alten Kleidern.
Besondere Schwierigkeiten gab es bei Heizmaterial. Mutter ist mit ihrer Freundin häufig in den Wald gefahren, um Tannzapfen zu sammeln. Auch Reisig haben wir aus dem Wald geholt, sofern noch etwas zu holen war, denn alle haben etwas gebraucht. Unser Torfbauer hat uns aber nie im Stich gelassen, er hat, wenn er konnte, geliefert.
Als ich eines Tages auf dem Rückweg von der Schule im Bus saß, erblickte ich ganz vorn einen total zerlumpten, ausgehungerte Mann stehen. Er trug einen zerschlissenen Kampfanzug, steckte barfuß in so etwas wie Sandahlen, die aus einem rechteckigen, flachen Stück Holz bestanden und nur von zerfledderten Riemen gehalten wurden. Als ich näher hinschaute, glaubte ich, Werner zu erkennen, der Sohn eines Nachbarn. Ich rannte, nachdem der Bus angekommen war, nach Hause und berichtete davon. Kurz danach kam Werner auch schon zur Tür herein, er hatte vor seiner Einberufung bei Vater gelernt. Er war es tatsächlich. Er kam aus der Gefangenschaft und war krank. Vater freute sich, ihn wiederzusehen. Fast in jeder Familie gab es Vermisste und Gefallene.
Bei uns zu Hause wohnte immer noch in einem kleinen Zimmer Herr Kirsch. Er hatte zu den deutschen Rückzugstruppen gehört, die in unserem Gebiet nach Hause entlassen wurden. Er ging zunächst nicht in seine Heimat zurück. Er stammte aus Sachsen und konnte so seiner Familie, die im russisch besetzten Gebiet lebte und was die Versorgung anging, noch viel schlechter dran war, etwas zukommen lassen. Er beschäftigte sich als Kaufmann in einem kleinen Lebensmittelgeschäft gegen Beköstigung, so hatte er auch Gelegenheit, wöchentlich Lebensmittelpakete nach Hause zu schicken. Es gab zwar noch nicht viel und auch nur mäßig gute Ware. Zucker gab es z.B. nur braunen, der die Luftfeuchtigkeit magisch anzog. Lose Einheitsmarmelade bekam man aus großen Blecheimern, billige Bonbons und einige Nährmittel, wie Sago, Grieß und Nudeln.
Herr Kirsch hat sich bei uns, wo er konnte, nützlich gemacht, sei es im Garten oder im Haus. Er pflanzte Tabak und verstand es, die getrockneten Blätter fachmännisch zu fermentieren und später besonders fein zu schneiden. Dafür hatte er ein Schneidegerät besorgt. Wir brauchten nun keine Kippen mehr zu sammeln, unsere selbst gedrehten "Virginia" schmeckten hervorragend, wie gesagt wurde.
Er feuerte auch einmal die Woche in der Waschküche den steinernen, runden Waschgrapen an, um Wasser im emallierten Kessel zum Baden zu erhitzen. Ansonsten hat man sich mit kaltem Wasser gewaschen. Wir hatten immerhin schon eine Wasserleitung im Haus, die vom eigenen Brunnen gespeist wurde.
Gebadet wurde dann in der großen Zinkwanne. Jeder wollte am liebsten zuerst in die Wanne, denn es mussten mehrere Familienmitglieder das warme Wasser nutzen. Feuerungsmaterial war knapp.
Abends hielt sich Herr Kirsch auf unserem alten Klavier fit, er war vor dem Krieg nebenberuflich Musiker gewesen. Das klang natürlich ganz anders, als wenn wir, meine Schwester und ich, nach unseren Klavierstunden darauf herumklimperten. Wir waren auf diesem Gebiet nicht die fleißigsten.
Nach der schönen Musik haben wir gern auf unserem Flur, der Platz dafür bot, getanzt.
Die alten zerfledderten Noten, die schon seit Generationen in einem Rollschrank lagen, hatte Herr Kirsch zuvor sorgfältig geordnet und geklebt.
Kurz vor Weihnachten 1946 erkrankte Opa, der Bäckermeister schwer an Lungenentzündung. Es war schon das dritte Mal. Das erste Mal nach einer spektakulären Rettungsaktion. Als Rettungsschwimmer hatte er damals einen 8-jährigen Jungen aus der tückischen Oste geborgen. In der Oste gab es gefährliche Strudel, die einen sogartig in die Tiefe ziehen konnten. Opa erholte sich von dieser letzten Krankheit nicht. Er starb 72-jährig.
Ich habe sehr um ihn getrauert, war er doch mein Lieblingsopa. Es war Januar und bitterkalt. Der Boden war steinhart gefroren, schwierig für die Beerdigung.
Ca. einen Monat später erhielt Oma ein Riesenpaket aus Amerika von einer früheren Hausangestellten, die vor vielen Jahren ausgewandert war. Es enthielt Kakao, Reis, Fertigsuppen und allerlei Lebensmittel, die es für uns in den letzten Jahren nicht mehr gab. Wir hatten lediglich einmal das Glück, daß in Cuxhaven kurz vor Weihnachten Apfelsinen angeschwemmt worden waren; man sagte, daß sie aus einem gesunkenen Frachter stammen sollten.
Sie wurden an Familien mit Kindern verteilt, schmeckten aber ziemlich salzdurchtränkt. Man konnte 'mal wieder ahnen, wie Zitrusfrüchte schmecken.
Care-Pakete aus Amerika kamen nun häufiger und regelmäßiger nach Deutschland. An den Reis und den Kakao aus diesen Paketen knüpfen sich für mich weniger gute Gedanken, denn diese Nahrungsmittel wurden für mich allein verwendet. Ich lag im Juli des Jahres mit Typhus zu Hause und durfte nur mit Haferschleim, Reis oder Kakao in Wasser gekocht ernährt werden.
Die Krankheitsdiagnose war für uns offiziell Magen- und Darmkatarrh. Unser damaliger Hausarzt meinte, ich solle zu Hause bleiben, denn in der Zeit könne man im Krankenhaus noch nicht gut genug versorgt werden. Meine Mutter hatte außer dem Arzt als einzige Zutritt zu meinem Zimmer und musste strengste Auflagen des Arztes erfüllen wegen der großen Ansteckungsgefahr dieser schweren Krankheit.
Ich hatte 6 Wochen absolute Bettruhe einzuhalten. Besucher durften nur durchs Fenster gucken. Ich wundere mich noch heute, dass keiner Verdacht geschöpft hat. Unser Arzt, ein guter Freund unserer Familie, wäre in Teufels Küche gekommen.
Ich wurde magerer und magerer. Mein Haar ging büschelweise aus.
Als ich später nach meiner Genesung wieder zur Schule ging, erlaubte man mir, ein Kopftuch während des Unterrichts zu tragen. Nicht immer ist es Typhuskkranken vergönnt, dass die Haare nachwachsen. Mein neues Haar wurde dicht und lockig, wie Persianerfell. Leider wurden später Stangenlocken daraus.
Durch mein langes Fehlen in der Schule hatte ich so viel versäumt, dass ich trotz Nachhilfestunden die nächste Versetzung nicht schaffte. Ich "drehte also eine Ehrenrunde". Peinlich, peinlich!
Mit der neuen D-Mark waren auch plötzlich die Läden wieder gefüllt. Man konnte alles kaufen, auch Eis in hervorragender Qualität. Aber leider war das Geld sehr knapp. Zu der Zeit musste man für einen US $ 4,20 bezahlen.
Mutter bat mich, aus Stade nach dem Schulunterricht aus einem Fleischwarengeschäft 1/4 Aufschnitt zu kaufen, sie hatte so Heißhunger auf diese Wurst, die wir nur aus Vorkriegszeiten kannten. Der Duft aus meiner Tasche war so verlockend, dass ich eine Scheibe davon probierte. Hm, schmeckte die lecker und ich nahm noch ein Stück. Dann waren es sicherlich nur noch 100 Gramm. Ob Mutter es gemerkt hat? Ich weiß es nicht, gesagt hat sie jedenfalls nichts.
Seit vielen Monaten führte Oma jetzt schon die Bäckerei allein mit ihrem Altgesellen, der auch Fanny, unser Pferd, die Kühe und die Schweine, die im Außendeich in der Scheune standen, versorgte.
Vater und Mutter suchten krampfhaft nach einem Pächter für das Geschäft, denn die Kunden wurden weniger.
In ihrem Haus, das reichlich Platz bot, richtete sich Oma schon nach und nach eine Wohnung im ersten Obergeschoss ein. So waren die unteren Räume für einen Pächter frei.
Bald verließ auch der Altgeselle die Bäckerei. Er hatte sich eine andere Arbeit gesucht. Wer sollte nun bis der Pächter , der inzwischen gefunden war, aber erst einige Wochen später den Backbetrieb aufnehmen konnte, die Kunden versorgen? Glücklicherweise fand sich ein Bäcker aus einem Nachbarort bereit, zweimal wöchentlich Vollkornbrot anzuliefern. Die tägliche frische Ware, wie Brötchen und helles Brot habe ich mit Moped und Anhänger jeden Morgen in aller Frühe geholt. Wie gut, dass diese Zeit gerade in die Ferien fiel.
Nachdem nun der Pachtvertrag unter Dach und Fach war und die Familie eingezogen war, hatte Oma wieder ihr geregeltes Einkommen. Sie bekam keine Altersrente. Viele Geschäftsleute haben früher durch Lebensversicherungen den Ruhestand bestritten. Durch die Geldentwertung war alles verloren. Für die Großeltern war es schon die zweite Geldentwertung, denn sie hatten schon den ersten Weltkrieg erlebt.
Um zu Hause die allzu knapp bemessene Haushaltskasse etwas aufzufüllen, hatte Vater eine Konservendosen-Schließmaschine beschafft. Auf dem Lande war man größtenteils Selbstversorger. Gemüse aus dem Garten und Hausschlachtungen machte das Einwecken erforderlich. Die Maschine war täglich in Betrieb.
Dosen schließen kostete10 Pfennig, Dosen abschneiden 5 Pfennig. Zur damaligen Zeit immerhin etwas.
Nach einer gewissen Zeit konnte Mutter auch für uns Kinder etwas Taschengeld abzweigen. Pro Woche bekam jeder 50 Pfennig. Davon mussten wir allerdings unsere Schulhefte, die 10 Pfennig das Stück kosteten, bezahlen. Heute unvorstellbar, aber wir waren damals nicht verwöhnt.
Was konnte man jetzt plötzlich alles in den Schaufenstern sehen! Lederne Umhängetaschen, eine doppelseitige Mundharmonika hatte ich entdeckt. Das waren Sachen, die unbedingt auf meinen Wunschzettel mussten, zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Ich hatte Zweifel, ob man mir diese Wünsche erfüllen könnte.
Nach den Osterferien hörten wir von unserer Klassenlehrerin, dass von der Schule aus Tanzstunden für uns zusammen mit einer Klasse des Athenäums arrangiert würden. Ein Raunen ging durch die Bankreihen. Wir haben uns natürlich alle gefreut.
Eine Woche später ging es schon los. Nach dem Schulunterricht hatten wir noch etwas Zeit bis um 15 Uhr die erste Tanzstunde begann. Frau Schmalz, eine etwas ältere untersetzte Dame mit strammen, muskulösen Waden, stellte sich als unsere Tanzlehrerin vor. Sie hatte eine kunstvoll mit Zöpfchen und Röllchen drapierte Frisur, die eher wie eine Perücke aussah, und sie war eine resolute und strenge Person.
Stühle waren für uns in 2 langen Reihen aufgestellt. Für die Mädchen auf der einen und für die Jungen auf der gegenüberliegenden Seite. In der Ecke des Saales saß ein Musiker am Flügel. Ein großer, goldgerahmter Spiegel, der von der Stuckdecke bis zum Parkettfußboden reichte, war zwischen zwei großen Fenstern angebracht.
Frau Schmalz hat uns zunächst etwas über Anstand und Höflichkeitsformen erzählt bevor uns die ersten Tanzschritte erklärt und mit ihrer jungen Kollegin vorgetanzt wurden.
Meine Augen wanderten hinüber zu den Jungens, sie wanderten von links nach rechts und wieder zurück.
Wer würde wohl mein Tanzpartner werden? Ich hätte den einen großen, dunkelhaarigen gern gehabt. "Aber das wird wohl nichts werden," dachte ich so bei mir. - Also hab' ich's mir doch gedacht, ich bekam einen kleinen, aschblonden Jungen, etwas dicklich, dem ich auf den Kopf gucken konnte. Wie sich später herausstellte, hatte er auch das Tanzen nicht erfunden und das, wo ich doch so gerne tanzte. Mutter meinte: "Nimm' es humorvoll, du musst ihn ja nicht heiraten!"
Von nun an trafen wir uns hier einmal die Woche zum Tanzen. Anschließend saßen wir noch in gemütlicher Runde bei einem kleinen Getränk bis wir zum Bahnhof mussten.
Es war dies' nun der zweite Tag in der Woche, dass ich erst den Nachmittagszug nehmen konnte. Einmal in der Woche hatte ich mich zur Arbeitsgemeinschaft für Kunstgeschichte angemeldet.
Viel Freizeit hatte ich jetzt nicht mehr. Es kam auch noch einmal in der Woche der Klavierunterricht dazu.
Damaliges Oberlyzeum für Mädchen
Als später dann der Abschlussball stattfinden sollte, stellte sich die Frage der Garderobe. Geld hatten wir nicht für Schuhe und Kleidung. - Aber ich hatte doch ein Kleid aus Amerika bekommen aus einem Care-Paket. Es war aus hellblauem Seidenjersey mit einem großen Rosenmuster. Aber welche Schuhe sollte ich dazu tragen? - Dann fielen mir die Schuhe von Oma ein aus feinem roten und blauem Leder.
Sie waren mindestens 10-12 Jahre alt und sahen aus wie neu. Sie trug sie nur zu besonderen Anlässen. Schuhgröße hatten wir die gleiche. Oma willigte ein.
Viele trugen schon hauchdünne Nylonstrümpfe, die es bei uns noch nicht gab. Ich musste mich also noch mit unseren alten Seidenstrümpfen begnügen.
Der Tag kam heran. Alle Eltern waren eingeladen und saßen an kleinen runden Tischen. Die Tanzpartner hatten Blumensträuße für ihre Damen dabei. Auch ich bekam einen. Es war ein kleiner putziger Strauß, kurzstielige bunte Sommerastern, die durch das krampfhafte Festhalten schon etwas gelitten hatten. Das Vortanzen bei so vielen Zuschauern hat mir nicht sonderlich behagt, zumal ich auch noch mehrfach den Fuß meines Tanzpartners auf meinem spürte. Meine Eltern saßen schmunzelnd am Tisch und beobachteten ihre Tochter sehr genau.
Mein Vater, der Nichttänzer war, konnte nicht umhin, doch noch zu tanzen, er wurde von der Tanzlehrerin aufgefordert.
So langsam wie sie geführt wurde, hat sie sich sicherlich in den letzten Jahren nicht mehr bewegt.
Als die Party dann beendet war, fuhren wir mit unserem alten Auto, das Vater inzwischen wieder zu einem fahrbaren Untersatz zusammengebaut hatte, nach Hause.
Frl. Schreiber, die schon lange nicht mehr meine Klassenlehrerin war, gab zeitweise Turnstunden. Ich bin bis heute nicht dahintergekommen, warum ausgerechnet sie. - In meinen Augen war sie überhaupt nicht sportlich und dazu noch ziemlich alt. Im Sport war ich absolut nicht ihre Lieblingsschülerin. Es war auch kein Wunder. Geräteturnen war für mich ein Horror. Mit Völkerball und Schlagball, also Ballsport, konnte ich viel mehr anfangen. Auch wenn es im Sommer ins Freibad ging, habe ich mich gefreut. -
Einige Jahre zuvor, als ich 12 Jahre war, habe ich bei Frl. Schreiber mein Freischwimm-Zeugnis gemacht. Ich hatte mir das Schwimmen selbst in der Badeanstalt unseres Dorfes mit einem Brett beigebracht. Es war ca. 2 m lang und ich legte es mir unter den Oberkörper und versuchte so einige Züge zu schwimmen. Nach vielem Üben klappte es dann schließlich.
Vater hatte mir diesen Tipp mit dem Brett gegeben. Er hatte mir genau gesagt, wie ich es machen soll. Als ich ihn fragte, wann und wie er denn Schwimmen gelernt habe, sagte er: „Ich kann gar nicht schwimmen, mein spezifisches Gewicht ist dafür nicht geeignet“ . Jahre später musste er sich immer wieder von uns Töchtern mit seinem spezifischen Gewicht aufziehen lassen.
Endlich wurde uns eine neue, junge Sportlehrerin, Frl. Enseleit, angekündigt. Sie war eine temperamentvolle, sportliche Lehrerin, die uns im Gegensatz zu Frl. Schreiber, Übungen vorturnte. Selbst ich bekam Spaß am Barrenturnen. Es wurden jetzt mehr und mehr jüngere Lehrkräfte in unserer Schule eingesetzt.
Das führte auch dazu, dass häufiger Ausflüge geplant wurden. Zur Zeit der Kirschblüte sollte die ganze Klasse morgens mit dem Fahrrad erscheinen. Es war vorgesehen, ins Alte Land zu fahren. Ein Bekannter lieh mir für diesen Tag seine Fotokamera. Es war eine Pracht, wenn man auf dem Lühedeich wie durch ein Spalier von schneeweißen Blüten ging. Dazu links und rechts die schmucken Fachwerkhäuser, deren Fächer alle unterschiedliche Muster hatten. Ein besonderes Markenzeichen des Alten Landes sind die Altländer Tore. Es sind ca. 3 m hohe weiße Holztore, die oben ein kleines schmales Strohdach haben. Sie stehen als Eingangstor vor großen Obsthöfen.
Ein anderer, etwas größerer Ausflug, der auch mit finanziellen Kosten verbunden war, sollte uns ins Weserbergland führen. Eine Woche Aufenthalt war dafür vorgesehen. Ein Bus wurde gechartert und in Höxter, in einer Jugendherberge, die ziemlich neu war, wurden wir einquartiert. Sogar ein Freibad mit 2 Sprungtürmen war auf dem Grundstück zu unserer großen Freude.
Herr Kühl , unser Mathe'- und Klassenlehrer und Frl. Enseleit, die neue Sportlehrerin wurden als Begleitung mitgeschickt.
Ich erinnere mich noch genau an ein sehr schönes Burgfestspiel, das wir in Polle besuchten. In der alten Burgruine hoch oben am Berg, wurde es aufgeführt. Auf dem Programm stand: Das Käthchen von Heilbronn.
Beeindruckend war auch für mich der Besuch des Klosters Corvey mit der Abtey-Kirche, in dessen Garten sich das Grab von Hoffmann v. Fallersleben befindet. Zu der Zeit lebte dort der Herzog von Ratibor.
Nicht alle Ausflüge wurden zu Fuß gemacht. Nach Bodenwerder z.B., wo wir das Münchhausen-Haus besichtigt haben, sind wir mit dem Bus gebracht worden. Auf dem Weg zurück nach Höxter haben wir in Polle eine Picknick-Pause gemacht. Wir suchten uns einen Platz unter einem großen Baum hoch über der Weser, die hier einen großen Bogen macht. Herr Kühl nahm seine Mandoline mit vielen bunten Bändern heraus und sang dazu das Weserlied: "Hier hab' ich so manches liebe mal . . . usw.". Keiner traute sich mit einzustimmen, er sang so gut und wir konnten den Text nicht richtig. Nur Frl. Enseleit summte leise mit.
Dieser schöne Ausflug ins Weserbergland war aber nicht der krönende Abschluss meiner letzten 2 Jahre in dieser Schule. In der Wintersaison durften wir an einem Opernbesuch in Hamburg teilnehmen.
Das Operngebäude war noch zerstört. Die ersten Opern wurden im Schauspielhaus, gegenüber dem Bahnhof aufgeführt. Die Bühnenbeschädigungen hatte man inzwischen wieder repariert. - Wir sahen die Mozartoper "Die Zauberflöte" mit Anneliese Rothenberger und Rupert Glawitzsch. Es war für mich ein außergewöhnlich großes Ereignis.
Ich habe zu Hause so viel davon geschwärmt, dass Vater mich das nächste Mal bei seiner Geschäftsfahrt nach Hamburg zu einer Operettenaufführung "Glückliche Reise" v. Eduard Künneke, die damals auf dem Heiligengeistfeld in einem Bunker aufgeführt wurde, einlud. Innerhalb des Bunkers hat man nicht gemerkt, wo man eigentlich war, so schön hatte man ihn hergerichtet.
In den nächsten Wochen bot sich für Schüler zum ersten Mal die Möglichkeit, von der Schule aus, für einige Wochen nach England geschickt zu werden. Es kamen nur die besten Englisch-Schülerinnen in Frage. Von jeder Klasse eine. Also kam ich nicht in Betracht. - Schade, wäre ich doch fleißiger gewesen.
Aber ich war froh, dass ich mit guten Noten dastand und meinem Abschluss im Lyzeum nichts im Wege stand. Die Schulzeit war insgesamt gesehen für uns Auswärtige, die jahrelang um 5 Uhr aufstehen mussten und durch den Krieg stark beeinträchtigt waren, eine schwere Zeit.
Mutter hatte während der Zeit häufig Zweifel, ob sie uns weiterhin diesem Stress aussetzen sollte, da ja auch meine schwere Krankheit dazwischenkam. Doch eine Cousine von Mutter hat immer wieder eindringlich auf sie eingeredet, dass ein Abschluss gemacht werden muss, sonst wären die ganzen Jahre umsonst und später die Berufsmöglichkeiten zu schlecht. - Ich bin froh, dass sie darauf gehört hat.
"Keine Schuld ist dringender, als Dank zu sagen"
Cicero
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2009
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