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Inhalt

Elaine Garder ist eine 34- jährige Jugendamt- Mitarbeiterin. Sie ist attraktiv und intelligent. Doch in ihrem Privatleben bringt ihr das nicht viel, da sie rund um die Uhr mit den komplizierten Fällen von misshandelten Kindern beschäftigt ist. Eines Tages erhält sie merkwürdige Nachrichten und auch merkwürdige Dinge passieren. Dann wird sie entführt. Doch wer hat sie in ihrer Gewalt? Ein Elternpaar, welches wegen ihr ihr Kind abgeben musste? Vielleicht hat die Entführung allerdings auch nichts mit ihrem Beruf zu tun...

Jason Watts

Da saß sie nun auf ihrer Couch. Alleine und nachdenklich. Wie sie es meistens tat. Elaine Garder, 34 Jahre alt, tätig als Jugendamtmitarbeiterin, die Akten über ihren letzten Fall vor sich auf dem Wohnzimmertisch liegend. Eigentlich wollte sie sich alles noch mal in Ruhe durchlesen. Aber sie war schon deprimiert genug. Der kleine Junge mit der trinkenden Mutter, die er immer wieder versucht hat zu beschützen… Immer wenn Elaine vorbeikam, fielen ihr neue blaue Flecken am Körper des Achtjährigen auf. Das Jugendamt war auf Shelly und Jason Watts dank den Nachbarn aufmerksam geworden. Shelly kam ihnen des Öfteren verwirrt und desorientiert vor. Außerdem hörten sie die Frau spät abends schreien und es seien auch schon mal Dinge gegen die Wände geflogen. Der kleine Jason, den man sonst wenigstens ab und an draußen spielen gesehen hat, ging so gut wie gar nicht mehr vor die Tür. Elaine konnte sich noch ganz genau an ihren ersten Besuch bei den Watts erinnern. Eine kleine Wohnung in einem Mietshaus. Eine Mini - Küche mit einem kleinen Herd, einer Arbeitsplatte und einer kleinen Spüle, in der sich dreckiges Geschirr sammelte. Das Wohnzimmer war der größte Raum. Es diente auch gleichzeitig als Esszimmer. Das Schlafzimmer der Mutter, in dem nur ein überladener Kleiderschrank und ein scheinbar frisch bezogenes Doppelbett standen. Ein kleiner Abstellraum, vollgestellt mit einer Waschmaschine, einem Trockner und einer Wäschespindel. Hier hatte Elaine das erste Mal Alkoholgeruch wahrgenommen. Ein Badezimmer, vielleicht drei Meter breit. Eine Toilette, eine Dusche und ein  kleines Waschbecken. Dann war da noch ein kleines Zimmer, indem ein kleines Bett, ein Kleiderschrank und ein paar Spielsachen standen. Auf dem Teppich waren Autos und Eisenbahnen zu sehen. Jasons Zimmer. Bis auf die Unordentlichkeiten in der Küche und im Abstellraum sah die Wohnung eigentlich sauber aus. So konnte Elaine in ihrem Fragebogen vom Jugendamt unter dem Punkt „Zustand der Wohnung“ ein „klein, aber sauber, für Personen im Haushalt ausreichend“ eintragen. Nach der Besichtigung nahmen Shelly und Elaine auf der Couch im Wohnzimmer Platz. Shelly war eine Frau um die dreißig. Sie war groß und sehr dünn. Ihr langes braunes Haar war strähnig. Aber ihre Zähne und ihre Kleidung sahen gepflegt aus. Dafür hatte sie allerdings tiefe dunkle Ringe unter den Augen.

„Miss Watts“, begann Elaine, „ich bin hier, weil sich einige Nachbarn Sorgen um Jason und Sie machen.“

„Ach ja, wer waren denn diese Nachbarn, Miss Garder? War es diese neugierige, alte Schabracke von nebenan?“

„Wer es war, tut nichts zur Sache. Ich bin hier um herauszufinden, ob es Jason hier bei Ihnen gut geht. Die Nachbarn haben erzählt, dass man ihn kaum noch draußen sieht, obwohl er damals sehr oft draußen spielen war. Außerdem würde man Sie nachts oft schreien hören. Die Nachbarn meinten auch, dass sie oft… wie soll ich sagen… müde erscheinen würden.“

Müde… ein anderes, nettes Wort war Elaine auf die Schnelle nicht eingefallen.

„Und was soll das heißen? Das es Jason wegen diesen Kleinigkeiten nicht gut geht? Jason ist nun in der dritten Klasse. Die Schule geht nun eine Stunde länger und die Hausaufgaben sind auch mehr geworden. Anstatt einer halben Stunde braucht er nun eine Stunde. Und danach hat er nun keine Lust mehr draußen spielen zu gehen. Sie kennen doch die Generation von heute. Fernsehen gucken, an ihren Elektrogeräten spielen, das wollen die Kinder. Wer spielt denn heute noch wirklich Spiele in der freien Natur?“ Shelly hatte Elaine während der ganzen Erklärung nicht einmal angesehen, sondern an den gegenüberstehenden Schrank gestarrt.

„Das mag sein, Miss Watts, aber was ist mit Freunden? Die Nachbarn erzählten auch, dass Jason nie Besuch bekommt. Woran liegt das?“

„Woher soll ich das wissen? In der Schule hat er jedenfalls keine Probleme mit sozialen Kontakten. Sie können gerne seine Lehrerin fragen.“ Erst jetzt wandte Shelly Watts den Blick von dem Schrank ab und sah Elaine an.

„Das habe ich vor. Was ist mit den anderen Anschuldigungen? Mit den Schreien in der Nacht zum Beispiel?“

„Wenn er nicht gehorcht muss ich halt auch mal laut werden. Es gab schon immer Probleme mit dem Zubettgehen bei Jason. Und was das so genannte ´müde erscheinen´ angeht, welche allein erziehende, arbeitende Mutter ist nicht müde?“

„Hier steht Sie haben keinen Job, Miss Watts!“ Elaine hob die Jugendamtakten hoch.

„Und was da steht, muss natürlich auch stimmen.“ Shelly machte eine verächtliche Handbewegung.

„Falls sie zwischenzeitlich einen Job gefunden haben, würde ich Ihnen raten,  dass dem zuständigen Amt zu melden. Es ist nur ein Tipp, den ich Ihnen geben kann, da ansonsten…“

„Mir sind die rechtlichen Folgen bekannt, Miss Garder.“ Unterbrach Shelly Elaine.

„Um genau zu sein meinten Ihre Nachbarn, dass Sie verwirrt und desorientiert erscheinen.

Außerdem gehen Sie jedem Gespräch aus dem Weg. Miss Watts, nehmen Sie Medikamente?“

„Nun reicht es aber. Ich lasse mir doch nicht von irgendwelchen aufdringlichen Nachbarn hinterher sagen, dass ich sie nicht mehr alle habe.“ Abrupt sprang Shelly auf und ging zur Balkontür, um diese zu öffnen.

 

„Das hat doch keiner gesagt…“

„Nein, ich nehme keine Medikamente, Miss Garder. Und nun haben Sie gesehen, dass alles in Ordnung ist. Bitte gehen Sie!“ Shelly stand auf. Ihre Hände zitterten.

„Das geht nicht, ich muss auf Jason warten. Mit ihm muss ich auch noch sprechen. Er müsste doch jeden Moment von der Schule kommen, richtig?“

„Richtig.“ gab Shelly zurück, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

Elaine war es gewohnt so behandelt zu werden. Ehrlich gesagt, benahm sich Shelly im Gegensatz zu vielen anderen Elternteilen noch recht human. Eine Mutter war sogar mal auf Elaine losgegangen und wollte sie schlagen. Aufgrund ihrer sportlichen Statur war Elaine ihr allerdings ausgewichen und die Mutter erwischte mit ihrer Hand nur die Tür. Daraufhin wollte sie Elaine wegen Körperverletzung anzeigen. Allerdings hatte sich die gute Frau das doch nicht getraut.

Elaine ließ den Blick über den Wohnzimmerschrank schweifen. Hinter einer Glasvitrine standen ein paar angebrochene Flaschen. Bei näherem Hinsehen, sah Elaine, dass es verschiedenste Sorten Schnaps waren. Das war natürlich kein Zeichen dafür, dass Shelly Alkoholikerin war, sie hatte selber eine Art Bar zu Hause, allerdings kamen hier noch die nach Alkohol stinkende Abstellkammer und die Verhaltensauffälligkeiten dazu. Elaine vermerkte dies alles in ihren Akten. Plötzlich ging die Tür auf und ein kleiner, schmaler Junge, mit dunkelblonden Haaren kam herein. Hinter ihm stand Shelly. „Jason, das ist die Frau von der ich dir erzählt habe. Sie will sich mit dir unterhalten. Aber denk dran, du musst nichts sagen, was du nicht sagen willst.“ Sie schob den Jungen Richtung Elaine.

Elaine stand auf und gab ihm die Hand. „Hallo Jason, ich bin Elaine!“

Sein Händedruck war fest, was man, wenn man ihn ansah gar nicht gedacht hätte.

„Ich bin Jason!“ gab er zurück.

„Jason, setz Dich bitte. Deine Mama wird jetzt aus dem Raum gehen und die Türe hinter sich schließen. Danach werden wir uns unterhalten.“ Elaine sah mit einem prüfenden Blick zu Shelly. Diese verdrehte die Augen, verließ das Wohnzimmer und schloss die Türe.

Jason setzte sich neben Elaine und sah diese mit seinen großen blauen Augen an.

„Jason, weißt Du warum ich hier bin?“

„Ja, meine Mutter hat mir gesagt, Sie sind hier, weil Nachbarn blöde Dinge über sie erzählen.“

„Jason, die Nachbarn machen sich nur Sorgen um Dich und Deine Mutter. Sie haben gehört, dass sie oft schreit und…“

„Das macht sie nur wenn ich ungezogen bin.“ Unterbrach Jason Elaine.

„Was meinst Du mit ungezogen?“

„Wenn ich nicht auf sie höre. Ich meine Klamotten nicht direkt wegräume oder direkt ins Bett gehe wenn sie das sagt. Oder wenn ich das Geschirr nicht spüle.“

„Musst Du immer das Geschirr spülen? Tut Deine Mama das nicht?“

„Nein. Mama meint das sei meine Aufgabe. Sobald ich aus der Schule komme, muss ich das Geschirr spülen. Außerdem muss ich das Wohnzimmer aufräumen, egal wer was stehen gelassen hat. Das ist mein Bereich, hat Mama gesagt. Aber ich kann das verstehen! Sie hat genug zu tun!“ sagte Jason aufgeregt.

„Aber sie arbeitet doch nicht oder?“

„Nein, aber sie muss einkaufen gehen, die Betten machen und ab und an mal kochen und all das…“

Was wäre Elaine froh, ihre einzigen Aufgaben würden darin bestehen einkaufen zu gehen, Betten zu machen und ab und an mal irgendetwas Warmes auf den Tisch zu bringen…

Sie sah sich Jason genauer an. Im Gegensatz zu seiner Mutter trug er eine alte, abgewetzte Jeans und ein verwaschenes T- Shirt. An seinem Ellebogen, hatte er einen riesigen blauen Fleck.

„Was macht Deine Mutter, wenn sie wütend auf Dich ist?“

„Naja… sie schreit! Manchmal wirft sie auch etwas durch die Gegend.“

„Jason… hat Sie Dir auch mal wehgetan?“

„Was meinen Sie?“ Panikartig schaute er Elaine in die Augen.

„Hat Sie Dich auch mal geschlagen?“

„NEIN!“ schrie Jason und sprang auf. „Meine Mutter hat mich lieb. Sie würde mir nie extra wehtun. Ihr geht es nur manchmal nicht so gut, aber da kann sie nichts dafür.“

„Jason…“ Elaine stand auf, wollte zu dem Jungen gehen um ihn zu beruhigen, doch dieser ging Schritt für Schritt zurück.

„Die meisten Leute denken schlecht über sie. Dabei ist sie eigentlich gut! Man soll sie nur nicht nerven!“

Plötzlich ging die Tür auf und Shelly stand im Türrahmen. „Was ist denn hier los?“ Ihre Miene war finster. Jason lief zu ihr hin und umarmte sie.

„Miss Watts…“ Elaine wusste nicht was sie sagen sollte.

„Es ist besser Sie gehen!“ Shelly zeigte zur Tür.

Das war ihr erster Besuch bei den Watts gewesen. Das Gespräch mit der Lehrerin hatte auch nicht viel gebracht. Jason sei ein guter Schüler mit guten Noten, der immer seine Hausaufgaben dabei hätte. Darum würde sie sich auch nichts darum machen, wenn Shelly nie bei den Elternabenden erscheinen würde. Jason hätte auch Freunde in der Klasse. Über die blauen Flecken, die Elaine erwähnte wusste sie nichts. Ein paar Wochen später musste Elaine bereits den nächsten Besuch tätigen. Wieder hatten die Nachbarn Shelly oft schreien gehört. Einige meinten, sie sei morgens früh betrunken zu den Mülleimern gelaufen. Dabei sei ihr eine Plastiktüte mit Flaschen durchgerissen und die Flaschen seien mit einem lauten Klirren auf den Boden gefallen. Shelly hatte sie einfach liegen lassen und die Nachbarn auch noch beschimpft. In so einem Umfeld könne ein Kind doch nicht aufwachsen. Doch Elaine musste sich wie in jedem Fall neutral verhalten. Komischer Weise fiel ihr das diesmal sehr schwer. Sie hatte den intelligenten, hübschen Jungen mit seinen großen blauen Augen direkt in ihr Herz geschlossen. Aber ihre Hände waren wie so oft gebunden. Sie musste sich an Gesetze und Vorgaben halten.

 

Also besuchte sie die Watts erneut. Wieder schaute sich Elaine in der Wohnung um. Wieder gab es nichts Auffälliges- zumindest in der Wohnung. Wieder war Shelly abweisend und unfreundlich und wieder war aus Jason nichts rauszubekommen. Allerdings hatte er diesmal ein dunkelblaues Veilchen unter seinem linken Auge. Doch er meinte, ein älterer Schüler hätte ihn verprügelt. Es sei aber alles geklärt. Diesmal roch Shelly nach Alkohol. Als sie in der Küche verschwunden war, gab Elaine Jason eine Visitenkarte von sich. „Jason, ich weiß, dass Du Deine Mama lieb hast. Und Deine Mama weiß das auch. Aber ich will Euch nur helfen. Falls es doch mal Probleme gibt…“

„Aber ich habe keine Probleme mit meiner Mama!“

„Ich sage ja nur falls es mal welche gibt. Außerdem kannst Du ja auch andere Probleme haben. Vielleicht verhaut Dich dieser große Junge ja mal wieder. Jedenfalls, wenn Du irgendwann nicht mehr weiterweißt, dann ruf mich an. Ich bin da.“ Sagte Elaine.

Ernüchtert verließ sie die Wohnung.

Ein paar Tage später, Elaine wollte grade ins Bett gehen, klingelte ihr Diensthandy.

„Elaine Garder?“

Ein Rauschen…

„Hallo? Wer ist denn da?“

Ein Wimmern…

„Wer ist da?“

„Elaine? Hier ist…“ die Stimme verstummte.

Elaine bemerkte wie sich ein Knoten in ihrem Magen ausbreitete.

„Jason? Was ist los? Was ist passiert?“

„Meine Mama liegt hier… sie hat alles kaputt geschlagen und sie blutet und ich bekomme sie nicht wach.“

Der Knoten wurde größer.

„Atmet sie noch?“

„Ja aber sie reagiert nicht mehr ich habe Angst!“ Jason weinte.

„Ist mit dir alles in Ordnung, hat sie dir was getan?“

Der Junge antwortete nicht, nur ein Schluchzen war wahrzunehmen.

„Bleib ruhig, ich bin sofort da!“ rief Elaine durch das Telefon und legte auf.

Sie zog sich schnell ein paar Jeans und einen alten Pullover, die in der  Ecke lagen an und machte sich auf den Weg. Zum Glück lag die Wohnung der Watts nur zehn Minuten entfernt. Elaine sprang aus dem Auto, hielt sich das Handy am Ohr und rief, während sie die Treppen hochsprintete einen Krankenwagen. Jason hatte bereits die Tür geöffnet. Elaine betrat die Wohnung und traute ihren Augen kaum. Von der sonst eigentlich ordentlichen Wohnung war nicht mehr viel übrig geblieben. Im Flur lagen leere Flaschen, im Schlafzimmer war das Bett zerwühlt und die Kleider lagen überall verstreut. Dann kam sie ins Wohnzimmer. Jason hockte neben seiner Mutter und weinte bitterlich. Sein linkes Auge war komplett zugeschwollen und seine Arme waren voller Blut. Elaine wurde schlecht. Die Glastür des Wohnzimmerschrankes war vollkommen demoliert und überall lagen Glasscherben. Shelly lag mittendrin. „Elaine!“ rief Jason und warf sich ihr in die Arme. Er zitterte.

 „Alles wird gut Jason, alles wird gut. Ich habe einen Krankenwagen gerufen, sie helfen Deiner Mama.“ Elaine strich ihm über sein Haar.

„Ich wusste nicht was ich machen soll. Ich kenne hier doch keinen so richtig. Also habe ich Dich angerufen!“

„Das war genau richtig, dass hast Du gut gemacht, Jason.“

„Sie hat wieder getrunken. Und die leeren Flaschen hatte sie einfach auf den Boden im Flur geworfen. Ich hab sie nur gefragt, warum sie das macht. Sie würde sich doch unnötige Arbeit machen, da sie die Flaschen morgen so wie so wieder aufräumen muss. Da war sie sauer, meinte ich solle sie nicht nerven, sondern in Ruhe lassen und dann hat sie mich gehauen.“ Jason begann erneut zu schluchzen.

„Pscht…“

„Dann ist sie ins Wohnzimmer gerannt, an den Schrank. Dort sah sie, dass sie nichts mehr zu trinken hat. Dann hat sie gegen die Glastür gehauen, immer und immer wieder. Ihre Hände haben schon geblutet. Dann fiel sie um. Ich hab solche Angst!“

In dem Moment kamen die Rettungssanitäter rein. Sie verarzteten Shelly und nahmen sie mit ins Krankenhaus. Sie hatte eine Alkoholvergiftung und Schnitte an den Händen und Armen, die genäht werden mussten. Elaine hatte Jason diese Nacht bei sich schlafen lassen. Am nächsten Morgen fuhr sie mit ihm aufs Jugendamt und regelte alles. Es fand sich zum Glück sofort eine Pflegefamilie für ihn. So viel Glück hatten wenig Kinder. Später am Tag fuhr Elaine ins Krankenhaus um noch mal alleine mit Shelly zu reden. Sie wollte wissen, wie Jemand seinem Kind so was antun konnte. Sie wollte diese Frau anschreien. Sie wollte… Dann betrat sie das Zimmer. Jason saß am Bett neben seiner Mutter. Shelly weinte.

„Mama, ich bin Dir nicht böse. Du bist krank, Du kannst nichts dafür.“

„Ach Jason, mein kleiner Schatz. Das entschuldigt nicht, was ich Dir angetan habe. Ich war nicht mehr ich…“ Shellys Stimme brach und sie weinte erneut.

Dann bemerkten sie Elaine. „Elaine!“ rief Jason und umarmte sie.

„Ich wollte nur gucken wie es Ihnen geht.“

„Abgesehen davon, dass ich mich hasse und in Grund und Boden gegenüber meinem Kind schäme… bin ich froh, dass mir nun geholfen wird.“

„Das hätten Sie auch früher haben können.“ Gab Elaine nüchtern zurück.

„Ich weiß. Aber ich habe es mir nicht eingestanden ich… wissen Sie…“ Shellys Stimme brach erneut.

„Sie brauchen mir nichts mehr zu erklären, Miss Watts. Jason vergibt Ihnen, dass ist die Hauptsache. Ich hoffe wir sehen uns, Jason.“ Mit diesen Worten verließ Elaine das Zimmer und auch die Klinik.

Inzwischen war ein Monat vergangen und Elaine hatte den Fall abgeschlossen. Shelly war im Entzug und Jason besuchte sie dort alle zwei Wochen. Der Prozess wegen Kindesmisshandlung gegen Miss Shelly Watts war bereits eingeleitet. Wahrscheinlich würde Jason für Jahre, wenn nicht sogar für immer bei seiner Pflegefamilie bleiben müssen. Aber er hatte es gut dort angetroffen.

 

Die Drohung

 

Am nächsten morgen stand sie wie immer um halb sieben auf, ging duschen, zog sich an und warf nochmal einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ihre langen, dunkelblonden Haare wollten sich mal wieder nicht bändigen lassen und ihre grauen Augen schauten sie müde an. Erstmal Kaffee. Dann setzte sie sich an den Tisch, trank ihren Kaffee und dachte über den kommenden Tag nach. Was würde ihr Beruf wohl als Nächstes für sie bereithalten? Sie hatte bisher so viele Fälle gehabt, so viele Emotionen hatte sie nicht abschütteln können…

Elaine war keine von diesen stinknormalen Jugendamt – Mitarbeitern. Sie konnte ihre Arbeit nicht auf der Arbeit lassen. Sie nahm alles mit nach Hause. Das war ihr Problem. Und sie fragte sich immer wieder, ob das alles war, was sie im Leben erreichen wollte. Einen Job als Jugendamtmitarbeiterin. Er wurde nicht schlecht, aber auch nicht gut bezahlt. Aber darum ging es ihr nicht. Diese vielen Schicksale der Kinder, die sie unter ihren Händen trug. Und dann dieses „Nichts – tun - können“, obwohl sie genau wusste, das etwas nicht stimmte. Sie war eine der Besten in ihrem Jahrgang gewesen, als sie die Ausbildung gemacht hatte. Und sie war auch nun eine der besten Mitarbeiterinnen. Und das wusste Elaine.

 

„Guten Morgen!“ Elaine betrat das Büro und setzte sich an ihren Schreibtisch. Komischer Weise lag diesmal kein Berg von Akten auf ihrem Schreibtisch. Und komischer Weise kam ihr Chef nicht direkt angerannt um ihr zu sagen, was es mit den Akten auf sich hatte und das wohl viel Arbeit auf Elaine zukommen würde.

„Morgen, Elaine. Du siehst müde aus, anstrengende Nacht gehabt?“ fragte ihre Kollegin Josephine sie mit einem Augenzwinkern.

„Ja, aber nicht so wie Du denkst. Ich habe einfach nicht gut geschlafen.“

„Dann passt es ja, dass wir heute einen wohl eher ruhigen Tag vor uns haben! Mr. Pike ist den ganzen Tag im Außendienst tätig! Er will sich ein paar ´große Fälle´ so wie er es nennt selber ansehen!“

Kein Wunder also, dass Elaine nichts Neues auf ihrem Schreibtisch liegen hatte.

„Super, dann kann ich mich ja endlich mal um meine Ablage kümmern. Und später kann ich dann noch bei den Madisons vorbei fahren.“

„Den Eltern mit den acht Kindern?“ fragte Josephine.

„Genau. Die Lehrerin der beiden Ältesten hat mich angerufen. Mitschüler haben beim Umziehen nach dem Sportunterricht gesehen, dass beide wohl Striemen auf den Rücken gehabt haben. Sie vermuten von einem Gürtel.“ Elaine lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück.

„Wahrscheinlich haben sie nicht gespurt. Haben vergessen den Kleineren Essen zu kochen oder mit ihnen die Hausaufgaben zu machen, damit die Eltern sich mal wieder einen schönen Tag machen können.“ Josephine stand auf um sich einen Kaffee zu holen. Sie war eine Frau Anfang vierzig, mit lockigen, schulterlangen, schwarzen Haaren und großen braunen Augen. Sie war Elaines beste Kollegin und Vertraute.

„Und was steht bei Dir heute so an?“ fragte Elaine.

„Ach, ich werde heute früher gehen. Meinen letzten Fall habe ich gestern abgeschlossen und da ich heute keinen neuen bekommen werde, habe ich mir überlegt die Kinder von der Schule abzuholen und mit ihnen einen schönen Tag zu machen. Du kannst ja mitkommen.“

„Nein, danke. Hast Du die Ablage vergessen? Dazu komm ich sonst nie, damit bin ich garantiert bis heute Mittag beschäftigt.“ Elaine seufzte.

„Ja und vor Mittag werde ich auch nicht gehen!“

„Und die Madisons?“

„Kannst Du da nicht morgen hinfahren?“

„Jose, die Kinder brauchen unsere Hilfe! Ich weiß, dass ich sie dort nicht direkt wegholen kann, auch wenn ich das gerne will. Aber je schneller ich da noch mal hinkomme, umso schneller können wir vielleicht was erreichen!“

„Das weiß ich doch, Elaine! Das Wohl der Kinder liegt mir auch am Herzen. Das Wohl aller Kinder! Ich habe selbst welche. Aber manchmal denke ich mir, dass Du Dir auch mal wieder Spaß gönnen solltest. Du wohnst ja bald schon hier.“

„ Ja ja ich weiß. Dann lass uns am Wochenende was machen, ok?“

„Alles klar!“ sagte Josephine.

Plötzlich ging die Tür auf und ein gut gekleideter Mann betrat den Raum.

„Morgen Mädels!“ er grinste und warf eine Tüte vom Bäcker gegenüber auf Elaines Schreibtisch.

„Morgen Andrew“ gaben die Frauen zurück.

„Ich wollte doch mal gucken, was meine Lieblingsmitarbeiterinnen des Jugendamts so machen.“

„Bist Du sicher, dass Du nicht nur eine Lieblingsmitarbeiterin hast?“ fragte Josephine und grinste.

Damit spielte sie auf Elaine an. Sie und Andrew hatten sich vor ein paar Monaten auf dem städtischen Gericht kennen gelernt. Er hatte dort gerade als Staatsanwalt angefangen. Seit dem hatten die beiden sich des Öfteren dort getroffen und waren irgendwann auch mal ausgegangen. Aber dabei war es auch geblieben. Dennoch wusste Elaine, dass er sie sehr mochte und sie konnte auch nicht verleugnen, dass sie ihn sehr mochte. Auch wenn sie nach außen hin so tat.

Andrew ignorierte Josephines Aussage und holte sich und Elaine stattdessen einen Kaffee.

Er stellte die Tassen auf Elaines Schreibtisch ab und nahm die Tüte in die Hand.

„Ich habe ein paar Kekse mitgebracht. Lasst sie Euch schmecken!“

Pünktlich am Mittag verschwand Josephine aus dem Büro und Elaine ging in die Pause.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.07.2013

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