Vorwort
Eine leichte Sommerbrise erhob sich über die Stadt.
Es war Mai und für diese Jahreszeit war es verhältnismäßig warm.
Die Sonne schien bis spät in den Abend und die Nacht war dabei sich über das Land zu legen und die Sonne zu verschlingen. Es war sehr ruhig auf den Straßen und kaum noch Menschen waren in den Abwegen der Stadt zu sehen.
Im Schatten dunkler Wolken stand eine junge Frau. Sie starrte hinunter in den Abgrund ihrer selbst und beobachtete die Züge und Menschen, die unter ihr, ihres Weges gingen. Ihr gesamtes Make up war verschmiert und schwarze, nasse Linien zogen sich durch ihr porzellanfarbendes Gesicht. Keine Regung vermochte sie zu zeigen und der Wind fuhr ihr rau durch ihr Haar. Sie stand da, als wäre nichts um sie herum. Als wäre die Zeit für eine Weile stehen geblieben und nichts könnte ihr geschehen, solange sie es nicht wollte.
Tiefschwarze Tränen tropften auf den kalten Boden unter ihr. Manche Menschen, die sie erblickten fragten sich wer sie war und was sie da tat, doch die Antwort, die sie so verbissen suchten, blieb aus. Während sie so da stand vergaß sie alles und alles vergaß sie. Die Zeit verging, wie sie so leblos da stand, voller Trauer und Verzweiflung,
einer Puppe gleich.
Ihre Hand glitt nach einer Weile des ruhens über ihr Gesicht und wischte die Tränen weg. Daraufhin zog sie aus ihrer schwarzen kleinen Tasche einen mit Edelsteinen verzierten Spiegel und öffnete ihn, sah hinein und ihr Gesicht verzog sich im Angesicht des Elends. Sie schüttelte leicht mit dem Kopf, denn wollte diese Verzweiflung nicht länger
im Gesicht stehen haben.
Kurze Zeit später war sie wieder auf den Weg zum Boden der Tatsachen. Ein Zug preschte unter ihr vorbei und wie sie so dort stand, merkte nicht wie sehnsüchtig ihre Blicke dem Zug folgte. Sie merkte einfach nicht, wie stark ihr Wunsch nach Erlösung mittlerweilen war. Ihr Herz schrie jeden Tag nach Befreiung und von Zeit zu Zeit wurden diese Rufe lauter und stärker, doch mit ein bisschen Make up und einem sachten kalten ewigen Lächeln auf den
Lippen konnte sie es gut verdrängen und niemanden fiel es auf, nicht einmal ihr selbst.
Kapitel 1
Ich sah sie eines sonnigen Maitages. Ich war auf dem Weg nach hause nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag. Es war schon immer eine Schwäche von mir meine Umwelt zu beobachten und so gab ich mich meiner Neugier meistens hin, so auch heute. Als ich so um mich schaute, fiel mein Blick auf eine Brücke, welche über die
Bahngleise hinweg führte. Eine Gestalt war in der Ferne zu erkennen und ihre kleine Figur bebte im Wind.
Wirklich ein seltsames Bild, eine einzelne Person, alleine, auf einer Brücke. ‚Ob sie wohl springen wollte?’
Dies war der erste Gedanke, der mich durchzuckte, doch schnell wurde mir klar, die Brücke war nicht sehr hoch, es wäre vergeblich herunter zu springen und zu erwarten, dass man sterben würde. Als sie so da stand, faszinierte sie mich und mein Blick konnte sich einfach nicht von ihr lösen. Traurig und verlassen stand sie da. Ich beobachtete sie noch Weile bis sie sich auf einmal in Bewegung setzte und ihren Weg fortzusetzen schien.
Meine Augen folgten ihr förmlich, sie ließen sie nicht mehr los. Als sie plötzlich aus meinem Blickfeld verschwunden war suchten meine Augen hektisch nach ihr und warteten darauf, dass sie die Straße runter kommen würde.
Doch meine Augen warteten vergeblich.
Monate vergingen.
Irgendwann verschwendete ich keinen Gedanken mehr an das Mädchen, denn für so was hatte ich ja auch gar keine Zeit, mein Leben war im Umbruch. Ein neuer Lebensabschnitt wartete auf mich und so blieb mir viel zu selten die
Zeit überhaupt über irgendetwas belangloses nachzudenken. Es war die Zeit in meinem Leben, in der ich das erste Mal eine eigene Wohnung haben würde, die Zeit, in der ich anfangen würde meinen Weg ganz alleine zu gehen.
Als ich einen passenden Wohnsitz ausfindig gemacht hatte war ich so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Alles lief wie es laufen sollte, mir ging es einfach gut.
Eines Abends saß ich auf meinem kleinen Balkon, es war mittlerweilen August geworden und somit auch unerträglich heiß. Von dem Balkon aus konnte ich einen großen Teil der Stadt sehen, es war atemberaubend. Ein kühler Lufthauch umwehte mich und gab mir das Gefühl völlig alleine zu sein und ich genoss dieses Gefühl, denn in der Arbeit und im alltäglichen Leben gab es so viele Menschen, für mich schon beinahe zu viele. Als ich mein Blick herumschweifte sah ich beleuchtete Häuser, ein paar Autos und Fußgänger. Es war herrlich. Diese Stille, fast so als wäre um mich herum ein Vakuum, ein Nichts. Für manche Menschen war so etwas beklemmend, doch für mich war es der Himmel auf Erden. Ich schloss meine Augen und zündete mir eine Zigarette an.
Während ich so da saß und nachdachte wurde die Stille von einem Zug, der in der Ferne vorbei preschte, zerschnitten.
Ich wohnte mittlerweilen schon einige Wochen hier, doch an die Züge konnte ich mich noch nicht so recht gewöhnen.
Als ich über das Geräusch des Zuges genauer nachdachte kam mir auf einmal das Mädchen von damals in den Sinn.
‚Was wohl aus ihr geworden war?’, fragte ich mich und inhalierte den blauen Dunst meiner Zigarette.
Doch bevor ich mir weiter Gedanken über sie machen konnte klingelte das Telefon.
Ich hob ab und spürte wie ein kalter Schauer über meinen Rücken lief. Warum, konnte ich mir nicht erklären aber es war ein seltsames Gefühl als würde etwas Schlimmes passieren.
„Ja? Hallo?“ fragte ich mit ruhiger Stimme ins Telefon. Es herrschte stille. Auf einmal sprach eine hektische unruhige Stimme am anderen Ende. „Mai? Mai bist du es? Ich bin’s, Jake.“, es war die Stimme meines großen Bruders.
„Mai, bitte komm schnell, Mutter hatte einen Unfall!“, mir blieb gar nicht viel Zeit die Worte wirken zu lassen.
Rasch fragte ich wo sie seien und rauschte sofort los. Ich lief die Treppen hinunter als wäre der Leibhaftige persönlich hinter mir. Unten angekommen winkte ich mir ein Taxi heran und nannte dem Fahrer die Adresse des Krankenhauses.
Nach nicht einmal fünfzehn Minuten waren wir angekommen, ich zahlte rasch und eilte zum Gebäude.
Nahe des Einganges wartete auch schon Jake auf mich. „Was ist mit ihr? Geht’s ihr gut?“, platze es aus mir raus und die Tränen wollten nicht aufhören zu laufen. Plötzlich nahm er mich in den Arm und drückte mich fest an sich.
Ich merkte auf einmal wie mir ein heißer Tropfen auf die Schulter fiel und zerplatzte.
Ich sah zu ihm hoch.
Er weinte.
„Was ist los?“, auf einmal stoppten meine Tränen aprubt. Ich wischte mir das Gesicht frei und starrte ihn an.
„…Sie hat wohl einen Moment nicht aufgepasst und hat ein Mädchen angefahren … bei dem Versuch auszuweichen ist sie von der Straße abgekommen…“ „Ja und? Was ist mit ihr??“, ich wusste das mich die Wahrheit innerlich
zerreißen würde. Doch ich wollte sie wissen, ich musste sie wissen, da ging kein Weg dran vorbei.
Er ging in Tränen auf und drückte mich wieder an sich. In dem Moment wusste ich es. Sie war tot.
Einfach nicht mehr da. Meine Tränen fingen auch wieder an hervorzubrechen und bekamen die Oberhand.
Nach sechs Zigaretten und zwei Kaffee war ich einigermaßen gefasst. Und es schmerzte unglaublich, dies konnte auch jeder sehen. Als ein Arzt vorbeikam sprang Jake sofort auf, „Wie geht es dem Mädchen?“, fragte er unruhig.
„Sie hat einige Prellungen aber es ist nichts Ernstes.“ Ich blickte auf. „Kann ich sie sehen?“, fragte ich und mein Hals kratzte und fühlte sich rau an. „Wollen Sie denn nicht erst zu ihrer Mutter?“, „Nein.“, sagte ich barsch, denn ich wusste genau was mich erwarten würde und ich wusste, ich würde es nicht ertragen.
Als ich das kühle Krankenzimmer betrat in dem das junge Mädchen lag wurde mir
ganz schlecht. Ich mochte den Duft von Krankenhäusern nicht, geschweige denn kranke Menschen. Ich beobachtete die Schwester, welche dem Mädchen gerade eine neue Infusion anhing und holte tief Luft um die Übelkeit etwas zu dämpfen. "Komm ruhig näher.", sagte die Schwester mit einem warmen lächeln, "Bist du eine Freundin von ihr?", ich nickte um weiteren Fragen zu entgehen. Als ich einen Schritt auf das Bett zu machte, verschlug es mir fast den Atem.
Ich erblickte ein Mädchen mit roten, verschmierten Lippenstift, schwarzen langen haaren und ein paar blutige Kratzer im Gesicht. Es war das Mädchen von damals.
Das Mädchen, welches so traurig auf der Brücke am Bahnhof stand. Wie konnte das nur sein? Es musste Schicksal sein das war mir klar, auch wenn mir noch nicht so klar war was es damit auf sich hatte und was mich in Zukunft noch alles ereilen würde. Meiner Meinung nach gab es drei Typen von Menschen. Die, die an Schicksal glaubten, dann welche die an Gott glaubten und zu guter letzt, die, die an gar nichts glaubten und für diese war alles was geschah reiner Zufall. Ich gehörte zu der ersten Sorte.
Während ich darauf wartete, dass das Mädchen endlich erwachte ging ich unruhig auf dem Gang auf und ab.
Stunden vergingen doch ich konnte und wollte nicht einfach gehen. "Es wird Zeit das Sie etwas Schlaf bekommen, gehen sie doch nach hause.", sagte eine Stimme hinter mir, als ich mich umdrehte erblickte ich den Arzt.
Der Arzt, der auch Mutter behandelte. Der, der bei Mutter war als sie starb.
Er hatte Recht, ich musste schlafen, ob ich wollte oder nicht, denn noch länger wollte ich mich meinen Gedanken nicht hingeben und es hatte anscheinend sowieso keinen Zweck zu warten.
Der Schlüssel im Schloss meiner Wohnungstür knackte und ich betrat erschöpft die leere meiner Einsamkeit. Ich ließ mich aufs Bett fallen und atmete tief ein. Was war nur los mit dieser Welt? Als ich so da lag und meine Blicke wandern ließ kam mir meine so schöne ruhige Wohnung nicht mehr so schön und ruhig vor, wie als ich sie verlassen hatte.
Sie war nicht mehr still und angenehm, nein, sie war nur noch kalt und einsam. Auf einmal begann ich diese Einsamkeit zu fürchten, ich hatte Angst vor der Stille denn ich hatte Angst vor meinen eigenen Gedanken.
Was war nur mit mir los. War mein Leben auf einmal so anders geworden? Wie kann das sein?Die Tränen schossen hervor und in dieser Nacht weinte ich mich das erste Mal in meinem Leben in den Schlaf.
Am nächsten Morgen als ich erwachte und mich umblickte dachte ich, alles war nur ein böser Traum. Ich dachte es nicht nur, ich wünschte es mir von Herzen. Im Bad betrachtete ich mein Spiegelbild. Nein, es konnte kein Traum gewesen sein. Dieser Anblick verriet alles. Ich starrte lange Zeit in den Spiegel, dabei versuchte ich mir klar zu machen wen oder was ich da ansah und fragte mich was das alles noch für einen Sinn machen würde, beziehungsweise ob es
jemals einen Sinn gehabt hatte? Wut stieg in mir hoch und mir war sofort klar warum, doch dafür war nun
keine Zeit, also schluckte ich dieses unermessliche und widerwärtige Gefühl einfach herunter um weiter machen zu können und nicht in mir selbst zu ertrinken. Kurzerhand entschied ich zurück zum Krankenhaus zufahren und hoffte das Mädchen wäre nun wach und ihr würde es soweit gut gehen. Sie würde mir verzeihen für das, was passiert war, auch wenn mich gar keine Schuld traf wollte ich, dass sie mir verzieh.
Als ich das Krankenzimmer des Mädchens betrat saß sie am Fenster und starrte auf die sonnigen Straßen der Stadt.
Ich klopfte gegen die offene Tür und sah sie fragend an, „Hey, du bist wach... wie geht es dir? Ich bin...“ begann ich den Satz, doch konnte ihn nicht beenden, da sie mir ins Wort fiel, „Mai, die Tochter der toten Fahrerin.“, sagte sie so kalt, dass mir schlecht wurde. Tote Fahrerin, das war meine Mutter, wie konnte sie so abwertend über sie reden.
Ich verkniff mir einen Kommentar, da die Tränen in mir hoch stiegen, doch ich war stark, zumindest redete ich mir das täglich ein um nicht daran zu zerbrechen. „Ja... das bin ich...“, brachte ich so freundlich wie möglich hervor.
„Natürlich bist du das... es ist mir aber auch egal.“, fuhr sie fort ohne mich überhaupt einmal angesehen zu haben.
„Geh!“, sagte sie barsch. Ich starrte sie an und ohne etwas zu sagen respektierte ich ihren Wunsch.
Ich drehte mich ein letztes Mal zu ihr um und starrte sie an.In der Sommersonne sah ihre Silhouette so zart und lieblich aus, dass man meinen konnte sie sei ein Engel, doch Engel wären garantiert nicht so kalt und unnahbar.
Nein, wahrscheinlich nicht. Hier stehen brachte mich auch nicht weiter also setzte ich meinen Weg fort, zog mir einen Kaffee und rauchte mir zwei Zigaretten auf dem Hof. Nachdem ich noch etwas Papierkram wegen der Beisetzung ausgefüllt hatte, ging ich zurück zum Zimmer des Mädchens, klopfte an und trat ein. Mein Herz blieb stehen und mein Atem stockte einen Moment als ich das Zimmer betrat. Sie war weg. Das Bett war frisch bezogen und auch sonst keine Spur von Leben. „Wo ist sie?“, rämmpelte ich eine Schwester an, diese wusste nicht einmal wen oder was ich meinte.
Ich sah mich auf dem Flur um und fragte auch an der Rezeption nach, doch keiner konnte mir sagen wo sie war, genau genommen wusste keiner von wem ich sprach, gut, ohne Namen war das auch schwer zu erklären, aber an der Zimmernummer hätte man es doch erkennen können.
Kapitel 2
Mit gesenktem Kopf schlenderte ich über die Straßen und war ganz in mir selbst versunken.
Eine Sonnenbrille schütze meine Augen vor dem grellen, schmerzenden Licht. Mein Leben lief mehr und mehr aus den Angeln und so sehr ich mich auch anstrengte es wieder in gewohnte Bahnen zu lenken, es klappte nicht. Tage und Wochen vergingen. Die Beerdigung meiner Mutter war schmerzhaft, doch erträglich. Selbst Jake weinte an Mutters Grab, einen Anblick den ich wahrscheinlich nie mehr vergessen würde. Denn dies war das letzte Mal, dass ich Tränen in seinen Augen sah, die er offen zugestand. Das Verhältnis von meinem Bruder zu mir war nie das Beste gewesen, doch in solchen Momenten hält man für gewöhnlich zusammen um den Schmerz besser verarbeiten zu können.
Schlechter allerdings war das Verhältnis meiner Mutter zu mir und meinem Bruder. Eigentlich verdiente sie all diese Tränen nicht, die um sie geweint wurden. Weder meine noch die von sonst irgendeinem Menschen, der dort am Grab stand. Doch Abschied auf ewig ist niemals einfach und am Ende sollte man alles verzeihen, auch wenn es vielleicht in dem einen oder anderen Fall schwer fällt.
Die Zeit vergeht, stetig und unaufhörlich.
Man bekommt es manchmal nicht mit und man denkt sich in schweren Zeiten, sie würde stehen und man könne sie beinahe anfassen. Doch auch in solchen Momenten steht sie niemals still. Und der nächste Schicksalsschlag ließ nicht lange auf sich warten. Ja, man mag es kaum glauben, doch es kann immer noch schlimmer kommen, umso mehr sollte man die Zeiten genießen in denen es mal nicht allzu hart ist.
Die Diagnose Krebs ist nie eine gute Nachricht, egal für wen sie gestellt wird.
Doch am härtesten trifft einen, solch eine Nachricht, wenn man sie im Bezug auf einen Menschen hört, den man wirklich liebt.
Liebe ist ein starkes Band zwischen zwei Menschen und in den meisten fällen niemals endgültig zu zerschneiden.
„Ich liebe dich Mai.“, flüsterte mir die Samtstimme in mein Ohr, „Ich werde dich immer lieben und das weißt du oder?“, fragte sie in einem lieblich leichten Ton. „Wieso fragst du so was? Natürlich weiß ich das, dasselbe gilt für dich.“, beteuerte ich und war verwirrt über solch eine subtile Frage
„Ich habe Krebs…“. Mein Herz stand einen Moment still und das Atmen fiel mir immer schwerer, von Sekunde zu Sekunde. Etwas in mir riss langsam ein, wie ein Glas, welches kurz davor war zu zerplatzen.
„Wieso sagst du so etwas? Nein… das glaube ich dir nicht.. Was für ein Schwachsinn.. Nein…“, schüttelte ich den Kopf und sah Luke fragend an. „Nein… das geht einfach nicht… so etwas bekommen nur Menschen, die es verdienen.. Und du verdienst das auf gar keinen Fall“, flüsterte ich. "Mai, ich wünschte es wäre so, aber meine Zeit ist vorbei. Irgendwann kommt die Zeit für jeden und für manche früher und für andere später, erinnere dich, das hast du mir schon so oft gesagt.“, lächelte Luke bitter. „Wie lange noch?“, fragte ich und ich spürte wie die Panik in mir aufstieg und sich wie ein kalter Nebel in mir verteilte. Ein unbehagliches Gefühl. „Vielleicht 4 Monate.. Vielleicht 4 Wochen oder vielleicht auch nur 4 Tage, es ist ein ziemlich fortgeschrittenes Stadium.“, flüsterte er beinahe nur noch und ich merkte wie in ihm Tränen aufblitzten. „Versprich mir nichts Dummes zu tun, egal was einmal mit mir ist.“
Ich sah ihn an und meine Brauen zogen sich entsetzt zusammen, doch ich nickte, schließlich blieb mir nichts anderes übrig.
Einen Moment lang betrachtete ich ihn schweigend und mein Herz krampfte sich zusammen. Stoßweise spürte ich wie es sich zusammenzog und Probleme hatte sich wieder zu lockern. Er legte seine Arme um mich und zog meinen Körper zu sich hinüber. Sein warmer Körper brannte auf meiner Haut und auf einmal lockerten sich all meine verkrampften Muskeln. Mein Herz klopfte gleichmäßiger und auch das Atmen fiel mir leichter, doch dieser Komfort löste etwas anderes ebenfalls in mir, die Anspannung, die dafür sorgte nicht zu weinen.
Die ganze Nacht saßen wir so da und selbst das schlafen wurde nebensächlich.
Am Morgen musste ich zur Arbeit und küsste Luke zärtlich und innig bevor ich seine Wohnung verließ um mich für ein paar Stunden der Realität hinzugeben, doch ich würde bald wieder kommen. Hätte ich gewusst, dass dieser unser letzter Kuss war, hätte ich ihn sicher nicht so nebensächlich über mich gebracht. Doch schlauer ist man meist erst danach. Als mich die Nachricht erreichte, dass Luke tot war, war es nicht so wie bei meiner Mutter, es war ein ganz anderes Gefühl. Zwar mindestens genauso unbehaglich wie bei ihr, doch irgendetwas war anders. Ein kalte Nebel breitete sich komplett in mir aus und ein Dunst trübte mir die Sicht. Ich war wie betäubt, alles in mir. Meine Gefühle waren eingefroren und das war auch auf die ein oder andere weise gut so, denn dieses taube Gefühl verhinderte die Realität zu begreifen. Luke hatte nicht der Krebs dahingerafft, er entschied freiwillig zu gehen und erhing sich im Badezimmer. Eine grausame Art zu sterben und dieser Gedanke, dass er nicht mehr da war löste eine Entscheidung in mir aus, welche einen Hauch von Endgültigkeit in sich trug.
Bei Lukes Beerdigung weinte ich nicht eine einzige Träne und auch die Tage danach, an denen ich bei ihm am Grab saß, deutete nichts darauf hin, dass es überhaupt noch emotionale Regungen in mir gab.
Kapitel 3
Nicht jede Entscheidung im Leben trägt eine Endgültigkeit mit sich und in den meisten Fällen ist es möglich die Richtung noch einmal zu ändern.
Für mich war das Schicksal wie eine Art Fadenwirrwarr. Wenn man einem Faden folgte, kam man irgendwann zu einer Kreuzung und man musste sich für einen neuen angebundenen Faden entscheiden. Manchmal waren es nur zwei zur Auswahl, manchmal hunderte und die Entscheidung viel nicht immer leicht. Hin und wieder hatte man die Möglichkeit umzukehren. Andere Male hatte man die Möglichkeit erneut abzubiegen um doch auf eine andere Bahn zu gelangen.
Doch in manchen seltenen Fällen gab es kein zurück, kein abbiegen und auch ab einem gewissen Punkt kein weiter mehr.
Ich weiß was ihr euch nun denkt. Ihr denkt dabei an den Tod. Den Tod, der meine Mutter und Luke ereilt hatte.
Aber nicht nur der Tod ist ein endgültiger Faden in unserem Schicksalsgewebe. Natürlich war es eine Variation des absoluten Endes, doch so etwas zog ich zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr in Erwägung. Ich hatte mich für etwas anderes viel gewichtigeres Entschieden. Und ich würde alle daran setzen, diesen Weg so schnell es ging einzuschlagen.
„Ich kündige“, das waren die letzten Worte, die ich meinem Chef sagte bevor ich für immer das Büro verließ.
Noch bevor er etwas sagen konnte schloss ich die Tür hinter mir und blickte nicht zurück. Mein Gesicht hatte schon lange keine Gefühle mehr gezeigt und auch mein Herz schien klein und verkümmert zu sein, aber nicht weil mich alles was bisher passiert war so sehr verändert hatte. Natürlich hatten mich die Umstände geprägt, aber meine Gefühlsregungen unterdrückte ich eigenständig und allein weil ich es wollte.
Es war ein taubes Gefühl, was ich jeden Tag mit mir herum trug um nicht verstehen zu müssen was sich nicht verstehen wollte. Dieses taube Gefühl, eine Art Nebel, schützte mich davor durchzudrehen. Es Luke gleich zu tun.
Doch ich hatte ihm im stillschweigen versprochen nichts Dummes zu tun und das war ich ihm noch schuldig.
Ich könnte sein vertrauen niemals missbrauchen, nicht einmal jetzt wo er tot war.
Meine Wunde, das Loch in meiner Brust würde niemals wieder heilen, das hatte ich mittlerweile resignierend eingestehen müssen. Doch das taube Gefühl in mir war wie eine kühlende Salbe und ließ mich jeden Morgen aufs neue aufstehen, meinen Weg gehen und nicht zurück blicken, solange ich nicht über das was passiert war nachdachte.
Solange ging es mir gut, so gut es einem in einem zombieähnlichen Zustand nur gehen konnte.
Selbst mein Chef hatte die Veränderung gemerkt und war deswegen wahrscheinlich nicht einmal so sehr überrascht, dass ich kündigte. Zuhause angekommen setzte ich mich auf meinem Balkon. Der blaue Rauch meine Zigarette strömte umher und der Wind fegte die toten Blätter von der Straße. Mein Blick schweifte umher, über die Dächer und Wege bis hin zu den Menschen dort unten und wieder zurück zu mir auf meinen kleinen Balkon.
Hinter mir stapelten sich die fertig gepackten Umzugskartons und meine Wohnung sah leer und trist aus.
Fast nichts ließ noch darauf schließen, dass jemand hier gewohnt hatte, außer mir und meinen Kartons. Ein letztes mal dachte ich über die Umstände nach, welche mich dazu bewegten die Stadt zu verlassen und ein komplett neues Leben zu beginnen, wo niemand wusste wie ich hieß, wer ich war und wie meine Geschichte verlaufen ist.
Die Wunde in meine Brust fing einen kurzen Moment an zu klaffen und zu eitern, es tat wieder weh, doch während ich mich meinem Leid hingab riss mich ein schrilles klingeln aus meiner Trance.
Das Telefon.
Ich raffte mich auf, straffte meinen Körper und ging rein um den Hörer abzunehmen, „Ja, Hallo?“, gleichzeitig zog ich an meiner Zigarette. „Mai? Ich bin es… ich wollte mich nur noch einmal versichern ob es bei 20 Uhr morgen bleibt? Es ist aller vorbereitet so weit es ging.“, ich stockte und lauschte seinen Worten. Es war Joe, ein Teil meines neuen Lebens. Er war der einzige in meiner neuen Welt, die ich bald betreten würde, der wusste wer ich war und das war auch gut so. Er war ein wichtiger Teil von mir und ohne ihn wäre es mir gar nicht möglich all das hinter mir zu lassen.
„Ja bleibt es, ich muss auch gleich los zum Flieger“, hauchte ich in den Hörer, „Bis dann.“, flüsterte ich beinahe und legte auf. Ich spürte wie Tränen über meine Wange liefen, es war Zeit mich meinem Nebel hinzugeben und endlich abzuschließen.
Ein letztes Mal blickte ich mich um und schaltete das Licht in meiner Wohnung aus, schloss die Tür hinter mir ab und warf den Schlüssel in den Briefkasten. Schritt für Schritt entfernte ich mich von meinem alten Leben. Ließ alles hinter mir. Den Schmerz, die Kälte, den Nebel und vor allem mein altes Leben. Ich würde ein neues beginnen und hoffte dieses würde mir soviel Leid ersparen. Natürlich würde jede einzelne Erinnerung für immer in meinem Herzen bleiben, denn sie komplett auszulöschen war leider nicht möglich, nicht einmal wenn man 2000 Kilometer weit flog und ein neues Leben begann. Doch es würde leichter werden und man würde nicht mehr so oft daran denken, das war mir klar. So verließ ich meine Heimatstadt, ich verließ den Nebel, die Erinnerungen, mein Leben.
Nach einigen Stunden Flug war ich in Vancouver angekommen.
Erschöpft setzte ich mich in ein Café um auf meinen Begleiter zu warten und dann sah ich sie. Das Puppenmädchen von der Brücke. Sie saß einen Tisch weiter, wie konnte das möglich sein? Es war genau das Mädchen, welches am Tod meiner Mutter schuld war, welches damals auf der Brücke stand und so traurig aussah, genau das Mädchen saß in Vancouver, 2000 Kilometer weit weg von zuhause. Nach kurzer Überlegung stand ich auf, nahm meinen Kaffee mit und setzte mich zu ihr. Sie sah mich starr an, ohne jegliche Gefühlsregung und ich hatte das Gefühl irgendetwas an ihr kam mir bekannt vor. Sie ähnelte jemand den ich kannte und jeden Tag sah.
Im Spiegel. Und dann verstand ich es. Es flackerte auf einmal hinter meinen Augen auf und dann wurde mir klar, jede Sekunde der letzten vergangenen 7 Monate. „Mai“, sagte ich zu dem Mädchen und ihre Augen blitzten auf.
Sie lächelte bitter, nickte, stand auf und gab mir ein Zeichen ihr zu folgen. Dann verließ sie das Café und ich blickte ihr nach, unentschlossen was ich tun sollte. Das Mädchen, dass mir gerade noch gegenüber saß, das Mädchen war ich.
Es war das Abbild meiner selbst, das letzte traurige Fünkchen was von mir übrig geblieben war, wenn man es so nennen konnte. Und wie sie so verschwand in der Ferne des Flughafens fiel alles von mir ab. Ich entschied mich dem Mädchen zu folgen. Das letzte was ich fühlte war der heiße Kaffee auf meiner Haut und ein Gefühl von fliegender Leichtigkeit.
Sterben war friedlich, leicht, ruhig und warm. Leben hingegen war kalt, hart und schwer.
Und so versagte mein Herz in einem Café irgendwo in Vancouver. Kilometer weit entfernt von zuhause.
Woran es lag kann ich nicht sagen, aber ich denke, es war Schicksal.
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2009
Alle Rechte vorbehalten