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Arthur Conan Doyle
Sherlock Holmes
Das Zeichen der Vier



Die Wissenschaft der Deduktion
Sherlock Holmes nahm seine Flasche von der Ecke des Kaminsimses und eine Spritze aus seinem geschmackvollen marokkanischen Etui. Mit seinen langen, weißen, nervösen Fingern befestigte er die dünne Nadel, und rollte seinen linken Hemdärmel hoch. Für kurze Zeit ruhten seine Augen nachdenklich auf dem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk mit all den sichtbaren und vernarbten Einstichpunkten. Schließlich stieß er die Nadelspitze ein, drückte den winzigen Kolben und sank mit einem langen, zufriedenen Seufzer in den samtgefütterten Lehnstuhl zurück.
Dreimal täglich und über viele Monate hatte ich diesem Vorgang zugesehen, aber ich hatte mich nie daran gewöhnt. Im Gegenteil, von Tag zu Tag war ich beim Anblick dieser Prozedur reizbarer geworden, und mein Gewissen bedrückte mich jede Nacht schwerer, obgleich mir der Mut zum Protestieren fehlte. Wieder und wieder hatte ich mir vorgenommen, dass ich dieses Thema ansprechen sollte, aber die kühle, nonchalante Art meines Freundes machten ihn nicht zu jemandem, dem gegenüber man sich solche Freiheiten erlauben würde. Seine großen Fähigkeiten, seine meisterhafte Art, und mein Wissen über seine vielen außerordentlichen Qualitäten -- all dies ließ mich davor zurückschrecken, ihn zu verärgern.
Aber an diesem Nachmittag, ob es nun der Bordeaux war, den ich zum Mittagessen getrunken hatte, oder meine besondere Verärgerung über seine vorsätzliche Handlungsweise; ich fühlte plötzlich, dass ich nicht länger schweigen konnte.
"Was ist es heute?" fragte ich. "Morphium oder Kokain?"
Er hob seine Augen träge von dem alten, bibliophilen Band, den er aufgeschlagen hatte. "Es ist Kokain," sagte er, "eine siebenprozentige Lösung. Möchten Sie es probieren?"
"Nein, danke", antwortete ich brüsk. "Ich habe mich noch nicht von der afganischen Kampagne erholt. Ich kann mir keine zusätzliche Belastung leisten."
Er lächelte über meine Vehemenz. "Vielleicht haben Sie recht, Watson," sagte er. "Ich nehme an, es hat körperlich einen schlechten Einfluss. Ich finde es aber so stimulierend und die Klarheit des Verstandes fördernd, dass seine sekundären Auswirkungen zweitrangig sind".
"Aber sehen Sie!" sagte ich ernsthaft. "Bedenken Sie den Preis!, Ihr Gehirn mag, wie Sie sagen, angeregt und stimuliert werden, aber durch einen pathologischen und krankhaften Prozess, der mögliche Gewebeveränderung mit sich bringt und vielleicht auch eine andauernde Schwäche. Sie wissen auch, welch dunkle Reaktion Sie manchmal überkommt. Bestimmt ist das Spiel kaum den Einsatz wert. Warum sollten Sie für ein bloßes beiläufiges Vergnügen den Verlust jener großen Fähigkeiten riskieren, mit denen Sie ausgestattet worden sind? Denken Sie daran, dass ich nicht nur als ein Kamerad mit Ihnen spreche, sondern als Mediziner zu jemandem, für dessen Verfassung er in gewissem Maße verantwortlich ist."
Er schien nicht beleidigt. Im Gegenteil; er legte seinen Fingerspitzen zusammen und lehnte den Ellenbogen auf die Lehne seines Stuhles, ganz wie jemand, der Vergnügen an einer Unterhaltung hat.
"Mein Verstand," sagte er, "rebelliert gegen Stillstand. Geben Sie mir Probleme, geben Sie mir Arbeit, geben Sie mir das schwer verständlichste Kryptogramm oder die komplizierteste Analyse, und ich bin in der mir angemessenen Umgebung. Dann kann ich ohne künstliche Stimulantien auskommen. Aber ich verabscheue die Stumpfheit des täglichen Lebens. Ich hungere nach geistiger Aufregung. Das ist der Grund, warum ich diesen Beruf gewählt -- oder geschaffen habe -- denn ich bin der Einzige in der Welt".
"Der einzige inoffizielle Detektiv?" sagte ich und zog meine Augenbrauen hoch.
"Der einzige inoffizielle beratende Detektiv, " antwortete er. "Ich bin dir letzte und höchste Instanz bei der Aufklärung. Wenn Gregson oder Lestrade oder Athelney Jones unsicher sind -- und das sind sie normalerweise -- wird mir die Sache vorgelegt. Ich untersuche die Fakten als Experte und gebe die Meinung eines Spezialisten ab. In solchen Fällen erwarte ich keine Anerkennung. Mein Name steht in keiner Zeitung. Die Arbeit selbst, das Vergnügen meine speziellen Fähigkeiten einsetzen zu können, ist meine höchste Belohnung. Im Jefferson Hope Fall haben Sie ja die Methoden meiner Arbeit kennengelernt."
" Ja, tatsächlich," sagte ich freundlich. "nichts hat mich in meinem Leben so berührt. Ich habe es sogar in einer kleinen Broschüre mit dem etwas phantastischen Titel 'Eine scharlachrote Studie' beschrieben."
Betrübt schüttelte er den Kopf. "Ich habe es überflogen," sagte er. " Ehrlich gesagt, kann ich Ihnen dazu nicht gratulieren. Detektivarbeit ist -- oder sollte es zumindest sein -- eine genaue Wissenschaft, und sie sollte genauso kalt und sachlich behandelt werden. Sie haben versucht, Romantik hineinzubringen. Das hat die gleiche Wirkung, als wenn Sie eine Liebesgeschichte oder eine Trennungsgeschichte in den fünften Lehrsatz von Euklid einbauen würden."
"Aber die Romanze war vorhanden," protestierte ich. " Ich konnte die Tatsachen ja nicht verändern."
"Einige Tatsachen sollten ausgelassen werden, oder wenigstens ein gesundes Maß an Verhältnismäßigkeit bei ihrer Erwähnung beachtet werden. Der einzige Punkt im diesem Fall, der Erwähnung verdiente, war das neugierige, analytische und logische Ergründen von Ursachen und Wirkungen, durch das ich den Fall erfolgreich enträtseln konnte."
Diese Kritik an meiner Arbeit ärgerte mich, da ich sie insbesondere geschrieben hatte, um ihm zu gefallen. Ich gestehe auch, dass ich mich über seine Selbstgefälligkeit ärgerte, die zu fordern schien, dass jede Zeile meines Pamphletes sich seinem speziellen Handeln widmete. Mehr als einmal hatte ich während all der Jahre, die ich mit ihm in der Baker Street lebte beobachtet, dass eine kleine Eitelkeit der stillen und belehrenden Art meines Begleiters zugrunde lag. Ich erwiderte jedoch nichts, sondern pflegte mein verwundetes Bein. Ich war vor einiger Zeit von einer Kugel getroffen worden und obwohl sie mich nicht am Gehen hinderte, schmerzte die Wunde bei jeder Wetteränderung.
"Meine Geschäfte haben sich vor kurzem bis auf das Festland ausgeweitet," sagte Holmes während er seine Bruyère-Pfeife nachstopfte. " Ich wurde letzte Woche von Francois Le Villard konsultiert, der, wie Sie wahrscheinlich wissen , kürzlich zum Einsatz im französischen Detektivdienst gekommen ist. Er hat all die keltische Macht schneller Intuition, aber es fehlt ihm die Bandbreite exakten Wissens, die zu der höheren Entwicklung seiner Kunst wesentlich ist. Bei dem Fall ging es um ein Testament und es gab einige interessante Aspekte. Ich konnte ihn auf zwei ähnliche Fälle hinweisen, der eine trug sich in Riga im Jahr 1857 zu, und der andere in St. Louis im Jahr 1871; beide habe ich ihm zur Lösung vorgeschlagen. Hier ist der Brief, den ich heute morgen erhielt und in dem er mir für meine Hilfe dankt. Während er sprach, warf er ein zerdrücktes Blatt ausländischen Briefpapieres hinüber . Ich überflog es und bemerkte eine Fülle bewundernder Anmerkungen, in denen die Worte "magnifiques", "Coup-de-maîtres", und "Tour-de-force" eingestreut waren, alle ein Zeichen der leidenschaftlichen Bewunderung des Franzosen.
"Er spricht wie ein Schüler zu seinem Meister," sagte ich.
"Ach, er überschätzt meine Hilfe," sagte Sherlock Holmes leichthin. " Er hat selbst beträchtliches Talent. Er besitzt zwei der drei notwendigen Qualitäten für den idealen Detektiv. Er hat die Fähigkeit der Beobachtung und der Deduktion. Ihm fehlt nur das Wissen; und das kommt vielleicht noch. Er übersetzt jetzt meine kleineren Arbeiten ins Französische".
"Ihre Arbeiten?"
"Ach, wussten Sie das nicht?" rief er und lachte. "Ja, ich bin für mehrere Monographien verantwortlich. Sie beruhen alle auf technischen Themen. Hier ist zum Beispiel mein Werk 'Über den Unterschied zwischen den Aschen verschiedener Tabake'. In ihm zähle ich einhundertundvierzig Formen von Zigarren-, Zigaretten-, und Pfeifentabaken auf, mit farbigen Abbildungen, die den Unterschied in der Asche illustrieren. Es ist ein Punkt, der ständig in kriminellen Versuchen auftaucht, und welcher manchmal von größter Wichtigkeit als Anhaltspunkt ist. Wenn Sie definitiv sagen können, zum Beispiel, dass irgendein Mord von einem Mann gemacht worden ist, der einen indischen lunkah rauchte, grenzt es Ihre Suche offensichtlich ein. Für ein trainiertes Auge gibt es daher mehr Unterschiede zwischen der schwarzen Asche von einer Trichinopoly und der weißen Fussel von Bird's Eye als zwischen einem Kohlkopf und einer Kartoffel."
"Sie haben eine außerordentliche Begabung für Details," bemerkte ich.
"Ich schätze ihre Wichtigkeit. Hier ist meine Monographie über die Aufzeichnung von Fußabdrücken, mit einigen Bemerkungen über die Verwendung von Gips zur Aufbewahrung von Abdrücken. Hier ist auch eine witzige kleine Arbeit über den Einfluss eines Berufes auf die Form der Hand, mit Lithographien der Hände von Dachdeckern, Seeleuten, Korkenschnitzern, Schriftsetzern, Webern, und Diamantschleifern. Das ist eine Sache großen praktischen Interesses für den wissenschaftlichen Detektiv -- besonders in Fällen nicht identifizierter Leichen oder im Entdecken des Vorfahren von Verbrechern. Aber ich ermüde Sie mit meinem Hobby."
"Nicht im geringsten," antwortete ich ernsthaft. "Es ist vom größten Interesse für mich, besonders, weil ich beobachten konnte, wie Sie daraus Nutzen ziehen konnten. Aber Sie sprachen eben von Beobachtung und Deduktion. Bestimmt bedingt das Eine in gewissem Maße das Andere."
"Nein, kaum," antwortete er und lehnte sich in seinem luxuriösen Lehnstuhl zurück, wobei er dicke blaue Rauchschwaden aus seiner Pfeife abgab. "Zum Beispiel zeigt mir die Beobachtung, dass Sie heute morgen im Wigmore Street Postamt gewesen sind, und die Deduktion sagt mir, dass Sie dort ein Telegramm abgesandt haben."
"Richtig!" sagte ich. "Sie haben in beiden Recht! Aber ich gestehe, dass ich nicht sehe, wie Sie zu diesem Schluss gekommen sind. Es war ein spontaner Einfall meinerseits und ich habe es niemandem erzählt."
"Es ist ganz einfach," bemerkte er und lachte über meine Überraschung, "so absurd einfach, dass eine Erklärung überflüssig ist; und doch hilft es vielleicht, die Grenzen zwischen Beobachtung und Deduktion zu definieren. Die Beobachtung sagt mir, dass Sie ein wenig rötliche Erde an Ihrem Schuh haben. Genau gegenüber von Wigmore Street hat man den Bürgersteig aufgerissen und die Erde angehäuft. Sie liegt derart, dass es schwierig zu vermeiden ist, in sie zu treten. Die Erde ist von diesem eigenen rötlichen Farbton, der nirgendwo sonst in der Nachbarschaft gefunden wird. Dies ist die Beobachtung. Der Rest ist Deduktion."
"Wie folgerten Sie das Telegramm daraus?"
"Natürlich wusste ich, dass Sie keinen Brief geschrieben hatten, weil ich Ihnen den ganzen Morgen gegenüber saß. Ich sehe auch dort in Ihrem offenen Schreibtisch, dass Sie ein Heftchen von Briefmarken und ein dickes Päckchen Postkarten haben. Weshalb sollten Sie sonst zur Post gehen, wenn Sie nicht ein Telegramm aufgeben wollten? Wenn man alle anderen Faktoren ausschließt, muss was übrig bleibt die Wahrheit sein."
"In diesem Fall ist das richtig," erwiderte ich nach kurzer Überlegung. "Wie Sie aber sagen, ist dies ein einfacher Fall. Würden Sie mich für unverschämt halten, wenn ich Ihre Theorien einer strengeren Prüfung unterziehe?"
"Im Gegenteil," antwortete er, "es würde mich hindern, eine zweite Dosis Kokain zu nehmen. Ich würde gerne jedes Problem untersuchen, das Sie mir nennen können."
"Ich habe Sie sagen gehört, dass es für einen Mann schwierig ist, einen Gegenstand täglich zu verwenden, ohne einen Abdruck seiner Persönlichkeit auf ihm zu belassen, den ein trainierter Beobachter nicht erkennen könnte. Ich habe hier eine Armbanduhr, die vor kurzem in meinen Besitz gekommen ist. Könnten Sie mir freundlicherweise eine Beschreibung über den Charakter oder die Gewohnheiten des letzten Besitzers geben?"
Ich übergab ihm die Armbanduhr mit einem gewissen Gefühl der Belustigung, denn die Prüfung war, wie ich dachte unmöglich, und ich beabsichtigte sie als eine Lehre gegen den etwas dogmatischen Ton, den er gelegentlich annahm. Er balancierte die Armbanduhr in seiner Hand, starrte das Zifferblatt an, öffnete den Rücken und untersuchte die Arbeit, zuerst mit bloßem Auge und dann mit einer mächtigen konvexen Linse. Ich konnte kaum das Lächeln über sein geknicktes Gesicht unterdrücken, als er den Deckel schließlich zuschnappen ließ und die Uhr zurückgab.
"Es gibt kaum irgendwelche Daten," bemerkte er. "Die Armbanduhr, ist vor kurzem gereinigt worden, was mir die aufschlussreichsten Fakten nimmt."
"Sie haben recht," antwortete ich. "Sie wurde gereinigt, bevor sie zu mir geschickt wurde." Tief im Innern beschuldigte ich meinen Gefährten, mir eine lahme und leere Entschuldigung anzubieten, nur um seinen Misserfolg zu verschleiern. Welche Fakten könnte er von einer ungereinigten Armbanduhr erwarten?
"Obwohl unbefriedigend, ist meine Forschung nicht völlig unfruchtbar gewesen," bemerkte er und starrte mit verträumten Augen an die Decke. "Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber ich nehme an, dass die Armbanduhr Ihrem älteren Bruder gehörte, der sie von Ihrem Vater erbte."
"Was Sie ohne Zweifel dem H. W. auf der Rückseite entnehmen"?
"So ist es. Das W. deutet auf Ihren eigenen Namen hin. Das Datum auf der Armbanduhr ist beinahe fünfzig Jahre her, und die Initialen sind so alt wie die Armbanduhr: deshalb wurde es für die vorige Generation gemacht. Schmuck fällt normalerweise dem ältesten Sohn zu, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er den gleichen Namen wie der Vater hat. Ihr Vater ist seit vielen Jahren tot, wenn ich mich recht erinnere. Die Uhr ist deshalb in den Händen Ihres ältesten Bruders gewesen."
"So weit, so gut," sagte ich. "Sonst noch etwas?"
"Er war ein Mann von unordentlichen Angewohnheiten -- sehr unordentlich und nachlässig. Er wurde mit guten Aussichten von der Familie ausgestattet, aber er warf seine Chancen weg. Er lebte einige Zeit in Armut, unterbrochen von kurzen Intervallen von Reichtum. Schließlich starb er an seiner Trunksucht. Das ist alles, was ich zusammenbekommen kann."
Ich sprang von meinem Stuhl und humpelte ungeduldig im Zimmer umher und fühlte eine beträchtliche Bitterkeit im Herzen.
"Dies ist Ihrer unwürdig, Holmes," sagte ich." Ich kann nicht glauben, dass Sie sich so tief sinken lassen. Sie haben sich nach der Geschichte meines unglücklichen Bruders erkundigt, und jetzt Sie geben vor, dieses Wissen auf irgendeine phantasiereiche Weise geschlussfolgert zu haben. Sie können nicht erwarten, dass ich glaube, dass Sie all dieses von seiner alten Armbanduhr abgelesen haben! Es ist unehrlich, und um es deutlich zu sagen, es hat einen Anflug von Scharlatanismus."
"Mein lieber Doktor," sagte er freundlich, " bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Die Sache als ein abstraktes Problem betrachtend, hatte ich vergessen, wie persönlich und schmerzhaft diese Sache für Sie sein könnte. Ich versichere Ihnen aber, dass ich nicht wusste, dass Sie einen Bruder hatten, bis Sie mir die Armbanduhr gaben."
"Dann, wie um alle Welt, bekamen Sie diese Tatsachen? Sie sind in jeder Beziehung richtig."
"Ah, das war Glück. Ich kann nur sagen, es war das Gleichgewicht der Wahrscheinlichkeit. Ich hatte nicht erwartet, so genau zu sein."
"Aber war es nicht ein bloßes Raten?"
" Nein, nein: Ich rate nie. Es ist eine schockierende Angewohnheit -- zerstörerisch für die logischen Fähigkeiten. Es erscheint Ihnen nur seltsam, weil Sie meinem Gedankengang nicht folgen oder die kleinen Tatsachen beobachten können, von denen große Schlussfolgerungen vielleicht abhängen. Zum Beispiel fing ich an, indem ich angab, dass Ihr Bruder nachlässig war. Wenn Sie den einfachen Teil dieses Uhrgehäuses beobachten, merken Sie, dass er nicht nur an zwei Stellen eingebeult ist. Das Gehäuse ist völlig von der Gewohnheit gezeichnet, zusammen mit anderen harte Gegenständen aufbewahrt zu werden, wie Münzen oder Schlüsseln, die in die gleiche Tasche wandern. Bestimmt ist es keine große Leistung anzunehmen, dass ein Mann ein nachlässiger Mann sein muss, der eine fünfzig-Guinee-Armbanduhr so sorglos behandelt. Auch ist es keine sehr weit hergeholte Schlussfolgerung, dass ein Mann, der einen Artikel solchen Wertes erbt, auch sonst gut ausgestattet ist.
Ich nickte um zu zeigen, dass ich seinem logische Denken folgte.
"Es ist für Pfandleiher in England sehr üblich, die Nummer des Pfandscheins mit einer Nadel in das Gehäuse einzuritzen, wenn sie eine Armbanduhr annehmen. Es ist geschickter als eine Aufschrift, denn so besteht kein Risiko, die Nummer zu verlieren. Es gibt nicht weniger als vier solcher Zahlen unter meiner Lupe im Inneren dieses Uhrgehäuses. Ein Indiz, dass Ihr Bruder oft in Geldschwierigkeiten steckte. Sekundäres Indiz -- dass er gelegentliche Anfälle von Wohlstand hatte, oder er könnte den Pfand nicht eingelöst haben. Schließlich bitte ich Sie, den inneren Teil anzuschauen, der das Schlüsselloch enthält. Schauen Sie die vielen Kratzer um das Schlüsselloch herum an, wo der Schlüssel abgerutscht ist. Könnte der Schlüssel eines nüchternen Mannes jene Furchen erzeugt haben? Aber die Armbanduhr eines Trinkers Sie werden nie ohne sie sehen. Er dreht das Uhrwerk bei Nacht auf, und er hinterlässt diese Spuren seiner unsicheren Hand. Wo ist das Rätsel in all diesem?"
"Es ist sonnenklar," antwortete ich. " Ich bedaure die Ungerechtigkeit, mit der ich Sie behandelt habe. Ich sollte mehr Glauben in Ihre fantastische Wissenschaft haben. Darf ich fragen, ob Sie momentan eine geschäftliche Anfrage haben?"
" Keine. Daher das Kokain. Ich kann nicht ohne Kopfarbeit leben. Wofür sonst sollte man leben? Stellen Sie sich hier ans Fenster. Gab es je eine so düstere, triste, unrentable Welt? Sehen Sie, wie der gelbe Nebel die Straße und die graubraunen Häuser entlang wirbelt? Was könnte hoffnungsloser prosaisch und gegenständlich sein? Warum hat man Fähigkeiten, Doktor, wenn man keine Möglichkeit hat, sie einzusetzen? Verbrechen ist alltäglich, Existenz ist alltäglich, und Qualitäten, die nicht alltäglich sind, haben keine Funktion in der Welt".
Ich hatte meinen Mund geöffnet, um dieser Tirade zu entgegnen, als unsere Wirtin mit einem herzhaften Klopfen an die Tür eintrat und eine Karte auf dem Messing-Tablett präsentierte.
"Eine junge Dame für Sie, Herr," sagte sie an meinen Gefährten gewandt.
"Fräulein Mary Morstan," las er. "Hmm!" Ich erinnere mich nicht an den Namen. Bitten Sie die junge Dame hereinzukommen, Frau Hudson. Gehen Sie nicht, Doktor. Ich wünsche, dass Sie bleiben."
Die Beschreibung des Falles
Mit festem Schritt und äußerst gefasst betrat Fräulein Morstan das Zimmer. Sie war eine blonde junge Dame, klein, zierlich, und geschmackvoll gekleidet. Die Einfachheit ihres Kostüms zeigte aber auch ihre begrenzten Mittel, die sie für Bekleidung ausgeben konnte. Das Kleid war in düsteren gräulichen Beige, ohne Besatz und ohne Bordüren, und sie trug einen kleinen Turban der gleichen stumpfen Farbe, der nur von einer weißer Feder an der Seite aufgelockert wurde. Ihr Gesicht hatte weder besondere Merkmale noch sonstige Charakteristika, aber ihr Eindruck war nett und liebenswürdig, und die großen blauen Augen waren außerordentlich sinnlich und teilnahmsvoll. In meiner Erfahrung mit Frauen, die sich über viele Nationen und drei getrennten Kontinente erstreckt, habe ich kein Gesicht mit einer klareren Verheißung einer so feinen und empfindsamen Natur gesehen. Ich konnte nichts anderes tun als zu beobachten, wie ihre Lippen und ihre Hand zitterten, als sie den Platz nahm, den Sherlock Holmes ihr anbot. Sie zeigte deutliche Anzeichen intensiver innerer Erregung.
"Ich bin zu Ihnen, Herr Holmes, gekommen," sagte sie, "weil Sie meinem Arbeitgeber -- Frau Cecil Forrester -- halfen, einige häusliche Komplikationen zu entwirren. Sie war von Ihrer Freundlichkeit und Ihren Fähigkeiten sehr beeindruckt."
"Frau Cecil Forrester," wiederholte er gedankenvoll. "Ich glaube, dass ich ihr einen kleinen Gefallen tat. Aber es war ein sehr einfacher Fall, wenn ich mich recht erinnere".
"Sie denkt anders darüber. Aber wenigstens können Sie von mir nicht das Gleiche sagen. Ich kann mir kaum etwas Seltsameres, etwas gänzlich Unerklärbareres vorstellen, als die Situation, in der ich mich befinde."
Holmes rieb seine Hände und seine Augen funkelten. Er lehnte sich mit einem Ausdruck außerordentlicher Konzentration auf seinen klaren, falkenähnlichen Zügen in seinem Stuhl vor. "Beschreiben Sie Ihren Fall," sagte er in lebhaftem Geschäftston.
Ich empfand mich in einer peinlichen Lage. "Sie werden mich sicherlich entschuldigen," sagte ich und erhob mich von meinem Stuhl.
Zu meiner Überraschung hob die junge Dame ihre behandschuhte Hand, um mich aufzuhalten. "Wenn Ihr Freund hierbleiben würde," sagte sie, "könnte er von unschätzbarem Dienst für mich sein."
Ich fiel in meinen Stuhl zurück.
"Kurz gesagt," setzte sie fort, "die Tatsachen sind diese. Mein Vater, der mich nach Hause schickte, als ich noch ein Kind war, war Offizier in einem indischen Regiment. Meine Mutter war tot, und ich hatte keine Verwandten in England. Ich wurde in einer komfortablen Pension bei Edinburgh untergebracht, und dort blieb ich, bis ich siebzehn Jahre alt war. Im Jahr 1878 erhielt mein Vater, der der ranghöchste Kapitän seines Regimentes war, zwölf Monate Urlaub und kam nach Hause. Er telegrafierte mir von London aus, dass er sicher angekommen war, und bat mich nach London zu kommen. Er gab das Langham Hotel als seine Adresse an. Seine Mitteilung war, wie ich mich erinnere, freundlich und liebvoll. In London angekommen, fuhr ich zum Langham Hotel und wurde dort informiert, dass Kapitän Morstan dort wohne, aber dass er in der vorigen Nacht das Hotel verlassen hatte und noch nicht zurückgekommen sei. Ich wartete mehrere Tage ohne Nachricht von ihm. Eines abends, auf Rat des Hotelmanagers, sprach ich mit der Polizei, und am nächsten Morgen inserierten wir in allen Zeitungen. Unsere Nachforschungen waren ohne Ergebnis; und seit jenen Tagen ist kein Wort mehr von meinem unglücklichen Vater gehört worden. Er kam nach Hause mit dem Herzen voller Hoffnung, Frieden zu finden, und stattdessen --" Sie führte die Hand zu ihrer Kehle, und ein würgender Schluchzer beendete den Satz.
"Das Datum?" fragte Holmes und öffnete sein Notizbuch.
"Er verschwand am 3. Dezember 1878, vor beinahe zehn Jahren."
"Sein Gepäck?"
"Blieb im Hotel. Es enthielt nichts, was einen Hinweis geben könnte -- einige Kleider, einige Bücher, und eine beträchtliche Anzahl von Kuriositäten von den Andaman Inseln. Er war dort einer der diensthabenden Offiziere der Strafkolonie.
"Hatte er irgendwelche Freunde in Stadt?"
"Wir kennen nur einen -- Major Sholto. Er ist aus seinem eigenen Regiment, der 34. Bombay Infanterie. Der Major war kurze Zeit vorher in Pension gegangen, und lebte in Upper Norwood. Wir korrespondierten natürlich mit ihm, aber er wusste nicht einmal, dass sein Offiziersfreund in England war."
"Ein eigenartiger Fall," bemerkte Holmes.
"Ich habe Ihnen noch nicht den eigenartigsten Teil beschrieben. Vor ungefähr sechs Jahren -- um genau zu sein, am 4. Mai, 1882 -- erschien eine Anzeige in der Times, in der nach der Adresse von Fräulein Mary Morstan gefragt wurde. Die Anzeige enthielt einen Hinweis, dass es zu ihrem Vorteil wäre. Es gab keinen Namen, keine Adresse war angegeben. Zu dieser Zeit hatte ich gerade meine Stelle als Gouvernante in der Familie von Frau Cecil Forrester angenommen. Auf ihren Rat hin veröffentlichte ich meine Adresse in den Anzeigenspalten. Am gleichen Tag kam eine kleine, an mich adressierte, Pappkiste mit der Post an, die eine sehr große und glänzende Perle enthielt. Es war kein Schreiben beigelegt. Seitdem ist dann jedes Jahr zum gleichen Zeitpunkt immer eine ähnliche Kiste angekommen und enthielt eine ähnliche Perle, ohne irgendeinen Anhaltspunkt über den Absender. Die Perlen sind von einem Experten geschätzt worden. Sie gehören zu einer seltenen Sorte und sind von beträchtlichem Wert. Sie können selbst sehen, dass sie sehr hübsch sind." Sie öffnete eine flache Kiste, und zeigte mir sechs von den feinsten Perlen, die ich je gesehen hatte.
"Ihre Behauptung ist höchst interessant," sagte Sherlock Holmes. "Ist Ihnen sonst noch etwas besonderes passiert?"
"Ja, und zwar heute. Darum bin ich zu Ihnen gekommen. Heute morgen bekam ich diesen Brief, wenn Sie ihn bitte lesen würden."
"Danke," sagte Holmes. "Den Umschlag bitte auch. Abgestempelt in London, S.W., datiert den 7. Juli. Hmm! Ein Daumenabdruck an der Ecke -- wahrscheinlich vom Briefträger. Papier der besten Qualität. Umschläge für Sixpence das Dutzend. Ein wählerischer Mann in seinen Schreibwaren. Keine Adresse.
'Kommen Sie heute abend sieben Uhr zum dritten Pfeiler von links an der Außenmauer des Lyceum Theaters. Wenn Sie misstrauisch sind, bringen Sie zwei Freunde mit. Sie sind ungerecht behandelt worden, und sollen Ihr Recht bekommen. Bringen Sie keine Polizei mit. Wenn Sie dies doch tun, wird alles vergeblich sein. Ihr unbekannter Freund.'
Tatsächlich, das ist ein hübsches kleines Rätsel. Was beabsichtigen Sie zu tun, Fräulein Morstan?"
"Das ist genau das, was ich Sie fragen wollte."
"Dann sollten wir auf jeden Fall hingehen. Sie und ich und -- ja, Dr. Watson ist der richtige Mann. Ihr Briefschreiber erwähnt zwei Freunde. Er und ich haben schon früher zusammengearbeitet."
"Aber käme er mit?" fragte sie mit einem bittenden Ton in ihrer Stimme und entsprechendem Gesichtsausdruck.
"Ich bin stolz und froh," sagte ich inbrünstig, " Ihnen zu Diensten sein zu können."
"Sie sind beide sehr freundlich," antwortete sie. "Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt und habe keine Freunde, an die ich mich wenden könnte. Wenn ich hier um sechs eintreffe, wird es zeitig genug sein, nehme ich an?"
"Sie sollten nicht später hier sein," sagte Holmes. "Aber es gibt noch einen anderen Punkt. Ist diese Handschrift die gleiche wie die der Adressen auf den Perlenkästchen?"
"Ich habe sie hier," antwortete sie und zeigte ein halbes Dutzend Papierblätter.
"Sie sind wirklich ein guter Klient. Sie haben die richtige Intuition. Lassen Sie uns sehen." Er breitete die Dokumente auf dem Tisch aus, und warf flüchtige Blicke von einem Papier zum anderen. "Die Handschrift ist verstellt, aber nicht im Brief," sagte er, "aber es kann keine Frage über die Autorschaft geben. Sehen Sie, wie der nicht unterdrückte griechische Buchstabe e ausbrechen will, und sehen Sie das Drehen des letzten s. Sie sind zweifellos von der gleichen Person geschrieben. Fräulein Morstan, ich möchte keine falschen Hoffnungen erwecken, aber gibt es irgendwelche Ähnlichkeit zwischen dieser Handschrift und der Ihres Vaters?"
"Sie könnten nicht verschiedener sein."
"Ich habe erwartet, dass Sie das sagen. Wir werden dann um sechs nach Ihnen Ausschau halten. Bitte erlauben Sie mir, die Dokumente zu behalten. Ich schaue mir die Sache vielleicht vorher noch einmal an. Es ist jetzt erst halb vier. Au revoir dann."
"Au revoir," sagte unsere Besucherin, und mit einem hellen, freundlichen Blick zu jedem von uns verbarg sie ihr Perlenkästchen in ihrem Busen und eilte fort. Am Fenster stehend beobachtete ich, wie sie lebhaft die Straße entlang ging, bis der graue Turban und die weiße Feder nur noch ein Fleck in der dunklen Menschenmenge waren.
"Was für eine attraktive Frau!" rief ich aus und drehte mich zu meinem Begleiter.
Er hatte seine Pfeife wieder angezündet und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. "Ist sie das?" sagte er träge. "Ich habe es nicht bemerkt".
"Sie sind wirklich ein Automat, --eine Rechenmaschine!" rief ich aus. "Manchmal haben Sie etwas Unmenschliches an sich."
Er lächelte sachte. "Es ist von größter Wichtigkeit," sagte er, " dass Ihr Urteil nicht von persönlichen Empfindungen vorbelastet ist. Ein Klient ist für mich nur eine Größe -- ein Faktor in einem Problem. Die emotionalen Aspekte sind dem logischem Denken hinderlich. Ich versichere Ihnen, dass die hübscheste Frau, die ich je kannte, für das Vergiften von drei kleinen Kindern gehängt wurde. Nur weil sie die Versicherungssumme erhalten wollte. Und der hässlichste Mann in meiner Bekanntschaft ist ein Philantrop, der beinahe eine Viertelmillion an die Armen von London verteilt hat."
"In diesem Fall aber--"
"Ich mache nie Ausnahmen. Eine Ausnahme widerlegt die Regel. Haben Sie je Gelegenheit gehabt, den Charakter eines Menschen anhand von Handschriften zu studieren? Was halten Sie vom Gekritzel dieses Burschen?"
"Es ist lesbar und gleichförmig," antwortete ich. "Ein Geschäftsmann mit charakterlicher Stärke."
Holmes schüttelte seinen Kopf. "Schauen Sie seine hohen Buchstaben an," sagte er. "Sie erheben sich kaum über den Rest. Dieses d könnte ein a sein, und dieses l ein e. Männer von Charakter unterscheiden ihre hohen Buchstaben immer, wie unleserlich sie auch sonst schreiben mögen. Es gibt Schwankungen in seinen k's und Selbstbehauptung in seinen Großbuchstaben. Ich gehe jetzt spazieren. Ich habe einige Dinge zu erledigen. Ich empfehle Ihnen dieses Buch -- eines der bemerkenswertesten, das je geschrieben wurden. Es ist Winwood Reades 'Martyrdom of Man'. Ich werde in einer Stunde zurück sein."
Ich saß am Fenster mit dem Band in meiner Hand, aber meine Gedanken waren weit weg von den gewagten Spekulationen des Schriftstellers. Meine Gedanken waren bei unserer Besucherin -- ihr Lächeln, die tiefen reichen Laute ihrer Stimme, das seltsame Rätsel, das ihr Leben überschattete. Wenn sie beim Verschwindens ihres Vaters siebzehn war, musste sie jetzt siebenundzwanzig sein -- ein süßes Alter, wenn die Befangenheit der Jugend verlorengeht und durch die Erfahrung abgelöst wird. So saß ich und grübelte, bis mir so gefährlichen Gedanken in den Kopf kamen, dass ich zu meinem Schreibtisch eilte und mich wütend in die neueste Abhandlung über Pathologie stürzte. Wer war ich schon, ein Armeechirurg mit einem lädierten Bein und einem ebenfalls lädierteren Bankguthaben? Wie konnte ich es wagen, an so etwas zu denken? Sie war eine Größe, ein Faktor -- nichts weiter. Sollte meine Zukunft dunkel erscheinen, so war es sicher besser, ihr wie ein Mann entgegen zu treten, als sie durch bloße Phantastereien aufzuwerten.
Die Suche nach einer Lösung
Es war halb sechs, als Holmes zurückkehrte. Er war heiter und lebhaft und in ausgezeichneter Verfassung -- eine Stimmung, die sich bei ihm schnell mit Anfällen der schwärzesten Depression abwechseln kann.
"Es gibt kein großes Rätsel in diesem Fall," sagte er und nahm die Tasse Tee, die ich für ihn gefüllt hatte. "Die Tatsachen scheinen nur eine Erklärung zuzulassen."
"Was! Haben Sie es schon gelöst?"
"Nun, das wäre zuviel gesagt. Ich habe eine einleuchtende Tatsache entdeckt, das ist alles. Sie ist aber sehr einleuchtend. Die Einzelheiten müssen aber noch hinzugefügt werden. Ich habe gerade beim Durchsuchen der früheren Ausgaben der Times herausgefunden, dass dieser Major Sholto aus Upper Norword, von der 34. Bombay Infanterie, am 28. April 1882 starb".
"Ich bin vielleicht sehr begriffsstutzig, Holmes, aber ich sehe nicht, was dies bedeuten soll."
"Nein? Sie überraschen mich. Schauen Sie es dann auf diese Art an. Kapitän Morstan verschwindet. Die einzige Person in London, die er besucht haben könnte, ist Major Sholto. Major Sholto bestreitet erfahren zu haben, dass Morstan in London war. Vier Jahre später stirbt Sholto. Nur eine Woche nach seinem Tod bekommt die Tochter von Kapitän Morstan ein wertvolles Geschenk, das von Jahr zu Jahr wiederholt wird und es gipfelt jetzt in einem Brief, der sie als betrogene Frau bezeichnet. Welches Unrecht kann gemeint sein, außer der Verlust ihres Vaters? Und warum sollten die Geschenke sofort nach Sholto's Tod anfangen, wenn nicht der Erbe dieses Sholto etwas von dem Rätsel wüsste und Wiedergutmachung anstrebte? Haben Sie irgendeine andere Theorie, die die Tatsachen besser erklärt?"
"Aber was für eine seltsame Wiedergutmachung! Und wie seltsam sie ausgeführt wird! Warum sollte er jetzt einen Brief schreiben, den er besser vor sechs Jahren geschrieben hätte? Außerdem spricht der Brief von 'Gerechtigkeit walten lassen'. Welche Gerechtigkeit ist gemeint? Es ist nicht anzunehmen, dass ihr Vater noch lebt. Es gibt in diesem Fall keine andere Ungerechtigkeit."
"Es gibt Ungereimtheiten; es gibt sicher Ungereimtheiten," sagte Sherlock Holmes nachdenklich. "Aber unser Ausflug heute abend wird sie alle klären. Ah, hier ist eine Droschke und Fräulein Morstan ist darin. Sind Sie bereit? Dann gehen wir besser hinunter, denn es ist doch spät geworden."
Ich nahm meinen Hut und meinen schwersten Stock. Ich sah wie Holmes seinen Revolver aus der Schublade nahm und ihn in seine Tasche steckte. Er dachte sicherlich, dass uns heute Nacht ernste Arbeit erwarten könnte.
Fräulein Morstan war in einen dunklen Mantel gehüllt, und ihr empfindsames Gesicht war gefasst, aber blass. Sie wäre keine Frau gewesen, wenn sie nicht Unruhe bei diesem seltsamen Unternehmen gefühlt hätte, auf das wir uns jetzt einließen. Doch ihre Selbstbeherrschung war perfekt, und sie beantwortete bereitwillig die wenigen zusätzlichen Fragen, die Sherlock Holmes ihr stellte.
"Major Sholto war ein besonderer Freund von Papa," sagte sie. "Seine Briefe waren voll von Anspielungen über den Major. Er und Papa befehligten die Truppen auf den Andaman Inseln. Übrigens wurde ein seltsames Dokument in Papas Schreibtisch gefunden, das niemand verstehen konnte. Ich nehme nicht an, dass es von großer Wichtigkeit ist, aber ich dachte, Sie würden es gerne sehen. Deshalb habe ich es mitgebracht. Hier ist es."
Holmes entfaltete das Papier vorsichtig und glättete es auf seinem Knie. Dann untersuchte er es sehr methodisch mit seiner Lupe.
"Es ist Papier aus indischer Herstellung," bemerkte er. "Es war einmal an einem Brett angeheftet. Das dargestellte Diagramm scheint ein Plan vom Teil eines großen Gebäudes mit zahlreichen Hallen, Korridoren, und Durchgängen zu sein. An einer Stelle ist ein kleines Kreuz in roter Tinte, und über ihm steht in verblichener Bleistiftschrift '3.37 von links'. In der linken Ecke ist eine seltsame Hieroglyphe. Sie sieht aus wie vier Kreuze in einer Reihe, deren Arme sich berühren. Daneben steht in sehr steilen und rohen Buchstaben geschrieben ' Das Zeichen der Vier -- Jonathan Small, Mahomet Singh, Abdullah Khan, Dost Akbar.' Nein, ich gestehe, ich kann nicht erkennen, wie uns dies hilft. Doch es ist augenscheinlich ein Dokument von Wichtigkeit. Es wurde sorgfältig in einer Brieftasche aufbewahrt; denn die eine Seite ist so sauber wie die andere."
"Wir fanden es in seiner Brieftasche."
"So bewahren Sie es sorgfältig auf, Fräulein Morstan, denn es könnte sich noch als nützlich herausstellen. Ich fange an zu glauben, dass diese Sache vielleicht viel tiefer und spitzfindiger sein könnte, als ich zuerst annahm. Ich muss meine Ideen noch einmal überdenken." Er lehnte sich im Wagen zurück und ich konnte an seinen hochgezogenen Augenbrauen und an seinen Augen sehen, dass er konzentriert nachdachte. Fräulein Morstan und ich plauderten leise über unseren gegenwärtigen Ausflug und sein mögliches Ergebnis, aber unser Begleiter behielt seine undurchdringliche Reserviertheit bis das Ende unserer Reise bei.
Es war ein Septemberabend, und noch keine sieben Uhr, aber der Tag war düster gewesen, und ein dichter nieselnder Nebel lag über der großen Stadt. Schmutziggraue Wolken hingen traurig über den schlammigen Straßen. Entlang des Strandes standen Lampen, aber sie erzeugten nur neblige Kleckse von diffusem Licht und warfen einen schwachen kreisförmigen Schimmer auf dem schleimigen Bürgersteig. Das gleißend gelbe Licht der Schaufenster strahlte in die feuchte Luft und warf seine düsteren Strahlen in die überfüllte Durchfahrt. Die endlosen Prozession von Gesichtern in diesen Lichtkegeln hatten etwas unheimliches und geisterhaftes -- traurige und frohe Gesichter, ausgezehrte und fröhliche. Wie alle menschlichen Wesen flattern sie von der Finsternis ins Licht, und zurück in die Finsternis. Ich bin nicht leicht zu beeindrucken, aber der trübe, feuchte Abend und das seltsame Vorhaben, auf das wir uns eingelassen hatten, reichten aus, um mich nervös und deprimiert zu machen. Ich konnte an Fräulein Morstan's Gesichtsausdruck erkennen, dass sie unter den gleichen Gefühlen litt. Nur Holmes konnte sich über solche geringfügigen Einflüsse hinwegsetzen. Er hielt sein offenes Notizbuch auf seinem Knie, und bisweilen notierte er Zahlen und Notizen im Licht seiner Taschenlampe.
Vor dem Lyceum Theater standen die Menschenmengen schon in dicken Trauben an den Seiteneingängen. Am Eingang war das Klappern eines ununterbrochenen Stroms von zweirädrigen und vierrädrigen Droschken zu hören, die ihre Fracht von hemdgeschmückten Männern und diamantengeschmückten Frauen dort abluden. Wir hatten den dritten Pfeiler, der unser Rendezvouspunkt war, kaum erreicht, als uns ein kleiner, dunkler, lebhafter Mann in Kutscherkleidung ansprach.
"Sind Sie die Begleitung von Fräulein Morstan?" fragte er.
"Ich bin Fräulein Morstan, und diese zwei Gentlemen sind meine Freunde," sagte sie.
Er warf seine durchdringenden und fragenden Augen auf uns. "Sie müssen mich entschuldigen, Fräulein," sagte er mit einer gewissen Beharrlichkeit, "aber ich soll Sie bitten, mir Ihr Wort zu geben, dass keiner Ihrer Begleiter Polizeioffizier ist."
"Ich gebe Ihnen darauf mein Wort," antwortete sie.
Er gab einen schrillen Pfiff ab, woraufhin ein Straßenjunge eine vierrädrige Droschke heranführte und die Tür öffnete. Der Mann, der uns angesprochen hatte, nahm auf dem Kutschersitz Platz, während wir unsere Plätze im Innern einnahmen. Wir waren kaum damit fertig, als der Fahrer auf sein Pferd einpeitschte und wir mit einem furiosen Tempo durch die nebligen Straßen schossen.
Die Situation war merkwürdig. Wir fuhren zu einem unbekannten Ort und mit einem unbekannten Ziel. Doch entweder war unsere Einladung ein vollständiger Schwindel -- eine unvorstellbare Hypothese -- oder wir hatten guten Grund anzunehmen, dass auf unserer Reise wichtige Fragen beantwortet werden könnten. Fräulein Morstans Benehmen war resolut und gefasster denn je. Ich bemühte mich, sie aufzuheitern und durch Erinnerungen meiner Abenteuer in Afghanistan zu amüsieren; aber, um die Wahrheit zu sagen, war ich selbst so aufgeregt und so neugierig auf das Ziel unserer Fahrt, dass meine Geschichten etwas kompliziert wurden. Bis heute behauptet sie, ich hätte ihr eine bewegende Geschichte erzählt, wie eine Muskete mitten in der Nacht in mein Zelt hineinzielte, und ich eine doppelläufige Tigerflinte darauf abfeuerte. Zuerst hatte ich noch ein Gefühl für die Richtung, in die wir fuhren; aber bald verlor ich die Orientierung, was unserem Tempo, dem Nebel, und meinen begrenzten Stadtkenntnissen von London zuzuschreiben war. So wusste ich nichts, außer, dass wir einen sehr langen Weg zu fahren schienen. Sherlock Holmes hingegen war nie unsicher und murmelte die Straßennamen, während die Droschke durch die Straßenblöcke und verwinkelten Seitenstraßen klapperte.
"Rochester Row," sagte er. "Jetzt Vincent Square. Jetzt kommen wir auf die Vauxhall Bridge Road. Anscheinend fahrend wir nach Surrey. Ja, ich habe es mir gedacht. Jetzt sind wir auf der Brücke. Sie können einen Blick auf den Fluss werfen."
Wir hatten tatsächlich einen flüchtigen Blick auf ein Stück der Themse werfen können, wo Lampen das breite, stille Wasser beschienen. Aber unsere Droschke preschte weiter, und gelangte bald in ein Labyrinth von Straßen auf der anderen Seite der Themse.
"Wordsworth Road," sagte mein Begleiter. "Priory Road. Lark Hall Lane. Stockwell Place. Robert Street. Cold Harbour Lane. Unser Unternehmen scheint uns nicht in sehr populäre Gebiete zu führen.
Wir hatten tatsächlich eine fragwürdige und abschreckende Gegend erreicht. Lange Linien stumpfer Backsteinhäuser wurden nur vom groben blendenden Licht und kitschig-buntem Glanz öffentlicher Häuser an der Ecke erhellt. Dann kamen Reihen zweistöckiger Villen, jede mit einem kleinen Garten davor, und dann wieder endlose Reihen neuer starrer Backsteingebäude -- die Monster-Tentakel, die die riesige Stadt in das Land warf. Endlich fuhr die Droschke an das dritte Haus einer neuen Häuserreihe. Keines der anderen Häuser war bewohnt, und dort wo wir hielten, war das Haus so dunkel wie die benachbarten, mit Ausnahme eines einzelnen Schimmers im Küchenfenster. Auf unser Klopfen aber wurde die Tür sofort von einem Hindu-Diener geöffnet. Er trug einen gelben Turban und war in weiße, locker getragene Tücher gekleidet, darum eine gelbe Schärpe. Es war irgend etwas merkwürdig und unpassend an dieser orientalischen Figur, die im Türrahmen dieses drittklassigen vorstädtischen Hauses stand.
"Der Sahib erwartet Sie," sagte er, und in dem Moment als er sprach, drang eine hohe, pfeifende Stimme aus irgendeinem Zimmer im Innern. "Zeigen Sie sie mir, khitmutgar," rief die Stimme. "Bringen Sie sie direkt zu mir hinein."
Die Geschichte des kahlköpfigen Mannes
Wir folgten dem Inder einen einfachen und heruntergekommenen Korridor entlang, der schlecht beleuchtet und noch schlechter möbliert war, bis wir an eine Tür zur Rechten gelangten, die er uns öffnete. Ein gelber Feuerschein fiel auf uns und im Zentrum des blendenden Lichtes stand ein kleiner Mann mit einer sehr hohen Stirn und einem kahlen, glänzenden Kopf, der, umgeben von einem Büschel fransiger roter Haare, wie ein Berggipfel aus einem Fichtenwald herausragte. Er presste seine Hände zusammen während er so stand und sein Gesichtsausdruck war in einem ständigen ruckhaften Wechsel begriffen; mal lächelnd, mal finster blickend, aber nie für einen Augenblick ruhig. Die Natur hatte ihn mit einer frei hängenden Lippe und einer Reihe gelber, unregelmäßiger Zähne ausgestattet. Er bemühte sich ständig, den unteren Teil seines Gesichtes zu verbergen, indem er ihn mit Handbewegungen zu verdecken suchte. Trotz seiner auffälligen Kahlheit erweckte er den Eindruck von Jugend. Tatsächlich war er gerade dreißig geworden.
"Zu Ihren Diensten, Miss Morstan," wiederholte er in einer dünnen, hohen Stimme. "Zu Ihren Diensten, Gentlemen. Bitte treten Sie in mein kleines Allerheiligstes ein. Ein kleiner Ort, Miss, aber nach meinem eigenen Geschmack eingerichtet. Eine Oase der Kunst in der heulenden Wüste von Süd-London."
Wir waren alle über das Aussehen der Wohnung erstaunt, in die er uns nun einlud. In diesem traurigen Haus war sie so fehl am Platze wie ein Diamant erster Qualität in einer Fassung aus Messing. Die wertvollsten und glänzendsten Vorhänge und Gobelins drapierten die Wände, hier und da zurückgeschlagen, um irgendein kunstvoll gerahmtes Gemälde oder eine Vase freizulegen. Der Teppich war bernsteinfarben und schwarz gemustert und so dick, dass der Fuß darin angenehm wie in ein Bett von Moos einsank. Zwei große Tigerfelle, die quer darüberlagen, vergrößerten den Eindruck von orientalischem Luxus, ebenso wie eine große Wasserpfeife, die auf einer Matte in der Ecke stand. Eine Lampe in Form einer silbernen Taube hing von einen fast unsichtbaren goldenen Draht in der Mitte des Zimmers. Sie war angezündet und füllte die Luft mit einem feinen und aromatischen Duft.
"Mr. Thaddeus Sholto", sagte der kleine Mann, immer noch zuckend und lächelnd. "So heiße ich. Sie sind natürlich Miss Morstan. Und diese Gentlemen--"
"Dies ist Mr. Sherlock Holmes, und dies ist Dr. Watson."
"Ein Arzt, hä?" rief er aufgeregt. "Haben Sie Ihr Stethoskop dabei? Darf ich Sie fragen -- würden Sie die Freundlichkeit besitzen? Ich habe ernste Sorgen um meine Herzklappen, wenn Sie daher so freundlich wären. Auf die eine kann ich mich verlassen, aber ich würde Ihre Meinung über die andere gerne hören."
Ich hörte sein Herz wie gebeten ab, konnte aber nichts Besonderes finden, außer, dass er von außerordentlicher Angst erfüllt war, denn er zitterte von Kopf bis Fuß. "Alles scheint normal zu sein", sagte ich, "Sie haben keinen Grund zur Besorgnis."
"Bitte entschuldigen Sie meine Sorge, Miss Morstan," bemerkte er entschuldigend. "Ich bin stark leidend, und ich habe schon lange die Herzklappe im Verdacht gehabt. Ich bin aber erfreut zu hören, dass dies nicht der Fall ist. Wenn Ihr Vater, Miss Morgan, aufgehört hätte sein Herz so stark zu belasten, könnte er heute noch leben."
Ich hätte dem Mann gerne ins Gesicht geschlagen, so erzürnt war ich über diese gefühllose offene Erwähnung einer doch Zartgefühl erfordernden Angelegenheit. Miss Morstan setzte sich und ihr Gesicht wurde ebenso weiß wie ihre Lippen. "Ich wusste tief im Herzen, dass er tot ist", sagte sie.
"Ich kann Ihnen alle Informationen geben," sagte er, "und mehr noch, ich kann Ihnen zu Ihrem Recht verhelfen. Das werde ich tun, egal was Bruder Bartholomew vielleicht sagen wird. Ich bin so froh, Ihre Freunde hier zu haben, nicht nur als Ihren Geleitschutz, sondern auch als Zeugen dessen, was ich nun tun und sagen werde. Drei von uns können sich gegen Bruder Bartholomew durchsetzen. Aber wir wollen keine Außenstehenden, keine Polizei oder Beamte. Wir können alles unter uns und ohne Einmischung anderer zufriedenstellend regeln. Nichts würde Bruder Bartholomew mehr ärgern als irgendeine Öffentlichkeit. Er setzte sich auf eine niedrige Couch und blinzelte uns fragend mit seinen schwachen, wässrigen blauen Augen an.
"Was mich angeht," sagte Holmes, "was immer sie erzählen, ich werde es nicht weitergeben."
Ich nickte, um meine Zustimmung zu zeigen.
"Das ist gut! Das ist gut!" sagte er. "Miss Morstan, darf ich Ihnen ein Glas Chianti anbieten? Oder Tokayer? Ich habe keine anderen Weine. Soll ich eine Flasche öffnen? Nein? Nun, dann hoffe ich, dass Sie nichts gegen Tabakrauch einzuwenden haben, gegen den milden balsamischen Duft der orientalischen Tabake. Ich bin ein wenig nervös und halte meine Wasserpfeife für ein unbezahlbares Beruhigungsmittel." Er nahm eine dünne Wachskerze zum Entzünden des Pfeifenkopfes und der Rauch blubberte fröhlich durch das Rosenwasser.
Wir drei saßen im Halbkreis, die Köpfe vorgeneigt und das Kinn in die Hände gestützt, während der seltsame, zappelige kleine Kerl mit seinem hohen, schimmernden Kopf verlegen in der Mitte paffte.
"Als ich mich entschloss, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen," sagte er, "hätte ich Ihnen meine Adresse geben können, aber ich fürchtete, dass Sie meine Bitte ignorieren und unerfreuliche Leute mit sich bringen könnten. Daher nahm ich mir die Freiheit, die Verabredung dergestalt zu arrangieren, dass mein Mann Williams Sie zuerst treffen konnte. Ich habe volles Vertrauen in seine Diskretion und er hatte den Auftrag, die Sache nicht weiter zu verfolgen, sollte er enttäuscht werden. Sie müssen diese Vorsichtsmaßnahme entschuldigen, aber ich lebe sehr zurückgezogen und habe vielleicht einen seltsamen Geschmack, aber es gibt nichts unästhetischeres als einen Polizisten. Ich habe eine natürliche Abneigung gegen alle Formen von rohem Materialismus. Ich komme selten mit rohen Menschen zusammen. Wie Sie sehen, lebe ich mit einer gewissen Atmosphäre von Eleganz um mich herum. Ich könnte mich als einen Liebhaber der Künste bezeichnen. Das ist meine Schwäche. Das Landschaftsgemälde ist ein echter Corot, und obgleich ein Kenner vielleicht Zweifel an diesem Salvator Rosa haben könnte, es gibt keinen Zweifel über den Bougereau. Ich habe eine Vorliebe für die moderne französische Schule."
"Bitte entschuldigen Sie, Mr. Sholto," sagte Miss Morstan, "aber ich bin auf Ihre Bitte hierher gekommen, um etwas zu erfahren, dass Sie mir mitteilen möchten. Es ist sehr spät und ich wünsche, dass das Gespräch so kurz wie möglich wird."
"Auf jeden Fall braucht es einige Zeit," antwortete er, "denn wir werden sicherlich nach Norwood fahren müssen, um Bruder Bartholomew zu treffen. Wir werden gemeinsam fahren und sehen, ob wir ihn in guter Laune finden. Er ist sehr verärgert über den von mir eingeschlagenen Kurs, obwohl er mir richtig erscheint. Ich hatte gestern kräftigen Streit mit ihm. Sie können sich nicht vorstellen, was für ein schrecklicher Kerl er ist, wenn er böse ist."
"Falls wir nach Norwood fahren müssen, sollten wir auch sofort aufbrechen," wagte ich zu bemerken.
Er lachte und seine Ohren wurden ganz rot. "Das würde kaum gehen", rief er, "ich weiß nicht, was er sagen würde, wenn ich sie auf diese abrupte Weise hereinbrächte. Nein, ich muss Sie darauf vorbereiten, indem ich Ihnen erkläre, wie wir alle zueinander stehen. Zuerst muss ich Ihnen sagen, dass es mehrere Punkte in der Geschichte gibt, die ich ausgelassen habe. Ich kann Ihnen nur die Tatsachen erzählen, die ich selber weiß."
"Wie Sie vermutlich bereits erraten haben, war mein Vater Major Sholto, er war früher in der Armee in Indien. Er ging vor etwa elf Jahren in Pension und wollte bei Pondicherry Lodge in Upper Norwood leben. Er war in Indien wohlhabend geworden und brachte eine beträchtliche Summe Geldes mit zurück, auch eine große Sammlung wertvoller Kostbarkeiten sowie sein Personal von indischen Dienern. Er kaufte sich ein Haus und lebte in großem Luxus. Mein Zwillingsbruder Bartholomew und ich waren die einzigen Kinder."
"Ich erinnere mich sehr gut an die Aufregung, die das Verschwinden von Kapitän Morstan verursachte. Wir lasen die Einzelheiten in den Zeitungen, und diskutierten den Fall offen in seiner Anwesenheit, da er ein Freund unseres Vaters gewesen war. Gewöhnlich beteiligte er sich an unseren Spekulationen über das, was geschehen sein könnte. In keinster Weise hätten wir vermutet, das er das ganze Geheimnis in seiner Brust versteckt hielt -- dass von allen Menschen er allein das Schicksal von Arthur Morstan kannte."
"Wir wussten jedoch, dass irgendein Rätsel -- eine bestimmte Gefahr -- unseren Vater beschäftigte. Er war sehr ängstlich, alleine das Haus zu verlassen und er beschäftigte immer zwei Preiskämpfer, die als Pförtner in der Pondicherry Lodge arbeiteten. Williams, der sie heute nacht fuhr, ist einer von ihnen. Er war einmal englischer Leichtgewicht-Meister. Unser Vater hätte uns nie von seinen Ängsten erzählt, aber er hatte eine deutliche Abneigung gegen Männern mit Holzbeinen. Einmal feuerte er seinen Revolver auf einen Mann mit Holzbein ab, der sich später als ein einfacher Händler auf der Suche nach Aufträgen erwies. Wir mussten eine große Summe zahlen, um die Sache zu vertuschen. Mein Bruder und ich haben früher gedacht, dies sei eine bloße Laune meines Vaters, aber die Ereignisse seitdem haben uns dazu gebracht, unsere Meinung zu ändern."
"Anfang 1882 erhielt mein Vater einen Brief aus Indien, der für ihn ein großer Schock war. Als er ihn öffnete, fiel er beinahe am Frühstückstisch in Ohnmacht und seit diesem Tag kränkelte er, bis zu seinem Tode. Wir konnten nie herausfinden, was in diesem Brief stand. Aber als er ihn in Händen hielt, konnte ich sehen, dass er kurz und in einer kritzeligen Handschrift geschrieben war. Er hatte jahrelang an einer vergrößerten Milz gelitten, aber es ging jetzt schneller mit ihm bergab. Ende April wurden wir informiert, dass er jenseits aller Hoffnung war, und dass er eine letzte Unterredung mit uns führen wollte."
"Als wir sein Zimmer betraten, lag er von Kissen gestützt und das Atmen fiel ihm schwer. Er flehte uns an, die Tür abzuschließen und an beiden Seite des Bettes Platz zu nehmen. Dann ergriff er unsere Hände und machte er uns eine bemerkenswerte Eröffnung in einer Stimme, die von Emotion wie auch von Schmerz gezeichnet war. Ich werde versuchen, es Ihnen in seinen eigenen Worten zu erzählen."
"Es gibt nur eine Sache,' sagte er, 'die mir in diesem Moment auf der Seele liegt. Es ist die Art, wie ich Morstan's arme Waise behandelt habe. Aus Gier, meiner schlimmsten Sünde im Leben, habe ich ihr den Schatz vorenthalten, der ihr eigentlich mindestens zur Hälfte zusteht. Obwohl ich selbst keinen Gebrauch davon gemacht habe -- so blind und dumm ist die Habgier. Das bloße Gefühl von Besitz war mir soviel wert, dass ich es nicht ertragen konnte, mit jemandem zu teilen. Seht ihr den mit Perlen besetzten Rosenkranz neben der Chininflasche. Obwohl ich es nicht ertrug zu teilen, hatte ich ihn mitgebracht, um ihn ihr zu schicken. Ihr, meine Söhne, sollt ihr einen angemessenen Anteil vom Schatz des Agra geben. Aber schickt ihr nichts -- auch nicht den Kranz -- ehe ich gegangen bin. Denn es sind schon andere so krank gewesen wie ich, und dennoch genesen.'
'Ich will euch erzählen, wie Morstan starb,' fuhr er fort. 'Er hatte jahrelang an einem schwachen Herzen gelitten, aber er verbarg es vor jedem. Ich allein wusste es. Als er und ich in Indien waren, kamen wir durch eine bemerkenswerte Kette von Umständen in den Besitz eines beträchtlichen Schatzes. Ich brachte ihn mit zurück nach England. In der Nacht, in der Morstan zurückkehrte, kam er geradewegs hierher und verlangte seinen Anteil. Er kam direkt vom Bahnhof und wurde von meinem treuen Lal Chowdar empfangen, der jetzt tot ist. Morstan und ich waren unterschiedlicher Meinung über die Teilung des Schatzes und es fielen hitzige Worte. Morstan war gerade in einem Anfall von Ärger aus seinem Stuhl aufgesprungen, als er seine Hand plötzlich an die Seite drückte. Sein Gesicht nahm eine dunkle Farbe an und er fiel rückwärts hin und stieß mit seinem Kopf an die Ecke der Schatzkiste. Als ich mich über ihn beugte, stellte ich zu meinem Schrecken fest, dass er tot war.'
'Längere Zeit saß ich völlig abwesend da und überlegte, was zu tun sei. Natürlich war mein erster Gedanke, Hilfe zu holen. Aber ich konnte auch klar erkennen, dass es sehr wahrscheinlich war, dass ich des Mordes an ihm angeklagt würde. Sein Tod während eines Streites und die klaffende Wunde an seinem Kopf; beides würde gegen mich sprechen. Zudem könnte eine offizielle Untersuchung nicht angestellt werden, ohne einige Tatsachen über den Schatz ans Licht zu bringen, den ich doch geheim halten wollte. Er hatte mir gesagt, dass kein Mensch auf dieser Welt wüsste, wohin er gegangen sei. So gab es auch keine Notwendigkeit, dass es ein Mensch je erfahren sollte.'
'Ich dachte immer noch über die Sache nach, als ich beim Hochblicken meinen Diener Lal Chowdar in der Türöffnung sah. Er stahl sich herein und verriegelte die Tür hinter sich. "Fürchten Sie nichts, Sahib," sagte er. "Niemand braucht zu wissen, dass sie ihn getötet haben. Wir werden ihn verstecken und wer sollte dann etwas erfahren?" "Ich habe ihn nicht getötet," sagte ich. Lal Chowdar schüttelte seinen Kopf und lächelte. "Ich habe alles gehört, Sahib," sagte er. "Ich habe Ihren Streit gehört und ich habe den Schlag gehört. Aber meine Lippen sind versiegelt. Alle im Haus schlafen. Wir sollten ihn gemeinsam fortbringen". Das gab für mich den Ausschlag. Wenn mein eigener Diener nicht an meine Unschuld glaubte, wie konnte ich dann hoffen, es vor zwölf dummen Händlern auf der Geschworenenbank zu schaffen? Lal Chowdar und ich entledigten uns noch in der gleichen Nacht der Leiche und innerhalb weniger Tage waren die Londoner Zeitungen voll vom mysteriösen Verschwinden von Kapitän Morstan. Ihr seht, dass ich kaum Schuld an dieser Sache trage. Mein einziger Fehler war, dass wir nicht nur die Leiche, sondern auch die Schatzkiste verbargen. Und dass ich mich sowohl an Morstans als auch an meinem eigenen Anteil klammerte. Ich möchte daher, dass ihr das wiedergutmacht. Legt eure Ohren an meinen Mund. Der Schatz ist im---' In diesem Moment überkam eine schreckliche Veränderung seinen Gesichtsausdruck, wild starrten seine Augen, sein Unterkiefer fiel herunter und er schrie in einer Stimme, die ich niemals vergessen werde, lasst ihn nicht herein! Um Gottes Willen, lasst ihm nicht herein!' Wir drehten unsere Köpfe zum Fenster hinter uns, an dem sein Blick hing. Ein Gesicht sah aus der Dunkelheit zu uns hinein. Wir konnten das Weiße auf der Nase sehen, dort wo sie gegen das Glas gepresst wurde. Es war ein bärtiges, behaartes Gesicht, mit wilden, grausamen Augen und einem Ausdruck geballter Boshaftigkeit. Mein Bruder und ich hetzten zum Fenster, aber der Mann war fort. Als wir zum Vater zurückkamen, war sein Kopf herabgesunken und sein Puls hatte aufgehört zu schlagen.
Wir durchsuchten in der Nacht den Garten, fanden aber kein Zeichen des Eindringlings außer einem einzelnen Fußabdruck, der genau unter dem Fenster im Blumenbeet sichtbar war. Ohne diese Spur hätten wir geglaubt, dass uns unsere Phantasie dieses wilde, grausame Gesicht heraufbeschworen hatte. Wir fanden jedoch bald einen weiteren und schlagkräftigeren Beweis, dass geheime Kräfte um uns herum am Wirken waren. Das Fenster im Zimmer meines Vaters wurde am Morgen offen vorgefunden, seine Schränke und seine Kisten waren geplündert worden, und auf seiner Brust war ein zerrissenes Stück Papier befestigt, mit den Worten 'Das Zeichen der Vier' bekritzelt. Was dieser Satz bedeutete oder wer unser geheimer Besucher war, haben wir nie erfahren. Soweit wir es beurteilen können, war nichts vom Besitz meines Vaters gestohlen worden, obwohl alles gründlich durchsucht worden war. Mein Bruder und ich brachten dieses Ereignis natürlich mit seiner Furcht in Verbindung, die ihn sein ganzes Leben lang verfolgt hatte. Aber es ist dennoch ein vollkommenes Rätsel für uns."
Der kleine Mann hielt inne, um seine Wasserpfeife erneut anzuzünden und paffte einige Momente gedankenvoll. Wir hatten alle vertieft dagesessen und seiner außergewöhnlichen Erzählung gelauscht. Bei der kurzen Beschreibung über den Tod ihres Vaters wurde Miss Morstan totenbleich und für einen Moment dachte ich, sie würde ohnmächtig werden. Sie erholte sich jedoch, nachdem sie ein Glas Wasser trank, das ich vorsichtig für sie aus einer venezianischen Karaffe auf dem Beitisch einfüllte. Sherlock Holmes saß mit gefasstem Gesicht zurückgelehnt in seinem Stuhl, seine Lider verschlossen fast die Augen. Als ich zu ihm hinüberblickte, konnte ich kaum glauben, dass er sich heute noch bitterlich über das gewöhnliche Leben beklagt hatte. Hier zumindest war ein Problem, das seinen Scharfsinn auf das äußerste forderte. Mr. Thaddeus Sholto schaute jeden von uns mit offensichtlichem Stolz an und freute sich über den Effekt, den die Geschichte bei uns erzeugt hatte. Zwischen zwei Zügen aus seiner übergroßen Pfeife begann er fortzufahren.
"Mein Bruder und ich," sagte er, "waren sehr erregt über den Schatz, von dem mein Vater gesprochen hatte. Wochen und Monate gruben wir und versuchten uns in jedem Teil des Gartens, ohne aber seinen Verbleib zu entdecken. Es ärgerte uns zu wissen, dass er Versteck genau in dem Moment auf seinen Lippen hatte, als er starb. Wir konnten die Pracht der vermissten Reichtümer durch den Kranz beurteilen, den er herausgenommen hatte. Über diesen Kranz hatten mein Bruder Bartholomew und ich eine kleine Diskussion. Die Perlen waren augenscheinlich von großem Wert, und er war nicht willens, sich von ihnen zu trennen. Unter Freunden: mein Bruder hatte eine ähnliche Schwäche wie mein Vater. Er meinte auch, dass es Anlass zu Gerüchten geben und uns schließlich in Schwierigkeiten bringen könnte, wenn wir uns von dem Kranz trennen würden. Alles was ich tun konnte, war ihn zu überreden, mich Miss Morstan's Adresse herausfinden zu lassen und ihr eine einzelne Perle in regelmäßigen Abständen zuzusenden, damit sie wenigstens keine Not leiden müsste.
"Das war ein netter Gedanke," sagte unser Begleiter, "Sie sind sehr gutherzig".
Der kleine Mann machte eine geringschätzige Handbewegung. "Wir waren Ihre Treuhänder," sagte er. "Das war der Standpunkt, den ich dabei vertrat, obwohl Bruder Bartholomew es so nicht sehen wollte. Wir selbst hatten viel Geld. Ich wünschte kein weiteres mehr. Außerdem wäre es schlechter Stil gewesen, eine junge Dame so gemein zu behandeln. 'Le mauvais gout mene au crime.' Die Franzosen drücken dies sehr schön aus. Unser Meinungsunterschied über das Thema ging so weit, dass ich es für das beste hielt, ein eigenes Zimmer zu beziehen. Deshalb verließ ich Pondicherry Lodge und nahm den alten khitmutgar und Williams mit mir. Gestern aber erfuhr ich, dass etwas äußerst Wichtiges passiert ist. Der Schatz wurde entdeckt. Ich schrieb sofort an Miss Morstan, und es bleibt uns jetzt nur, nach Norwood zu fahren und unseren Anteil zu fordern. Ich habe gestern abend Bruder Bartholomew meine Ansicht dargelegt: wir werden deshalb erwartete, nicht aber willkommene Besucher sein".
Thaddeus Sholto stoppte und saß zuckend auf seiner luxuriösen Couch. Wir schwiegen alle, mit unseren Gedanken bei der neuen Entwicklung, die nun das mysteriöse Unternehmen genommen hatte. Holmes war der erste, der aufsprang.
"Das haben Sie gut gemacht, Sir, von Anfang bis Ende," sagte er. "Es ist möglich, dass wir uns revanchieren können, indem wir etwas Licht auf das werfen, was für Sie noch immer im Dunkeln liegt. Aber, wie Fräulein Morstan eben bemerkte, ist es spät, und wir sollten die Sache ohne Aufschub angehen."
Unser neuer Freund wickelte den Schlauch der Wasserpfeife bedachtsam auf, und holte hinter einem Vorhang einen sehr langen Mantel mit Verschlusskordeln, Astrakhan-Kragen und Manschetten hervor. Er knöpfte ihn trotz der nächtlichen Stunde fest zu und beendete sein Ankleiden mit dem Aufsetzen einer Kaninchenfell-Mütze, deren Klappen die Ohren bedeckten, so dass außer seinem spitzen Gesicht nichts von ihm zu sehen war. "Meine Gesundheit ist etwas angegriffen," bemerkte er, als er uns den Korridor entlang führte. "Ich bin gezwungen, mich wie ein Hypochonder zu benehmen."
Die Droschke erwartete uns draußen und unser Vorgehen war augenscheinlich vorher arrangiert worden. Der Fahrer startete sofort und fuhr ein schnelles Tempo. Thaddeus Sholto redete unablässig mit einer Stimme, die sich hoch über dem Rasseln der Räder erhob.
"Bartholomew ist ein kluger Kerl," sagte er. "Was glauben Sie, wie er den Ort des Schatzes herausgefunden hat? Er war zu der Überzeugung gelangt, dass er sich irgendwo drinnen befinden müsse. Daher berechnete er den gesamten Rauminhalt des Hauses und maß überall nach, damit nicht ein Zoll fehlte. So stellte er unter anderem fest, dass die Höhe des Gebäudes vierundsiebzig Fuß betrug, aber beim Zusammenzählen der Deckenhöhen aller Zimmer und bei Berücksichtigung der Zwischenräume, die er durch Bohrungen ermittelte, kam er in der Summe nicht über siebzig Fuß. Es fehlten vier Fuß in der Rechnung. Diese konnten sich nur im Dachgiebel befinden. Deshalb schlug er ein Loch in die Stroh- und Gipsdecke des höchsten Zimmers und dort endlich fand er eine kleine Dachstube, die versiegelt und niemandem bekannt gewesen war. In der Mitte stand, auf zwei Dachsparren ruhend, die Schatztruhe. Er ließ sie durch das Loch hinab, und dort lag sie. Er schätzt den Wert der Edelsteine auf nicht weniger als eine halbe Million Sterling."
Bei der Erwähnung dieser gigantischen Summe starrten wir einander mit aufgerissenen Augen an. Falls wir den Anspruch von Miss Morstan sichern konnten, würde aus einer bedürftigen Gouvernante die reichste Erbin in England. Sicher sollte sich ein loyaler Freund über eine solche Nachricht freuen; ich muss aber beschämt sagen, dass mich Selbstsucht packte und dass mir mein Herz so schwer wie Blei wurde. Ich stotterte einige Worte des Glückwunsches, ließ den Kopf hängen und war für das Gebrabbel unseres neuen Freundes taub. Er war eindeutig ein überzeugter Hypochonder und ich vernahm wie im Traum, dass er endlose Reihen von Symptomen hervorbrachte und mich über die Zusammensetzung und Wirkung verschiedener Quacksalbereien befragte, von denen er einige in seiner Ledertasche mit sich führte. Ich hoffe, dass er sich an keinen meiner Ratschläge erinnern kann, die ich ihm in jener Nacht gab. Holmes sagt, er hätte zufällig mitbekommen, wie ich vor der großen Gefahr der Einnahme von mehr als zwei Tropfen Rizinusöl warnte, während ich ihm Strychnin in großen Dosen als ein Beruhigungsmittel empfahl. Wie auch immer, ich war sichtlich erleichtert, als unsere Droschke mit einem Ruck anhielt, und der Kutscher hinuntersprang, um die Tür zu öffnen.
"Dies, Miss Morstan, ist Pondicherry Lodge," sagte Thaddeus Sholto, als er ihr beim Aussteigen half.
Die Tragödie von Pondicherry Lodge
Es war beinahe elf Uhr, als wir diesen letzten Punkt unseres nächtlichen Abenteuers erreichten. Wir hatten den klammen Nebel der großen Stadt hinter uns gelassen, und die Nacht war ganz angenehm. Ein warmer Wind blies aus Westen und schwere Wolken bewegten sich langsam über den Himmel; der Halbmond lugte gelegentlich durch die Wolkenlücken. Es war klar genug, um auf irgendeine Entfernung alles zu erkennen, aber Thaddeus Sholto nahm eine der Seitenlaternen der Kutsche herunter, um uns ein besseres Licht auf unserem Weg zu geben.
Pondicherry Lodge stand auf einem eigenen Grundstück und war rundum von einer sehr hohen Steinmauer umgeben, die überall mit Glassplittern besetzt war. Eine einzelne schmale eisenbeschlagene Tür bildete den einzigen Eingang. An diese klopfte unser Führer mit dem Tak-Tak eines Briefträgers.
"Wer ist dort?" rief eine schroffe Stimme aus den Innern.
"Ich bin's, McMurdo. Sie haben mich sicher am Klopfen erkannt."
Es kam eine nörgelige Stimme und man hörte das Klingeln und Klappern von Schlüsseln. Die Tür wurde weit zurückgeschwungen und ein kleiner Mann mit eingefallener Brust stand in der Öffnung. Das gelbe Licht seiner Laterne schien auf sein hervorgestrecktes Gesicht und seine blinzelnden misstrauischen Augen.
"Sie sind es, Mr. Thaddeus? Aber wer sind die anderen? Ich habe keinen Anweisungen über sie vom Herrn erhalten."
"Nein, McMurdo? Sie überraschen mich! Ich erzählte meinen Bruder gestern abend, dass ich einige Freunde mitbringen werde."
"Er ist heute nicht aus seinem Zimmer herausgekommen, Mr. Thaddeus. Und ich habe keine Anweisungen. Sie wissen selbst sehr gut, dass ich mich an die Regeln halten muss. Sie kann ich hereinlassen, aber Ihre Freunde müssen bleiben, wo sie sind."
Dies war ein unerwartetes Hindernis. Thaddeus Sholto sah ihn in einer perplexen und hilflosen Weise an. "Schlimm für Sie, McMurdo," sagte er. "Wenn ich für sie bürge, muss Ihnen das genügen. Hier ist auch eine junge Dame. Sie kann um diese Zeit nicht auf einer öffentlichen Straße warten."
"Es tut mir sehr leid, Mr. Thaddeus," sagte der Pförtner unerbitterlich, "Die Leute mögen Ihre Freunde sein, aber nicht die Freunde des Herrn. Ich werde für meine Pflichten gut bezahlt und ich tue meine Pflicht. Ich kenne keinen Ihrer Freunde."
"Aber sicher kennen Sie jemanden, McMurdo," rief Sherlock Holmes erfreut, "Ich glaube nicht, dass Sie mich vergessen haben. Erinnern Sie sich nicht an den Amateur, der drei Runden mit Ihnen bei Alison's kämpfte, etwa vor vier Jahren?"
"Nein wirklich, Mr. Sherlock Holmes," brüllte der Preisboxer. "Bei Gott! Wie konnte ich Sie nicht erkennen? Wenn Sie dort nicht so ruhig stünden und mir statt dessen ein Paar Ihrer Schwinger unter das Kinn gäben, hatte ich Sie ohne Frage erkannt. Oh, Sie sind jemand, der seine Künste verschwendet! Sie wären weit gekommen, wenn Sie weitergemacht hätten."
"Sehen Sie, Watson, wenn alle Künste versagen, steht mir immer noch einer der wissenschaftlichen Berufe offen," sagte Holmes lachend. "Unser Freund wird uns nun nicht in der Kälte stehen lassen, da bin ich sicher."
"Kommen Sie herein! Herein mit Ihnen, Sir! Sie und Ihre Freunde," antwortete er. "Entschuldigen Sie, Mr. Thaddeus, aber die Anweisungen sind sehr streng. Ich muss mir über Ihre Freunde Sicherheit verschaffen, bevor ich sie hereinlassen kann."
Im Innern wand sich ein Kieselsteinweg durch die triste Umgebung und führte zu einem mächtigen, quadratischen Haus, das, bis auf einen Mondstrahl, der sich ein einem Dachfenster spiegelte, in Schatten gehüllt war. Die gewaltige Größe des Gebäudes, seine Düsternis und seine tödlichen Stille, erzeugten eine Kälte im Herzen. Auch Thaddeus Sholto schien leicht bedrückt und die Laterne zitterte und klapperte in seiner Hand.
"Ich kann es nicht verstehen," sagte er. "Es muss irgendeinen Irrtum geben. Ich erzählte Bartholomew ausdrücklich, dass wir hier sein werden, und doch gibt es kein Licht in seinem Fenster. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll."
"Beschützt er die Räumlichkeiten immer auf diese Art?" fragte Holmes.
"Ja; er ist der Sitte meines Vaters gefolgt. Er war der Lieblingssohn, wie Sie wissen, und ich glaube manchmal, dass mein Vater ihm vielleicht mehr erzählt hat, als er mir je erzählte. Das ist Bartholomews Fenster, dort wo der Mondschein hinfällt. Es ist ganz hell, aber es gibt im Innern kein Licht, denke ich".
"Nichts," sagte Holmes. "Aber ich sehe den Schimmer eines Lichtes in dem kleinen Fenster neben der Tür."
"Ah, das ist das Zimmer der Haushälterin. Dort sitzt die alte Frau Bernstone. Sie kann uns davon erzählen. Aber vielleicht würde es Ihnen nichts ausmachen, hier ein oder zwei Minuten zu warten. Denn sie ist nicht über unser Kommen informiert, und ist vielleicht beunruhigt, wenn wir alle zusammen hineingehen. Aber ruhig! was ist das?"
Er hielt die Laterne hoch und bewegte sie in seiner Hand, bis die Lichtkreise flackerten und um uns herumtanzten. Miss Morstan packte mein Handgelenk und wir standen alle mit pochendem Herzen und gespitzten Ohren. Aus dem großen schwarzen Haus drang das schrille, traurige Winseln einer verängstigten Frau in die Stille der Nacht hinaus.
"Es ist Mrs. Bernstone," sagte Sholto. "Sie ist die einzige Frau im Haus. Warten Sie hier. Ich werde gleich zurück sein. Er eilte zur Tür und klopfte auf seine eigentümliche Art. Wir konnten eine große alte Frau auf ihn zugehen sehen, die sich vergnügt wiegte, als sie ihn erkannte.
"Oh, Mr. Thaddeus, Sir, ich bin so froh, dass Sie gekommen sind! Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind, Mr. Thaddeus, Sir!" Wir hörten sie wiederholt jubeln, bis die Tür geschlossen wurde und ihre Stimme in einem gedämpften monotonen Klang erstarb.
Unser Führer hatte uns die Laterne belassen. Holmes schwang sie langsam in die Runde und spähte scharf zum Haus und auf die großen Abfallhaufen, die im Hof lagen. Fräulein Morstan und ich standen zusammen, und ihre Hand war in meiner. Liebe ist eine wunderbare, feine Sache, denn hier standen wir zwei, die sich vor diesem Tag noch nie gesehen hatten, zwischen denen kein Wort oder kein Blick über die gegenseitige Zuneigung je ausgetauscht worden war, und doch suchten sich unsere Hände instinktiv in der Stunde der Schwierigkeiten. Ich habe mich später darüber gewundert, aber zu diesem Zeitpunkt schien es die natürlichste Sache der Welt zu sein, dass ich mich ihr näherte. Und wie sie mir später oft erzählte, wandte auch sie sich instinktiv auf der Suche nach Schutz und Beruhigung an mich. So standen wir Hand in Hand wie zwei Kinder und es herrschte Frieden in unseren Herzen trotz all der dunklen Sachen, die uns umgaben.
"Was für ein seltsamer Ort!" sagte sie und sah sich um.
"Es sieht so aus, als ob alle Maulwürfe Englands hier losgelassen worden wären. Ich habe etwas derartiges bei einem Hügel nahe Ballarat gesehen, wo die Schürfer bei der Arbeit gewesen waren."
"Und aus dem gleichen Grund," sagte Holmes. "Dies sind die Spuren der Schatzsucher. Sie müssen daran denken, dass sie sechs Jahre gesucht haben. Kein Wunder, dass das Grundstück wie eine Kiesgrube aussieht."
In diesem Moment sprang die Tür des Hauses auf und Thaddeus Sholto kam vorgestreckten Händen heraus gerannt, in seinen Augen stand der blanke Schrecken.
"Es ist etwas Schreckliches mit Bartholomew passiert!", rief er. "Ich habe Angst! Meine Nerven halten das nicht aus!" Er zitterte wirklich vor Angst und sein zuckendes schwaches Gesicht hatte den Ausdruck eines hilflosen Kindes, wie es aus dem großen Astrakhankragen herauslugte.
"Kommen Sie ins Haus", sagte Holmes auf seine trockene, bestimmende Art.
"Ja bitte," bat Thaddeus Sholto. "Ich bin wirklich nicht in der Lage, Anweisungen zu geben."
Wir alle folgte ihm ins Zimmer der Haushälterin, das sich auf der linken Seite des Flures befand. Die alte Frau ging auf und ab und hatte einen ängstlichen Blick und unruhig zuckende Finger. Aber der Anblick von Fräulein Morstan schien eine besänftigende Wirkung auf sie auszuüben.
"Gott segne Ihr liebes, ruhiges Gesicht!" rief sie mit einem hysterischen Schluchzer. "Es tut mir gut, Sie zu sehen. Ach, aber ich bin heute stark geprüft worden!"
Unser Begleiter tätschelte ihre dünne, abgearbeitete Hand, und murmelte einige Worte von weiblicher Bequemlichkeit, die sofort Farbe in die blutleeren Wangen der Frau zurückbrachten.
"Der Herr hat sich eingesperrt und antwortet mir nicht," erklärte sie. "Den ganzen Tag habe ich auf ein Zeichen von ihm gewartet. Denn oft liebt er das Alleinsein. Doch vor einer Stunde fürchtete ich, dass irgend etwas nicht stimmte. So ging ich hinaus und schaute durch das Schlüsselloch. Mr. Thaddeus, sie müssen hinauf -- sie müssen hinaus und selbst schauen. Ich habe Herrn Bartholomew mehr als zehn Jahre lang in Freude und in Kummer gesehen, aber ich sah ihn noch niemals mit einem derartigen Gesicht."
Sherlock Holmes nahm die Lampe und zeigte uns den Weg, denn Thaddeus Sholto's Zähne klapperten. Er war so am Zittern, dass ich meine Hand unter seinen Arm legen musste als wir die Treppen hinaufstiegen, auch seine Knie zitterten. Während wir hinaufstiegen, holte Holmes zweimal seine Lupe aus der Tasche und inspizierte einige Stellen, die mir wie bloße formlose Flecken von Staub auf der kakaobraunen Matte erschienen, die als Teppich auf den Stufen lag. Er ging langsam, Schritt für Schritt, hielt dabei die Lampe und schoss scharfe Blicke nach links und rechts. Miss Morstan war mit der ängstlichen Haushälterin zurückgeblieben.
Die dritte Treppenflucht endete in einem geraden, langen Korridor mit einem großen indischen Bild zur Rechten und drei Türen auf der linken Seite. Holmes bewegte sich in der gleichen langsamen und methodischen Art vorwärts und wir hefteten uns an seine Fersen, wobei unsere langen Schatten in den Korridor zurückgeworfen wurden. Es war die dritte Tür, die wir suchten. Holmes klopfte, ohne eine Antwort zu erhalten, und versuchte dann, den Griff mit Gewalt zu drehen, um die Tür zu öffnen. Sie war jedoch von innen durch einen großen, schweren Bolzen verschlossen, wie wir sahen, als wir unsere Lampe dagegen hielten. Obwohl der Schlüssel umgedreht war, war das Loch nicht vollständig verschlossen. Sherlock Holmes bückte sich hinunter, und richtete sich sofort mit einem starken Atemzug wieder auf.
Hier ist etwas teuflisches drin, Watson," sagte er, bewegter als ich ihn jemals gesehen hatte. "Was halten Sie davon?"
Ich beugte mich zum Schlüsselloch und stieß in Horror zurück. Das Mondlicht strömte ins Zimmer und es war mit einer spärlichen Helligkeit erfüllt. Mich sah ein Gesicht direkt an, es hing frei in der Luft, denn darunter war nur Schatten. Es war das gleiche Gesicht wie das unseres Begleiters Thaddeus. Der gleiche hohe Kopf mit dem glänzenden Schädel, der gleiche ringförmige Kranz aus roten Haarbüscheln, der gleiche blutleere Gesichtsausdruck. Alles war gleich, bis auf das schreckliche, unnatürliche Grinsen, das im stillen und mondbeschienenen Zimmer mehr berührte als ein finsterer Blick oder eine Grimasse. So sehr ähnelte das Gesicht unserem kleinen Freund, dass ich mich umsah um sicher zu sein, dass er tatsächlich bei uns war. Dann brachte ich mir in Erinnerung, dass er uns gegenüber erwähnt hatte, dass sein Bruder und er Zwillinge waren.
"Das ist schrecklich!" sagte ich zu Holmes, "Was wollen wir tun?"
"Die Tür muss geöffnet werden", antwortete er und sprang dagegen. Er setzte all sein Gewicht gegen das Schloss. Es knarrte und stöhnte, aber gab nicht nach. Gemeinsam schleuderten wir uns noch einmal dagegen und diesmal gab sie mit einem abrupten Schnapplaut nach. Wir befanden uns in Bartholonew Sholto's Zimmer.
Es war wie ein chemisches Laboratorium eingerichtet. Eine doppelte Reihe von Flaschen mit Glasstöpseln befand sich an der Wand gegenüber der Tür und der Tisch war mit Bunsenbrennern, Schläuchen und Retorten übersät. In den Ecken standen Glasballons mit Säure in Weidenkörben. Einer von ihnen schien undicht oder zerbrochen zu sein, ein Strom dunkelfarbiger Flüssigkeit war herausgerieselt und die Luft war von einem stechenden, teerähnlichen Geruch geschwängert. Eine Trittleiter stand an der einen Seite des Zimmers inmitten von Abfall aus Gips und Holzlatten. Darüber befand sich ein Loch in der Decke, groß genug für einen Menschen zum Hindurchkriechen. Am Fuß der Leiter lag eine Seilrolle nachlässig zusammengelegt herum.
Dicht beim Tisch saß der Herr des Hauses in einem hölzernen Lehnstuhl. Sein Kopf war auf die linke Schulter gesunken und er hatte immer noch dieses grässliche, unergründliche Lächeln auf seinem Gesicht. Er war steif und kalt und eindeutig schon mehrere Stunden tot. Mir schien, dass nicht nur sein Gesichtsausdruck, sondern alle Glieder gedreht und und in einer sehr seltsamen Art arrangiert worden wären. Neben seiner Hand lag ein besonderes Instrument auf dem Tisch -- ein brauner, eng gemaserter Stock mit einem steinernen Kopf ähnlich einem Hammer und mit grobem Bindfaden angebunden. Daneben lag ein zerrissener Notizzettel mit einigen Worten darauf hingekritzelt. Holm blickte darauf und gab es mir dann.
" Sehen Sie," sagte er mit einem bedeutungsvollen Heben der Augenbrauen.
Im Licht der Laterne las ich mit einem leichten Gruseln "Das Zeichen der Vier"
"In Gottes Namen, was bedeutet dies alles?" fragte ich.
"Es bedeutet Mord," sagte er und beugte sich über den toten Mann. "Ah, ich habe es erwartet. Sehen Sie hier!" Er zeigte auf etwas, das wie ein langer, dunkler Dorn aussah und in der Haut über dem Ohr steckte.
"Es sieht wie ein Dorn aus," sagte ich.
"Es ist ein Dorn. Sie können ihn herausnehmen. Aber seien Sie vorsichtig, er ist vergiftet."
Ich nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Er ließ sich so leicht aus der Haut herausziehen, dass kaum ein Anzeichen zurückblieb. Ein winziger Blutfleck zeigte, wo das Loch gewesen war.
"Dies ist für mich ein unlösbares Rätsel", sagte ich. "Es wird immer undurchsichtiger statt klarer."
"Ganz im Gegenteil," antwortete er, "es klärt sich jeden Moment auf. Ich benötige nur noch ein paar fehlende Verbindungen um einen völlig gelösten Fall zu bekommen."
Seit wir den Raum betreten hatten, hatten wir fast die Gegenwart unseres Begleiters vergessen. Er stand immer noch im Türrahmen und war schrecklich anzusehen. Er wrang seine Hände und stöhnte in sich hinein. Plötzlich brach er in einen scharfen, mürrischen Schrei aus.
"Der Schatz ist fort!" sagte er, "Sie haben ihm den Schatz gestohlen. Dort ist das Loch, wo er ihn hinabgelassen hat. Ich half ihm, es zu tun! Ich war der letzte, der ihn gesehen hat! Ich habe ihn hier letzte Nacht allein gelassen und ich hörte, wie er die Tür verschloss, als ich die Treppe hinabstieg."
"Um welche Uhrzeit war das?"
"Es war zehn Uhr. Und nun ist er tot und die Polizei wird verständigt werden. Und sie werden mich verdächtigten, Hand an ihn gelegt zu haben. Oh ja, man wird mich verdächtigen. Aber Sie glauben es doch nicht, Gentlemen? Sicher glauben Sie nicht, dass ich es war? Falls ich es war, hätte ich Sie vermutlich nicht hierher gebracht. O Gott! O Gott! I glaube, ich werde verrückt!" Er ruckte mit seinen Armen und stampfte mit den Füßen in krampfhaft wilder Erregung.
"Sie haben keinen Grund Angst zu haben, Mr. Sholto," sagte Holmes freundlich und legte ihn seine Hand auf die Schulter. "Nehmen Sie meinen Rat und fahren Sie zum Bahnhof und berichten Sie diesen Vorfall. Bieten Sie jede Art von Hilfe an. Wir warten hier auf Ihre Rückkehr."
Der kleine Mann gehorchte mit verblüfftem Gesicht und wir hörten ihn die Stufen in die Dunkelheit hinaus stolpern.
Sherlock Holmes' Demonstration
" Jetzt, Watson," sagte Holmes und rieb seine Hände, "haben wir noch eine halbe Stunde für uns. Wir wollen sie gut nutzen. Wie ich schon sagte, ist mein Fall fast vollständig gelöst, aber wir dürfen uns nicht irren, wenn wir so zuversichtlich sind. So einfach wie der Fall jetzt scheint, kann ihm noch etwas tieferes zugrunde liegen".
"Natürlich!" stieß ich hervor.
"Bestimmt," sagte er mit der Stimme eines Universitätsprofessors, der seine Studenten belehrt. "Setzen Sie sich dort in die Ecke, damit ihre Fußabdrücke die Sache nicht noch komplizieren. Nun zur Arbeit! Zuallererst, wie kamen die Leute herein und wie sind sie verschwunden? Die Tür wurde seit gestern Nacht nicht geöffnet. Wie sieht es mit dem Fenster aus?" Er brachte die Laterne dort hin und murmelte seine Beobachtungen vor sich hin; er sprach dabei aber mehr mit sich selbst als zu mir. "Das Fenster ist an der Innenseite eingehakt. Der Rahmen ist solide. Keine Scharniere an der Seite. Öffnen wir es! Kein Regenrohr in der Nähe. Das Dach ist unerreichbar. Und doch ist jemand über das Fenster gekommen. Es hat letzte Nacht ein wenig geregnet. Hier ist ein Fußabdruck im Schimmel der Fensterbank. Und hier ist auch ein runder Schmutzfleck, und hier auf dem Fußboden ebenfalls, und auch hier neben dem Tisch. Sehen Sie Watson. Das ist eine schöne Demonstration."
Ich sah mir die kreisrunden Schmutzflecken an. "Das ist kein Fußabdruck," sagte ich.
"Für uns ist es etwas viel wertvolleres. Es ist der Abdruck eines hölzernen Stumpfes. Sehen Sie hier auf der Fensterbank, da ist ein Stiefelabdruck von einem schweren Stiefel mit einer breiten Metallferse; und daneben ist der Fleck des Stockabdrucks."
"Es ist der Mann mit dem Holzbein."
"Genauso ist es. Aber da war noch jemand, ein sehr fähiger und tüchtiger Verbündeter. Könnte man die Mauer erklimmen, Doktor?"
"Vollkommen unmöglich", antwortete ich.
"Ohne Hilfe sicherlich. Aber nehmen wir einmal an, dass Sie einen Freund hätten, der dieses starke Seil dort in der Ecke herabließ und das eine Ende an diesem großen Haken in der Mauer sicherte. Wenn Sie ein agiler Mann wären, dann glaube ich, dass sie trotz Holzbein hinaufkommen könnten. Hinunter würden Sie natürlich auf die gleiche Art gelangen. Und ihr Gehilfe würde das Seil heraufziehen, es vom Haken lösen, dass Fenster schließen und wieder von innen einhaken und dann den Ort genauso verlassen wie er vorher gekommen war. Einen kleinen Punkt muss ich noch anmerken," fuhr er fort und spielte mit dem Seil, "unser holzbeiniger Freund ist zwar ein guter Bergsteiger, aber kein richtiger Seemann. Seine Hände hatten zuwenig Schwielen. Meine Lupe zeigt mir mehr als einen Blutfleck, besonders am Ende des Seils. Daraus folgere ich, das er so schnell herunterrutschte, das sich die Haut von seinen Händen löste."
"Das ist alles schön und gut," sagte ich, "aber die Sache wird dadurch unverständlicher wie je zuvor. Was ist mit diesem mysteriösen Verbündeten? Wie kam er ins Zimmer?"
"Ja, der Verbündete!" wiederholte Holmes nachdenklich. Es gibt interessante Merkmale über diesen Verbündeten. Er macht aus einem gewöhnlichen Kriminalfall einen ungewöhnlichen. Ich denke, damit wird ein neues Kapitel in der Verbrechensgeschichte dieses Landes geschrieben -- obwohl man ähnliche Fälle aus Indien, und wenn ich mich nicht irre, auch aus Senegambia (*Zusammensetzung aus Senegal und Gambia, zur Zeit der Erzählung eine britische Kolonie*) kennt."
"Wie aber kam er hinein," wiederholte ich. "Die Tür war verschlossen und das Fenster unzugänglich. Kam er durch den Schornstein?"
"Der Kamin ist viel zu klein," antwortete er. "Ich hatte diese Möglichkeit auch schon in Betracht gezogen."
"Wie dann?" beharrte ich.
"Sie wollen meine Lehre nicht annehmen," sagte er und schüttelte den Kopf. "Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass wenn man das Unmögliche ausschließt, ist das Verbleibende die Wahrheit, egal wie unwahrscheinlich es ist. Wir wissen, dass er nicht durch die Tür, das Fenster oder den Schornstein kam. Wir wissen auch, dass er nicht im Zimmer verborgen war, da dort kein Verstecken möglich war. Woher kam er dann also?"
"Er kam durch das Loch in der Decke," rief ich.
"Natürlich muss er es so gemacht haben. Wenn Sie bitte die Lampe für mich halten würden. Wir werden jetzt unsere Untersuchungen im oberen Zimmer fortsetzen -- im geheimen Zimmer, in dem der Schatz gefunden wurde."
Er bestieg die Trittleiter, packte den Dachsparren mit einer Hand und schwang sich in die Dachstube hinauf. Er legte sich flach hin, langte nach der Lampe und hielt sie, während ich ihm nachfolgte.
Die Kammer, in der wir uns befanden, maß etwa zehn Fuß in der einen und sechs Fuß in der anderen Richtung. Den Boden bildeten die Dachsparren, mit einem dünnen Stroh- und Gipsgemisch dazwischen. Um darauf zu gehen, musste man von einem Balken auf den anderen treten. Die Wände liefen schräg zu und waren anscheinend vom richtigen Dach durch einen Zwischenraum getrennt. Es gab keinerlei Möbel, und der Staub vieler Jahre lag auf dem Boden.
"Hier sind wir nun," sagte Sherlock Holmes und legte die Hand an die schräge Wand. Hier ist eine Falltür, die auf das Dach hinausführt. Ich kann sie aufdrücken und dort erst ist die Dachschräge. Dies ist der Weg, über den Nummer Eins gekommen ist. Wir wollen sehen, ob wir andere Spuren seiner Identität finden."
Er führte die Lampe zum Boden und ich bemerkte dabei heute schon zum zweitenmal, dass ein erschrockener, überraschter Ausdruck sein Gesicht überzog. Als ich seinem Blick folgte, schauerte es mich unter meiner Kleidung. Der Fußboden war mit Abdrücken eines nackten Fußes übersät -- deutlich und wohlgeformt, aber knapp halb so groß wie der Abdruck eines normalen Menschen.
"Holmes," flüsterte ich, "ein Kind hat diese Greueltat begangen."
Er hatte seine Selbstbeherrschung augenblicklich wiedergefunden. "Ich war einen Moment unsicher," sagte er, "aber die Sache ist ganz einfach. Wenn mich mein Gedächtnis nicht für einen Moment verlassen hätte, hätte ich es vorausgesagt. Hier können wir nichts mehr in Erfahrung bringen. Gehen wir wieder hinab."
"Welche Theorie haben sie denn nun über die Fußabdrücke?" fragte ich neugierig, als wir in das untere Zimmer zurückkamen.
"Lieber Dr. Watson, versuchen Sie diese kleine Analyse selbst," sagte er in ungeduldigem Ton. "Sie kennen meine Methoden. Wenden Sie sie an, dann ist es lehrreich, die Ergebnisse zu vergleichen."
"Mir fällt nichts ein, das alle Tatsachen umfasst," antwortete ich.
"Es wird Ihnen schnell klar werden," sagte er lässig. "Hier gibt es sonst nichts Wichtiges mehr, aber wir wollen einmal sehen." Er zog seine Lupe und ein Zentimetermaß heraus und krabbelte auf Knien im Raum herum, dabei alles messend, vergleichend und untersuchend. Seine große Nase war nur wenige Zoll von den Bodenbrettern entfernt und seine tiefen, wachen Augen glänzten wie die eines Vogels. Seine flinken, geräuschlosen und geheimnisvollen Bewegungen ähnelten einem Bluthund, der eine Fährte aufgenommen hatte. Ich kam nicht umhin daran zu denken, welch schrecklicher und gefährlicher Verbrecher er mit seiner Energie und seinem Scharfsinn hätte werden können, wenn er nicht für, sondern gegen das Gesetz arbeiten würde. Beim Herumschnüffeln murmelte er weiter vor sich hin und brach plötzlich in ein schallendes Gelächter aus.
"Wir haben wirklich Glück," sagte er. "Wir sollten jetzt kaum noch Probleme haben. Nummer Eins hatte das Pech, in Kreosot (*Gemisch aus Kresolen und Guajakol sowie anderen Phenolen, früher zur Hemmung der Bronchialsekretion verwendet*) zu treten. Hier sieht man den Umriss seinen kleines Fußes am Rand dieser übelriechende Masse. Der Glasbehälter ist gesprungen und das Zeug ist hier herausgelaufen."
"Und nun?", fragte ich.
"Nun haben wir ihn, das ist alles," sagte er. Ich kenne einen Hund, der diesem Geruch bis an das Ende der Welt folgen würde. Wenn eine Meute einem über den Boden einer Grafschaft geschleiften Hering nachspüren kann, wie weit kann dann ein speziell geschulter Hund einem derart stechenden Geruch folgen? So sicher wie Eins und Eins Zwei ergibt. Die Antwort wird uns-- aber hallo! Hier sind die Hüter des Gesetzes."
Schwere Schritte und lauter Stimmenlärm waren unten zu hören. Die Korridortür schlug mit einem lauten Krach zu.
"Bevor sie hier sind," sagte Holmes, "legen Sie ihre Hand genau hier auf den Arm dieses armen Kerls, und auch hier auf sein Bein. Was fühlen Sie?"
"Die Muskeln sind hart wie ein Brett," antwortete ich.
"So ist es. Sie haben sich extrem zusammengezogen, viel stärker als beim normalen ' rigor mortis' (*Totenstarre*). Nimmt man die Gesichtsverzerrungen hinzu, dieses hippokratische Lächeln, auch 'risus sardonicus' in den alten Schriften genannt, welche Schlussfolgerung würden Sie ziehen?"
"Tod durch ein stark wirkendes pflanzliches Alkaloid," antwortete ich, "eine dem Strychnin ähnliche Substanz, die die Starre erzeugen könnte."
"Genau diese Idee kam mir in dem Moment, als ich die angespannten Muskel im Gesicht sah. Als ich ins Zimmer kam, habe ich sofort nach der Methode gesucht, mit der man das Gift in den Körper bringen könnte. Wie sie wissen, entdeckte ich einen Dorn, der mit wenig Kraft in die Kopfhaut gedrückt oder geschossen wurde. Und Sie haben sicher bemerkt, dass die getroffene Stelle genau zum Loch in der Decke zeigte, als der Mann noch aufrecht in seinem Stuhl saß. Und nun sehen Sie sich den Dorn an."
Ich nahm ihn vorsichtig auf und hielt ihn in das Licht der Laterne. Er war lang, scharf und schwarz, mit einem glasigen Aussehen in der Nähe der Spitze, als ob irgendeine gummiartige Substanz auf ihm angetrocknet war. Das stumpfe Ende war bearbeitet und mit einem Messer abgerundet worden.
"Ist dies ein Dorn, den man in England findet?" fragte er.
"Nein, gewiss nicht."
"Mit all diesen Fakten sollten Sie in der Lage sein, Ihre Schlussfolgerungen zu ziehen. Doch hier kommen die Berufssoldaten, und die Hilfstruppen sollten sich zurückziehen."
Während seiner Rede wurden die Schritte der Herankommenden im Gang lauter und ein sehr korpulenter, untersetzter Mann in einem grauen Anzug schritt ins Zimmer. Er hatte ein rötliches, dickes Gesicht und sehr kleine, blitzende Augen, die scharf aus den geschwollenen und aufgedunsenen Wangen stachen. Dicht hinter ihm trat ein uniformierter Inspektor ein, gefolgt vom immer noch heftig zuckenden Thaddeus Sholto.
"Hier gibt's Arbeit," rief er mit einer dumpfen, heiseren Stimme. "Hier gibt's gewaltig Arbeit! Und wer sind die hier? Dies Haus scheint ein Karnickelstall zu sein!"
"Sicherlich können Sie sich an mich erinnern, Mr. Athelney Jones," sagte Holmes ruhig.
"Natürlich kann ich das," sagte er mit zischendem Tonfall. "Sie sind Sherlock Holmes, der Theoretiker. Denken Sie, ich habe ihre Vorlesung über all die Schlussfolgerungen und Ursachen und Wirkungen im Bishop Juwelenraubfall vergessen? Sie haben uns wohl auf die richtige Spur gesetzt, aber Sie müssen zugeben, dass es mehr Glück als Verstand war."
"Es war nur einfaches logisches Denken."
"Ach, kommen Sie! Jetzt, kommen Sie! Schämen Sie sich nicht, es zuzugeben. Aber was ist hier los? Böse Sache! Sehr böse Sache! Eindeutige Tatsachen -- kein Platz für Theorien. Welch ein Glück, dass ich gerade wegen eines anderen Falls in Norwood war! Ich war am Bahnhof als ich die Nachricht erhielt. Was glauben Sie, woran der Mann starb?"
"Oh, hierüber kann ich wohl nicht theoretisieren," sagte Holmes trocken.
"Nein. Aber wir können nicht leugnen, dass Sie manchmal den Nagel auf den Kopf treffen. Aha, die Tür war verschlossen, wie ich sehe. Es fehlen Juwelen für ein halbe Million. Was war mit dem Fenster?"
"Geschlossen, aber es gibt Fußspuren auf dem Fensterbrett."
"Gut, gut, wenn es gesichert war, können die Abdrücke nichts mit dem Fall zu tun haben. Das sagt mir der gesunde Menschenverstand. Der Mann könnte an einem Anfall gestorben sein, aber es fehlen ja die Juwelen. Ha! Ich habe eine Theorie. Manchmal überkommen mich solche Gedankenblitze. -- Sergeant, und Sie Mr. Sholto, gehen Sie bitte hinaus. Die anderen können bleiben. -- Was denken Sie, Mr. Holmes? Sholto war nach eigener Aussage gestern bei seinem Bruder. Der Bruder hatte einen Schlaganfall, daraufhin verschwand Sholto mit dem Schatz. Wie gefällt Ihnen das?"
"Woraufhin der Tote voller Rücksichtnahme aufstand und die Tür von innen verschloss."
"Hm! Da stimmt was nicht. Versuchen wir es mit gesundem Menschenverstand. Dieser Thaddeus Sholto war bei seinem Bruder; es war ein Streit zwischen ihnen; soviel wissen wir. Der Bruder ist tot und die Edelsteine sind fort. Soviel wissen wir ebenfalls. Niemand sah den Bruder, nachdem Thaddeus fortgegangen war. Er schlief nicht in seinem Bett. Augenscheinlich ist Thaddeus sehr verstört. Er sieht -- naja, er sieht nicht gerade ansprechend aus. Sie sehen, wie ich mein Netz um Thaddeus herumwebe. Das Netz zieht sich über ihm zusammen."
"Sie kennen noch nicht alle Tatsachen," sagte Holmes. "Dieser Holzsplitter, von dem ich annehme, dass er vergiftet ist, steckte in der Kopfhaut des Mannes. Sie können immer noch die Stelle erkennen. Und dieses beschriftete Papier lag auf dem Tisch, daneben lag dieses seltsame Instrument mit dem steinernen Kopf. Wie passt das alles zu Ihrer Theorie?"
"Bestätigt mich in allen Dingen," sagte der fette Detektiv wichtigtuerisch. "Das Haus ist voll von indischen Kuriositäten. So sagte Thaddeus. Und falls der Splitter giftig war, wurde er wohl eher von Thaddeus als von einem anderen Mann benutzt. Das Papier ist irgendein Hokuspokus -- zur Tarnung. Die Frage ist nur, wie kam er heraus? Oh, hier ist ja ein Loch in der Decke." Mit einer für seine Größe erstaunlichen Geschwindigkeit stieg er auf die Stufen und quetsche sich in die Dachstube. Kurz danach hörte man ihn fröhlich rufen, dass er die Falltür gefunden hatte.
"Lassen wir ihn finden," bemerkte Holmes mit einem Schulterzucken. "Gelegentlich hat er vernünftige Einfälle. Il n'y a pas des soit si incommodes que ceux qui ont de l'esprit!"
"Sehen Sie," sagte Athelny Jones und erschien wieder auf den Stufen. "Tatsachen sind immer besser als bloße Theorien. Meine Sicht des Falls ist bestätigt. Es gibt eine Falltür, die zum Dach führt, und sie steht halb offen."
"Ich habe sie geöffnet."
"Oh, haben Sie sie auch bemerkt?" Mit dieser Entdeckung wirkte er ein wenig geknickt. "Egal, wer sie fand, hierüber ist unser Gentleman entkommen. Inspektor!"
""Ja, Sir," kam es aus dem Gang.
"Bitten Sie Mr. Sholto, hierher zu kommen. -- Mr. Sholto, es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, das alles was Sie jetzt sagen gegen Sie verwendet werden kann. Ich verhafte Sie im Namen der Königin, den Tod Ihres Bruders betreffend."
"Sehen Sie, habe ich es nicht gesagt," rief der arme kleine Mann, die Hände vorstreckend und von einem zum andern blickend.
"Sorgen Sie sich darüber nicht, Mr. Sholto," sagte Holmes. "Ich glaube dass ich Sie von dieser Beschuldigung befreien kann."
"Versprechen Sie nicht zuviel, Mr. Theoretiker -- versprechen Sie nicht zuviel!" schnappte der Detektiv zurück. "Es könnte Ihnen schwerer fallen, als Sie annehmen."
"Ich werde die Anklage nicht nur forträumen, Mr. Jones. Ich werde Ihnen außerdem als Geschenk den Namen und die Beschreibung einer der beiden Personen geben, die letzte Nacht im Zimmer waren. Ich habe viele Gründe anzunehmen, dass sein Name Jonathan Small ist. Er ist ein ungebildeter Mann, klein, lebhaft, das rechte Bein fehlt und er hat einen Holzfuß, der an der Innenseite aufgescheuert ist. Sein linker Stiefel hat eine grobe, kreuzgeriffelte Sohle mit einem Eisenband am Absatz. Er ist mittleren Alters, stark sonnengebräunt und war ein Sträfling. Diese wenigen Hinweise könnten ihnen helfen. Hinzu kommt die Tatsache, dass ein Großteil seiner Haut an der Handinnenfläche fehlt. Der andere Mann--"
"Was, der andere Mann--?" fragte Athelny Jones mit schnarrender Stimme. Er war von Holmes präziser Art der Beschreibung beeindruckt.
"Ist eine sehr seltsame Person," sagte Sherlock Holmes und drehte sich auf dem Absatz um. "Ich hoffe Ihnen das Paar bald vorstellen zu können. -- Auf ein Wort, Watson."
Er führte mich zum Treppenabsatz. "Durch diesen unerwarteten Auftritt haben wir leider das Ziel unserer Reise aus den Augen verloren."
"Ich habe ebenfalls daran gedacht," antwortete ich. "Miss Morstan sollte nicht in diesem leidgetroffenen Haus bleiben."
"Nein, Sie müssen Sie nach Hause begleiten. Sie wohnt bei Mrs. Cecil Forrester in Lower Camberwell: das ist nicht weit von hier. Ich warte hier auf Sie, bis Sie zurück sind. Oder sind Sie etwa zu müde?"
"Auf keinen Fall. Ich kann mich nicht ausruhen, bis ich mehr über dieses phantastische Ereignis erfahren habe. Ich habe schon einige schreckliche Dinge in meinem Leben erlebt, aber die heutige Abfolge von seltsamen Ereignissen hat meine Nerven ganz schön zerrüttet. Nachdem ich nun schon soweit gekommen bin, möchte ich die Sache mit Ihnen gemeinsam durchstehen.
"Ihre Mitarbeit ist mir sehr dienlich," antwortete er. "Wir sollten den Fall unabhängig voneinander bearbeiten. Dieser Jones kann weiter an seinen Märchengeschichten arbeiten. Wenn Sie Miss Morstan abgesetzt haben, möchte ich, dass sie zur Pinchin Lane Nummer 3 gehen, das ist dicht am Wasser in Lambeth. Das dritte Haus auf der rechten Seite gehört einem Vogelpräparator: er heißt Sherman. Im Fenster hängt ein Wiesel, das ein junges Kaninchen gefasst hat. Wecken Sie den alten Sherman auf und sagen Sie ihm, mit meinen Empfehlungen, dass ich Toby sofort brauche. Sie bringen Toby dann in der Droschke mit."
"Ein Hund, nehme ich an."
"Ja, -- eine eigenartige Promenadenmischung mit einer höchst erstaunlichen Fähigkeit im Fährtenlesen. Ich möchte lieber Toby's Hilfe, als die der gesamten Londoner Detektivtruppe."
"Nun, dann bringe ich ihn," sagte ich. "Jetzt ist es ein Uhr. Ich werde vor drei Uhr zurück sein, falls ich ein frisches Pferd finde."
"Und ich will sehen," sagte Holmes, "was ich von Mrs. Bernstone erfahren kann, und auch vom indischen Diener. Mr. Thaddeus sagte, er schliefe in der benachbarten Dachkammer. Dann werde ich die Methoden des großen Jones studieren und seinen nicht sehr delikaten Sarkasmen lauschen. 'Wir sind gewohnt, dass die Menschen verhöhnen was sie nicht verstehen.' Goethe ist immer inhaltsvoll."
Die Episode mit dem Fass
Die Polizisten waren in einer Droschke gekommen. In dieser brachte ich Miss Morstan nach Hause. Mit der engelhaften Geduld der Frauen hatte sie die Aufregung mit gleichmütigem Gesicht ertragen, solange es jemand anderen gab, der umsorgt werden musste. Ich fand sie wach und gelassen an der Seite der aufgeregten Haushälterin. In der Droschke jedoch war sie einer Ohnmacht nahe und fing hemmungslos zu weinen an -- so sehr war sie von den Abenteuern dieses Tages mitgenommen. Später erzählte sie mir, dass sie mich während der Fahrt als kalt und distanziert empfand. Sie konnte den Kampf in meinem Innersten nicht im geringsten erahnen, auch nicht das Bemühen um Selbstbeherrschung, das mich hemmte. Meine Sympathien und meine Liebe galten ihr, genau wie meine Hand vorher im Garten. Ich fühlte, dass auch Jahre des gemeinsamen Lebens mir ihre süße, tapfere Natur nicht näherbringen konnten, als dieser ereignisreichen Tag. Aber es gab zwei Überlegungen, die meine Lippen für zärtliche Worte versiegelten. Sie war schwach und hilflos, die Gedanken und Nerven in Aufruhr. Ihr meine Liebe zu so einem unpassenden Zeitpunkt aufzudrängen, hätte nachteilige Folgen gehabt. Und was noch schlimmer war, sie war reich. Wenn Holmes' Nachforschungen erfolgreich wären, würde sie eine reiche Erbin sein. Wäre es richtig und ehrenhaft, wenn ein Chirurg mit einer halben Stelle diesen Vorteil der Intimität ausgenutzt hätte, die sich zufällig ergeben hatte? Würde sie mich nicht als einen gewöhnlichen Glückssucher betrachten? Ich konnte es nicht riskieren, dass ihr solche Gedanken in den Sinn kamen. Der Agra-Schatz war wie ein unüberwindbares Hindernis zwischen uns aufgebaut.
Es war beinahe zwei Uhr, als wir das Haus von Mrs. Cecil Forrester erreichten. Die Bediensteten waren schon vor Stunden zu Bett gegangen. Mrs. Forrester jedoch war über die seltsame an Miss Morstan ergangene Nachricht derart neugierig worden, dass sie aufblieb, um ihre Rückkehr abzuwarten. Sie öffnete die Tür persönlich. Sie war eine elegante Frau mittleren Alters und ich freute mich über die Art, wie sie ihren Arm zärtlich um die Hüfte von Miss Morstar legte und wie mütterlich ihre Stimme bei der Begrüßung wurde. Sie war sicherlich keine einfache bezahlte Angestellte, mehr eine liebe Freundin. Man stellte mich vor, und Mrs. Forrester bat mich herein und forderte mich auf, unsere Abenteuer zu erzählen. Ich klärte sie über die Wichtigkeit meines Auftrages auf und versprach willig, ihr später jeden Fortschritt zur Aufklärung des Falles zu berichten. Als wir abfuhren, konnte ich einen Blick zurückwerfen und ich sah die kleine Gruppe auf den Stufen, zwei liebevoll umschlungene Figürchen, die halb geöffnete Tür, das Barometer, die hellen Treppenstufen und das durch farbiges Glas hindurchscheinende Korridorlicht. Dieser Blick auf eine stille englische Wohnung beruhigte mich in Anbetracht des wilden, dunklen Unternehmens, das uns aufzehrte.
Und je mehr ich über das nachdachte, was sich bisher ereignet hatte, desto wilder und dunkler wurde es. Ich überprüfte die seltsame Abfolge von Ereignissen, als wir durch die gasbeleuchteten Gassen klapperten. Der erste Teil des Problems war zumindest gelöst. Der Tod von Kapitän Morgan, die Perlensendung, die Anzeige, der Brief -- alle Ereignisse hatten wir beleuchtet. Aber alles hat uns nur noch zu tieferen und weit tragischeren Geheimnissen geführt. Der indische Schatz, der merkwürdige Lageplan aus Morstans Gepäck, die tragische Szene bei Major Sholtos Tod, die Wiederentdeckung des Schatzes gefolgt vom Tod des Entdeckers, die eigenartigen Begleiterscheinungen des Verbrechens, die Fußabdrücke, die ungewöhnliche Todeswaffe, die mit den Worten auf der Landkarte übereinstimmenden Worte auf dem Papier -- hier gab es wirklich ein Labyrinth, in dem jemand an der Endwirrung verzweifeln könnte, der mit weniger Fähigkeiten als mein Freund ausgestattet war.
Pinchin Lane bestand aus einer Reihe schäbiger zweistöckiger Backsteinhäuser im unteren Viertel von Lambeth. Ich musste einige Mal an der Hausnummer 3 klopfen, bis ich Gehör fand. Endlich sah ich den Schimmer einer Kerze hinter der Jalousie; und im oberen Fenster erschien ein Gesicht.
"Hauen Sie ab, Sie alter betrunkener Landstreicher," sagte das Gesicht. "Wenn Sie keine Ruhe geben, öffne ich die Hundezwinger und lasse dreiundvierzig Hunde auf sie los."
"Sie müssen nur den einen herauslassen, für den ich gekommen bin," sagte ich.
"Gehen Sie weiter," kreischte die Stimme. "Beim Barmherzigen, ich habe hier einen Totschläger, mit dem ich Ihnen eins überziehen werde, wenn Sie nicht abhauen."
"Aber ich will einen Hund," rief ich.
"Ich will kein Gerede!" rief Mr. Sherman. "Nehmen Sie sich in acht, wenn ich bis Drei gezählt habe, kriegen Sie eins drauf."
"Mr. Sherlock Holmes--" begann ich und meine Worte hatten eine magische Wirkung, denn das Fenster wurde sofort zugeschlagen und innerhalb einer Minute wurde die Tür entriegelt und geöffnet. Mr. Sherman war ein schlaksiger, magerer, alter Mann mit gebeugten Schultern, einem sehnigen Hals und einer blaugetönten Brille.
"Ein Freund von Mr. Sherlock ist mir immer willkommen," sagte er. "Treten Sie ein, Sir. Bleiben Sie vom Dachs weg, er beißt. Du Böser, du Böser, würdest du etwa einen Gentleman zwacken?" Letzteres sagte er zu einem Hermelin, der seinen boshaften Kopf mit roten Augen zwischen die Stangen seines Käfigs stieß. "Keine Sorge, Sir. Das ist nur ein lahmes Würmchen. Er hat keine Zähne mehr und ich kann ihn im Zimmer herumlaufen lassen, er frisst mir das Ungeziefer auf. Entschuldigung, dass ich vorhin so kurz angebunden war, aber Kinder hatten mir Streiche gespielt und es kommen viele vorbei, die mich herausklopfen wollen. Was wünscht Mr. Sherlock Holmes?"
"Er wollte einen Hund von Ihnen."
"Aha, dann ist es Toby."
"Ja, Toby war der Name."
"Toby lebt hier links in Nummer 7." Mit seiner Kerze bewegte er sich langsam durch die eigenartige Tierfamilie hindurch, die sich um ihn versammelt hatte. Aus jeder Ritze und Ecke sah ich im flackernden Lichtschein glänzende und schimmernde Augen, die auf uns starrten. Selbst die Dachsparren über unseren Köpfen waren von stillsitzendem Federvieh bevölkert, das träge sein Gewicht von einem Fuß zum anderen verlagerte, weil es durch unser Reden im Schlummer gestört worden war.
Toby erwies sich als ein hässliches, langhaariges, schlappohriges Tier, halb Spaniel und halb Spürhund (*engl: Lurcher*). Das Fell war braun-weiß gefärbt und er hatte einen sehr plumpen, watschelnden Gang. Nach einigem Zögern nahm er ein Stück Zucker an, das mir der alte Präparator gab. Nachdem wir so unser Bündnis besiegelt hatten, folgte er mir zur Droschke und machte mir keine weiteren Schwierigkeiten. Im Buckingham Palast schlug es gerade drei Uhr, als ich wieder in Pondicherry Lodge ankam. Der Ex-Boxer McMurdo war inzwischen als Komplize verhaftet worden. Er und Mr. Sholto waren zur Wache abmarschiert. Zwei Wachtmeister beschützten das schmale Tor, aber sie erlaubten mir, mit dem Hund vorbeizugehen, als ich den Namen des Detektivs nannte.
Holmes stand auf der Eingangsstufe und rauchte seine Pfeife, dabei hatte er beide Hände in den Taschen vergraben.
"Ah, da haben Sie ihn ja," sagte er. "Gutes Hundchen! Atheney Jones ist fort. Seit Sie gingen, haben wir uns mit einiger Vehemenz aneinander gerieben. Er hat nicht nur unseren Freund Thaddeus festgenommen, sondern auch den Pförtner, die Haushälterin und den indischen Diener. Mit Ausnahme eines Wachtmeisters im oberen Stockwerk haben wir diesen Ort nun für uns. Lassen Sie den Hund hier und kommen Sie mit hinauf."
Wir banden Toby an ein Tischbein und stiegen erneut die Treppe hinauf. Das Zimmer war genauso, wie es verlassen worden war. Nur ein Laken war über die Person geworfen worden, um die sich alles drehte. Ein müde aussehender Polizist hatte sich in eine Ecke zurückgezogen.
"Wachtmeister, sehen Sie her!" sagte mein Begleiter. "Und nun binden Sie dieses Stück Pappe um meinen Hals, so dass es vor mir hängt. Danke! Jetzt muss ich meine Stiefel und Strümpfe ausziehen. -- Nehmen Sie sie mit hinunter, Watson. Ich werde jetzt ein wenig klettern. Und tupfen Sie mein Taschentuch in das Kreosot. Das ist genug. Nun kommen Sie einen Moment mit in die Dachstube."
Wir kletterten durch das Loch hinauf. Holmes zeigt mit der Lampe erneut auf die Fußstapfen im Staub.
"Ich möchte, dass Sie sich diese Abdrücke genau einprägen," sagte er. "Finden Sie etwas Beachtenswertes daran?"
"Sie stammen von einer Frau oder einem Kind," sagte ich.
"Ich meinte es nicht wegen der Größe. Gibt es sonst nichts?"
"Sie sind beinahe ebenso, wie andere Fußabdrücke auch aussehen."
"Nicht exakt. Sehen Sie hierher! Dies ist der Abdruck eines rechten Fußes im Staub. Nun mache ich einen mit meinem nackten Fuß genau daneben. Was ist der Hauptunterschied?"
"Ihre Zehen stehen alle dicht zusammen. Der andere Abdruck zeigt jede Zehe einzeln."
"So ist es. Das ist der entscheidende Punkt. Merken Sie sich das. Würden Sie jetzt bitte dort zum Fenster gehen und am Holzrahmen riechen? Ich bleibe hier, denn ich habe das Taschentuch in der Hand."
Ich tat wie er mir befahl und bemerkte sofort einen starken Geruch nach Teer.
"Dorthin hat er seinen Fuß beim Hinausklettern gesetzt. Wenn Sie die Spur riechen, wird Toby keine Schwierigkeiten damit haben. Gehen Sie hinunter, lassen Sie den Hund frei und sehen Sie nach Blondin."
Während ich zum Erdgeschoß hinunterging, war Sherlock Holmes bereits auf dem Dach. Ich konnte ihn wie ein riesiges Glühwürmchen langsam am Dachfirst entlangklettern sehen. Hinter einer Reihe von Schornsteinen verlor ich ihn aus den Augen, dann erschien er plötzlich wieder und verschwand erneut auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich um das Haus herumging, saß er nahe einem Dachüberhang.
"Sind Sie es, Watson," rief er.
"Ja."
"Hier ist es. Was ist dort für ein schwarzer Gegenstand?"
"Eine Wassertonne."
"Mit Deckel?"
"Ja."
"Keine Leiter in der Nähe?"
"Nein."
"Verdammter Kerl! Ein halsbrecherischer Ort. Ich versuche dort herunterzukommen, wo er hinaufgeklettert ist. Das Wasserrohr scheint sehr stabil zu sein. Naja, auf geht's."
Man hörte ein Fußscharren und die Laterne kam langsam an der Seite der Wand hinunter. Mit einem letzten Satz sprang er aufs Fass und von dort zu Boden.
"Ich konnte ihm einfach folgen," sagte er und zog sich Strümpfe und Stiefel wieder an. "Auf der ganzen Strecke waren die Ziegel locker und in der Eile hat er dies hier verloren. Meine Diagnose ist bestätigt, wie Sie Herren Doktoren es auszudrücken pflegen."
Der Gegenstand, den er mir hinhielt, war eine kleine Tasche oder ein Beutel, aus farbigen Gräsern gewebt und mit einigen kitschig-bunten Perlenschnüren umwickelt. In Form und Größe war er einer Zigarettendose ähnlich. Darin befanden sich ein halbes Dutzend Dornen aus dunklem Holz, am einen Ende scharf und am andern Ende abgerundet, genau wie jener, der Bartholomew Sholto getroffen hatte.
"Das sind teuflische Dinger," sagte er. "Passen Sie auf, dass Sie sich nicht stechen. Ich bin froh, dass ich sie jetzt habe. Denn es kann sein, dass er keine weiteren mehr hat. Sonst hätten wir sie vielleicht früher oder später in unserer Haut stecken. Vor einer Standgerichtskugel hätte ich mich sicherer gefühlt. Sind Sie für einen Marsch von sechs Meilen gerüstet, Watson?"
"Natürlich," antwortete ich.
"Wird es ihr Bein aushalten?"
"Ja, sicher."
"Auf geht's Hundchen! Guter alter Toby! Riech, Toby, riech!" Er hielt dem Hund das mit Kreosot getränkte Taschentuch unter die Nase. Der Hund stand mit seinen wuscheligen, abgewinkelten Beinen da und hielt seinen Kopf wie ein Weinkenner, der das Bouquet eines berühmten Jahrgangs kostet. Holmes warf das Taschentuch ein Stück voraus, befestigte eine feste Schnur am Hals der Promenadenmischung und führte ihn an den Fuß der Wassertonne. Das Tier sieß sofort ein hohes, quietschendes Jaulen aus. Mit der Nase am Boden und dem Schwanz in der Höhe folgte er der Spur in einem Tempo, das die Leine spannte und uns auf Höchstgeschwindigkeit brachte.
Im Osten wurde es allmählich hell und wir konnten im kalten grauen Licht ein Stück vorausschauen. Das quadratische, hohe Haus mit seinen schwarzen, leeren Fenstern und den hohen, nackten Mauern ragte traurig und verlassen hinter uns auf. Unser Kurs führte uns direkt durch den Park, hinein und hinaus aus den Gräben und Gruben, von denen er durchschnitten wurde. Der ganze Ort mit seinen verstreuten Hügeln und kränklichen Sträuchern hatte ein schicksalbehaftestes Aussehen, genau wie die dunkle Tragödie, die über ihm lag.
Als wir die Grenzmauer erreichten, rannte Toby an ihr entlang und jaulte heftig. Im Schatten der Mauer hielt er schließlich an einer Ecke, die von einer jungen Buche verdeckt wurde. Dort wo sich die beiden Mauern trafen, waren mehrere Steine herausgenommen worden und die dadurch erzeugten Mauerlücken sahen aus, als ob man sie öfter wie eine Leiter benutzt hatte. Holmes kletterte hinauf, nahm von mir den Hund entgegen und setzte ihn auf der anderen Seite ab.
"Hier ist ein Abdruck vom Holzbein," bemerkte er, als ich neben ihn heraufkam. "Man sieht den kleinen Blutfleck auf dem hellen Mörtel. Welch ein Glück, dass wir seit gestern keinen starken Regen hatten! Der Geruch bleibt im Boden, trotz der achtundzwanzig dazwischenliegenden Stunden."
Ich gestehe, dass auch ich Zweifel hatte, als ich an den starken Verkehr dachte, der in der Zwischenzeit über die Londoner Straßen gerollt war. Meine Angst wurde jedoch bald beschwichtigt. Toby schwankte oder zögerte nicht, sondern watschelte in der ihm eigenen Art weiter. Eindeutig überwog der Kreosotgeruch alle anderen konkurrierenden Düfte.
"Glauben Sie nicht," sagte Holmes, "dass mein Erfolg von der bloßen Chance abhängt, dass einer dieser Typen seinen Fuß in die Chemikalie gestellt hat. Ich weiß mittlerweile genug, um sie auf viele andere Arten zu verfolgen. Dies ist aber die geeignetste Art, und weil uns das Glück dabei half, wäre ich dumm, wenn ich es nicht nutze. Dadurch ist der Fall aber zu einer kleineren intellektuellen Aufgabe geworden, als ich Ihnen früher versprach."
"Ich versichere Ihnen," sagte ich, "dass ich staune, mit welchen Mitteln Sie die Ergebnisse in diesem Fall gewonnen haben. Noch viel mehr als im Jefferson Hope Mordfall. Hier erscheint mir alles viel verborgener und unerklärlicher zu sein. Wie haben Sie zum Beispiel den Mann mit dem Holzbein so genau beschreiben können?"
"Pah, mein lieber Mann! Er war sehr simpel. Ich möchte nicht theatralisch sein. Es ist liegt offen auf der Hand. Zwei zu einer Strafkolonie abkommandierte Offiziere erfahren das Geheimnis eines verborgenen Schatzes. Ein Engländer namens Jonathan Small zeichnet für sie einen Lageplan. Sie erinnern sich, dass wir den Namen auf der Karte aus Kapitän Morgans Besitz fanden. Er hatte sie für sich und seine Verbündeten unterschrieben -- das Zeichen der Vier, wie er es etwas dramatisch nannte. Mit Hilfe dieser Karte haben die Offiziere -- oder einer von ihnen -- den Schatz gehoben und nach England gebracht. Und hat ihn aus uns noch unbekannten Gründen nicht angerührt. Aber warum hat Jonathan Small den Schatz nicht selber genommen? Es gibt nur eine Antwort. Die Karte trägt ein Datum aus der Zeit, als Morstan in einen direkten Zusammenhang mit den Gefangenen gebracht werden konnte. Jonathan Small konnte den Schatz nicht heben, weil er und seine Genossen noch Gefangene waren und nicht fortkommen konnten."
"Aber das ist bloße Spekulation," sagte ich.
" Es ist mehr als das. Es ist die einzige Hypothese, die sich mit den Tatsachen deckt. Wollen wir sehen, wie es sich mit der weiteren Abfolge verhält. Major Sholto verhält sich für einige Jahre ruhig und freut sich über den Besitz des Schatzes. Dann erhält er einen Brief aus Indien, der ihm einen großen Schrecken einjagt. Was war es?"
"Ein Brief mit der Mitteilung, dass die Männer die er betrogen hatte, freigelassen worden sind."
"Oder entflohen waren. Das ist wahrscheinlicher, denn er kannte sicherlich die Dauer ihrer Inhaftierung. Das wäre für ihn keine Überraschung gewesen. Was tat er dann? Er schützte sich vor einem Mann mit Holzbein -- einen Weißen, denn er verwechselte einen weißen Händler mit ihm und schoss auf diesen. Nun, es war aber nur der Name eines Weißen auf der Karte. Die anderen waren Hindus oder Mohammedaner. Es gab keinen anderen Weißen. Deshalb können wir mit Gewissheit sagen, dass der Holzbeinige mit Jonathan Small identisch ist. Kommt Ihnen diese Folgerung falsch vor?"
"Nein: sie ist klar und einleuchtend."
"Gut, dann versetzen wir uns an die Stelle von Jonathan Small. Schauen wir es uns von seinem Standpunkt aus an. Er kam mit zwei Absichten nach England. Er wollte das wiedererlangen, was ihm gehört und Rache an dem Mann nehmen, der ihn betrogen hatte. Er fand Sholtos Aufenthaltsort heraus und hat sehr wahrscheinlich mit irgend jemandem aus dem Haus Verbindung aufgenommen. Es gibt diesen Butler, Lal Rao, den wir noch nicht gesehen haben. Mrs. Bernstone bescheinigt ihm keinen guten Charakter. Small konnte jedoch nicht herausfinden, wo der Schatz versteckt war. Denn keiner kannte den Ort außer dem Major und einem treuen Diener, der verstorben ist. Plötzlich erfährt Small, dass der Major auf seinem Totenbett liegt. In größter Aufregung, dass das Geheimnis des Schatzes mit ihm stirbt, nimmt er die Beine unter den Arm und kommt zum Fenster des Sterbenden. Am Eintreten hindert ihn nur die Anwesenheit der beiden Söhne. Hasserfüllt gegen den toten Mann geht er nachts in das Zimmer und durchsucht die Privatpapiere, in der Hoffnung, eine den Schatz betreffende Notiz zu finden. Letztlich hinterlässt er eine gekritzelte Erinnerung an seinen Besuch auf dem Kartonschnipsel. Zweifellos hatte er schon vorher geplant, dass er diese oder eine ähnliche Nachricht beim Major ließe, wenn er ihn ermordet hätte, nur um zu zeigen, dass es kein gewöhnlicher Mord, sondern aus der Sicht der vier Verbündeten eine Art von Gerichtsbarkeit war. Schrullige und bizarre Eitelkeiten dieser Art sind in den Annalen des Verbrechens oft genug zu finden und geben normalerweise wertvolle Aufschlüsse über den Täter. Konnten Sie soweit folgen?"
"Sehr gut."
"Und was konnte Jonathan Small jetzt tun? Er konnte nur aus dem Verborgenen die Versuche zur Auffindung des Schatzes verfolgen. Möglicherweise verließ er England und kam nur gelegentlich zurück. Dann folgte die Entdeckung der Dachkammer und er wurde sofort darüber informiert. Wiederum müssen wir die Spur eines Verbündeten im Haushalt verfolgen. Mit seinem Holzbein ist es Jonathan total unmöglich, das obere Zimmer von Bartholomew Sholto zu erreichen. Er hatte aber einen sehr seltsamen Partner dabei, der diese Schwierigkeiten zwar überwinden konnte, der aber mit seinen nackten Füßen in das Kreosot tappte. Und nun kommen Toby und sechs Meilen Humpeln für einen Chirurgen mit halber Stelle und einer lädierten Achillessehne."
"Aber dann war es der Kumpane und nicht Jonathan, der das Verbrechen beging."
"So ist es. Und sehr zu Jonathans Missvergnügen, denken Sie daran wie er aufstampfte, als er das Zimmer betrat. Er hegte keinen Groll gegen Jonathan Sholto, er hätte ihn lieber gebunden und geknebelt. Er wollte keine Schlinge um seinen eigenen Kopf bekommen. Aber er konnte nicht mehr helfen: die wilden Instinkte seines Begleiters waren ausgebrochen und das Gift hatte seine Wirkung erzielt. Daher verließ Jonathan den Ort, ließ die Schatzkiste zum Boden hinunter und folgte selbst. Das war die Folge von Ereignissen, soweit ich sie entziffern konnte. Und zu seinem Aussehen: er musste mittleren Alters und sonnengebräunt sein, wenn er seine Zeit in einem solchen Ofen wie den Andamanen verbracht hatte. Seine Größe lässt sich einfach aus der Schrittlänge errechnen und wir wussten, dass er bärtig war. Seine Behaartheit war das einzige, das Thaddeus Sholto auffiel, als er ihn am Fenster sah. Ich glaube, mehr Fakten gibt es nun nicht."
"Der Verbündete?"
"Oh ja, aber das ist kein großes Rätsel. Bald werden Sie alles darüber erfahren. Wie lieblich ist doch die Morgenluft! Sehen Sie, diese kleine Wolke schwebt wie die rosa Feder eines riesigen Flamingos. Jetzt schiebt sich der rote Rand der Sonne über die Wolkenbänke von London. Sie scheint jetzt auf eine Menge Leute, aber niemand von denen hat einen seltsameren Auftrag als wir beide zu erledigen. Wie klein wir doch mit unseren geringen Bestrebungen sind im Angesicht solch elementarer Mächte der Natur! Sind Sie mit Ihrem Jean Paul (*J.P. Richter, deutscher Schriftsteller*) weitergekommen?"
"So einigermaßen. Ich bin auf ihn über Carlyle (*englischer Schriftsteller*) gestoßen."
"Wie man einem Bach bis zum See folgt. Er machte eine seltsame aber tiefgründige Bemerkung. Er sagt, dass der beste Beweis der wirklichen Größe eines Mannes im Erkennen seiner eigenen Kleinheit liegt. Hier streiten sich Vergleich und Würdigung, was wiederum ein Zeichen von Würde ist. Bei Richter finden sich viele Dinge zum Nachdenken. Haben Sie eine Pistole?"
"Ich habe meinen Stock."
"Es ist möglich, dass wir so etwas brauchen, wenn wir zu ihrem Lager kommen. Ich überlasse Ihnen Jonathan, aber wenn der andere gemein wird, schieße ich ihn über den Haufen." Beim Sprechen zog er seinen Revolver, und nachdem er beide Kammern geladen hatte, steckte er ihn in die rechte Tasche seiner Jacke zurück.
Während der ganzen Zeit wurden wir von Toby durch die ländlichen, mit Villen besetzten Straßen geleitet, die zur Metropole führten. Nun kamen wir aber auf glattere Straßen, auf denen Arbeiter und Seeleute auf den Beinen waren. Unordentlich gekleidete Frauen nahmen die Fensterläden ab und putzten die Treppen. An einer Ecke öffneten bereits die Läden und grobschlächtige Männer kamen heraus, ihre von der Morgenwäsche feuchten Bärte mit den Hemdsärmeln abtrocknend. Streunende Hunde stromerten herum und starrten uns verwundert an. Aber unser unbeirrbarer Toby schaute weder nach links noch nach rechts und trottete mit seiner Nase am Boden vorwärts, nur unterbrochen von einem gelegentliche Jaulen, das die wiedergefundene Fährte signalisierte.
Wir hatten Streatham, Brixton und Camberwell durchquert und befanden uns nun in der Kennington Lane und hatten uns durch die Seitenstraßen nach Osten bewegt. Die von uns Verfolgten schienen einen seltsamen Zickzackweg genommen zu haben, vielleicht wollten sie der Verfolgung entkommen. Nie benutzten sie eine Hauptstraße, wenn parallele Seitenstraßen zum gleichen Ziel führten. Am Beginn der Kennington Lane hatten sie sich nach links durch die Bond Street und Miles Street bewegt. Wo letztere in Knight's Place übergeht, beendete Toby das Vorwärtsdrängen und begann vor und zurück zu laufen, mit einem gespitzten und einem herunterhängenden Ohr. Das typische Bild eines unentschlossenen Hundes. Dann watschelte er im Kreis, schaute bisweilen zu uns auf, als wollte er um Verständnis für seine Unentschlossenheit bitten.
"Was ist mit dem Hund los?" knurrte Holmes. "Sie haben bestimmt keine Droschke genommen oder sind im einem Ballon davongeflogen."
"Vielleicht standen sie hier eine Weile," schlug ich vor.
"Ach, es ist in Ordnung. Weiter geht's," sagte mein Begleiter mit Erleichterung.
Und tatsächlich zog er los, denn nach einem kurzen Herumschnüffeln entschied er sich plötzlich und flitzte mit einer Energie und Entschlossenheit davon, wie er sie bisher noch nicht an den Tag gelegt hatte. Die Fährte schien viel frischer als zuvor zu sein, denn er hielt die Nase nicht am Boden, sondern zerrte an seiner Leine und versuchte davonzurennen. Am Glanz in Holmes Augen konnte ich erkennen, dass er das Ende der Reise erwartete.
Unsere Route ging jetzt Nine Elms hinunter bis wir das großen Nelsonsche Holzlager erreichten, das dicht hinter dem Gasthaus Eagle lag. Hier zwängte sich der aufgeregte Hund durch das Seitentor in das umzäunte Gelände, auf dem die Sägearbeiter bereits bei der Arbeit waren. Der Hund lief durch Sägemehl und Holzspäne auf eine Gasse zu, dann durch eine Passage aus zwei Holzstapeln und sprang zuletzt mit triumphierendem Jaulen auf ein großes Fass, das noch nicht vom Handkarren heruntergenommen war. Mit hechelnder Zunge und blitzenden Augen stand Toby auf dem Fass und sah von einem zum andern und wartete auf ein Zeichen des Lobes. Die Fassdauben und auch die Räder des Karrens waren mit einer dunklen Flüssigkeit beschmiert und die Luft war vom Geruch von Kreosot geschwängert.
Wir sahen uns stumm an und brachen dann in ein unkontrolliertes Lachen aus.
Die Baker Street Gang
"Was nun," fragte ich. "Toby hat seine Unfehlbarkeit verloren."
"Er folgte seinen Eingebungen," sagte Holmes, hob ihm vom Fass und verließ mit ihm den Hof der Holzhandlung. "Denken Sie daran, wieviel Kreosot täglich durch London gekarrt wird. Es ist kein Wunder, wenn sich die Spuren gekreuzt haben. Zur Zeit des Holzeinschlags wird es besonders häufig verwendet. Wir können den armen Toby dafür nicht verantwortlich machen."
"Dann müssen wir zur Hauptfährte zurück, denke ich."
"Ja, und glücklicherweise ist es nicht weit. Offensichtlich wurde der Hund an der Ecke Knight's Place verwirrt, als sich zwei Fährten in entgegengesetzte Richtungen fortsetzten. Wir sind der falschen gefolgt. Dann müssen wir bloß der anderen folgen."
Das war einfach. Wir führten Toby zu dem Ort, an dem er seinen Fehler machte, er lief einen großen Kreis und schoss plötzlich in eine neue Richtung.
"Wir müssen aufpassen, dass er uns nicht dorthin bringt, wo das Kreosotfass herkommt," bemerkte ich.
"Daran habe ich auch gedacht. Aber sehen Sie, er bleibt auf dem Bürgersteig; das Fass ist aber auf der Straße transportiert worden. Nein, jetzt sind wir auf der richtigen Fährte."
Sie führte zum Flussufer hinunter, durch Belmont Place und Prince's Street hindurch. Am Ende der Broad Street ging es direkt zum Flussufer hinunter. Dort gab es einen kleinen hölzernen Steg. Toby führte uns an sein äußerstes Ende und blieb dort winselnd stehen und sah auf die dunklen Fluten unter sich.
"Wir haben Glück," sagte Holmes. "Sie haben hier ein Boot bestiegen." Mehrere kleine Boote zum Staken und auch Ruderboote lagen im Wasser und auch am Rand des Steges. Wir führten Toby bei jedem vorbei, aber trotz gewissenhafter Schnüffelei gab er uns kein Signal.
In der Nähe dieser behelfsmäßigen Landestelle stand ein kleines Backsteinhaus, im zweiten Fenster hing ein Plakat mit der Aufschrift 'Mordecai Smith' in großen Lettern, und darunter 'Bootsverleih für Stunden oder Tage'. Über der Tür informierte eine zweite Inschrift, dass es hier eine Dampfbarkasse gab; ein großer Haufen Koks an der Pier bestätigte diese Aussage. Holmes blickte langsam in die Runde und sein Blick war unheilverkündend.
"Das sieht schlecht aus," sagte er. "Das sind schärfere Hunde als ich dachte. Sie haben ihre Spuren verwischt. Ich fürchte, hier war etwas im Voraus abgesprochen."
Er näherte sich der Haustür, die sich plötzlich öffnete und ein kleiner, lockenköpfiger Knirps von etwa sechs Jahren kam herausgerannt. Ihm lief eine stämmige Frau mit hochrotem Gesicht und einem Schwamm in der Hand hinterher.
"Komm zurück und lass dich waschen, Jack," rief sie. "Komm zurück, du kleiner Kobold. Wenn dein Vater zurückkommt, wir er dir schon etwas erzählen, wenn er dich so antrifft."
"Mein lieber Junge," sagte Holmes taktisch klug. "Du kleiner Schlingel mit rosa Bäckchen! Sag mir, Jack, gibt es etwas, das Du gerne haben möchtest?"
Der Junge dachte einen Moment nach. "Ich will 'nen Schilling," sagte er.
"Und was möchtest Du noch lieber?"
"Noch lieber will ich zwei Shilling," antwortete das Wunderkind nach kurzem Nachdenken.
"Hier hast Du sie, fang! -- Ein nettes Kind, Mrs. Smith!"
"Gott segne Sie, Sir. Er ist mehr als nett, fast mehr als mir lieb ist, besonders wenn mein Mann für einige Tage fort ist."
"Ist er nicht da?" sagte Holmes mit enttäuschter Stimme. "Schade, ich wollte mit Mr. Smith sprechen."
"Er ist seit gestern morgen weg, Sir, und um die Wahrheit zu sagen habe ich ein wenig Angst um ihn. Aber wenn Sie ein Boot möchten, Sir, kann auch ich Ihnen helfen."
"Ich möchte die Dampfbarkasse mieten."
"Sir, er ist leider mit der Barkasse unterwegs. Genau das macht mir Sorgen, denn es waren nicht genügend Kohlen an Bord, um sie nach Woolwich und hierher zurück zu fahren. Wenn er im Lastkahn unterwegs wäre, hätte ich mir nichts dabei gedacht, denn oft hat ihn ein Auftrag bis nach Gravesend geführt und wenn es dort viel zu tun gegeben hat, ist er dort eine Weile geblieben. Aber eine Dampfbarkasse ohne Kohlen?"
"Er kann doch welche an den Kais am Fluss gekauft haben."
"Er könnte, Sir, aber er fuhr nicht in diese Richtung. Ich habe sie einige Zeit über den Preis für einige seltsame Taschen feilschen gehört. Übrigens mag ich den Mann mit dem Holzbein nicht, er hat ein hässliches Gesicht und redet seltsam. Warum hat er dauernd bei uns angeklopft?"
"Ein Mann mit Holzbein?" rief Holmes in völliger Überraschung.
"Ja, Sir, ein dunkelhäutiger, affengesichtiger Kerl hat mehr als einmal nach meinem Mann gefragt. Er war es, der uns gestern Nacht aufweckte. Und mein Mann hat ihn anscheinend erwartet, denn er hatte die Barkasse unter Dampf gesetzt. Ich sage es Ihnen gerade heraus, Sir, ich habe kein gutes Gefühl dabei."
"Aber liebe Mrs. Smith," sagte Holmes und zuckte mit den Schultern. "Sie regen sich umsonst auf. Woher wissen Sie denn, dass es der Mann mit dem Holzbein war, der in der Nacht kam? Wie können Sie da so sicher sein?"
"Seine Stimme, Sir. Ich kenne seine Stimme. Sie ist etwas belegt und verschwommen. Er klopfte etwa um drei Uhr früh. 'Komm raus, Kumpel', sagte er, 'Zeit um auf Wache zu gehen.' Mein Mann weckte Jim auf -- das ist unser Ältester -- und fort waren sie, ohne mir nur ein Wort zu sagen. Ich habe das Holzbein auf den Steinen klappern gehört."
"Und war der Einbeinige allein?"
"Kann ich nicht mit Sicherheit sagen, Sir. Ich habe sonst niemanden gehört."
"Schade, Mrs. Smith. Ich hätte gern die Barkasse gehabt, denn ich habe nur gutes über die -- wie war noch der Name?"
"Die Aurora, Sir."
"Ah! Ist es nicht die grüne Barkasse mit dem gelben Streifen und etwas breiter als üblich?"
"Nein keineswegs, sie ist ein schmaleres Boot als viele andere. Sie ist neu gestrichen, schwarz mit zwei roten Streifen."
"Danke. Ich denke, Sie werden bald von Ihrem Mann etwas hören. Ich gehe flussabwärts und falls ich etwas von der Aurora sehe, werde ich ihrem Mann sagen, dass Sie sich sorgen. Sagten Sie, es sei ein schwarzer Schornstein?"
"Nein Sir, schwarz mit einem weißen Band."
"Ach natürlich. Die Seiten waren schwarz. Guten Morgen, Mrs. Smith. Hier ist ein Bootsverleiher mit einer Fähre, Watson. Wir sollten sie nehmen, um nach drüben zu kommen."
"Bei solchen Leuten ist es am wichtigsten," sagte Holmes als wir im Fährboot saßen, "dass sie immer denken, ihre Information sei völlig unwichtig für andere. Sonst werden sie sich wie eine Auster verschließen. Wenn Sie nur mit Vorbehalt zuhören, erhalten Sie viel eher das, was sie haben wollen."
"Nun scheint mir unser Kurs klar zu sein," sagte ich.
"Was würden Sie denn tun?"
"Ich würde eine Barkasse mieten und flussabwärts nach einer Spur der Aurora suchen."
"Lieber Freund, das wäre eine kolossale Arbeit. Sie kann nahezu an jeder Pier auf jeder Seite des Flusses von hier bis nach Greenwich angelegt haben. Hinter der Brücke gibt es ein meilenweites perfektes Labyrinth von Landeplätzen. Wenn Sie alle allein untersuchen wollten, würde es mehrere Tage dauern."
"Dann lassen wir es die Polizei machen."
"Nein, Athelny Jones würde ich wahrscheinlich nur im letzten Augenblick rufen. Er ist kein schlechter Kerl, und ich möchte nichts tun, was seiner Berufsehre schaden könnte. Ich ziehe vor, das ich es selbst herausfinde, wo wir nun schon so weit vorangekommen sind."
"Könnten wir uns nicht Informationen von den Kaimeistern holen?"
"Noch schlechter! Unsere Leute wüssten sofort, dass wir ihnen auf den Fersen sind und sie würden schnell das Land verlassen. Das werden sie sowieso vorhaben, aber sie sind in keiner Eile, solange sie sich vollkommen sicher fühlen. Jones' Energie wird für uns arbeiten, denn seine Ansicht über diesen Fall wird er bestimmt in die Tageszeitung setzen lassen. Und die Flüchtigen glauben dann, alle Verfolger befinden sich auf der falschen Fährte."
"Was machen wir dann," fragte ich als wir in der Nähe von Milbank Penitenary an Land gingen.
"Nehmen Sie diese Kutsche, fahren Sie nach Hause, frühstücken Sie und legen Sie sich für eine Stunde hin. Es ist zu befürchten, dass wir heute Nacht wieder auf den Beinen sind. Fahrer, halten Sie beim Telegrafenamt! Wir werden Toby bei uns behalten, denn er kann uns später noch nützlich sein."
Wir hielten am Postamt in der Great Peter Street und Holmes gab sein Telegramm auf. "An wen schrieb ich es wohl?" fragte er, als wir unsere Reise fortsetzten.
"Ich weiß es wirklich nicht."
"Erinnern Sie sich an die Baker Street Polizeitruppe, die ich im Jefferson Hope Fall einsetzte?"
"Sicher," sagte ich lachend.
"In unserem Fall sind sie geradezu unbezahlbar. Ich werde es zuerst mit ihnen versuchen, und wenn sie versagen, habe ich noch andere Quellen. Diese Telegramm ging an meinen kleinen niederträchtigen Leutnant Wiggins. Er und seine Gang werden bei uns sein, bevor wir unser Frühstück beendet haben."
Es war jetzt zwischen acht und neun Uhr und ich spürte die Reaktion meines Körpers auf die ununterbrochenen Aufregungen der letzten Nacht. Ich war schlapp und müde, geistig leicht verwirrt und körperlich erschöpft. Die berufsmäßige Begeisterung, die mein Gefährte immer noch besaß, hatte mich verlassen; auch konnte ich den ganzen Fall nicht mehr als ein abstraktes intellektuelles Problem betrachten. Was den Tod von Bartholomew Sholto betraf, ich hatte vorher wenig Gutes über ihn gehört und ich hatte keine sehr große Antipathie gegen seine Mörder. Der Schatz war allerdings eine andere Sache. Er, oder zumindestens ein Teil von ihm, gehörte Miss Morstan. Solange es die Möglichkeit gab ihn zu finden, würde ich mein Leben dafür hergeben. Wenn ich ihn fände, würde sie allerdings für mich nicht mehr erreichbar sein. Aber es wäre eine kleinliche und egoistische Liebe, wenn sie von solchen Gedanken beeinflusst werden könnte. Während Holmes sich mit dem Aufspüren der Verbrecher beschäftigte, hatte ich einen zehnfach stärkeren Grund, der mich zur Suche nach dem Schatz antrieb.
Ein Bad in der Baker Street und der Wechsel meiner gesamten Bekleidung frischte mich wunderbar auf. Als ich in unser Zimmer kam, fand ich das Frühstück zubereitet und Holmes goss mir Kaffee ein.
"Hier ist es," sagte er lachend und zeigte auf eine aufgeschlagene Zeitung. "Der energische Jones und der allgegenwärtige Reporter haben es unter sich ausgemacht. Aber Sie haben bestimmt genug vom Fall. Aber noch nicht genug Ham und Egg."
Ich nahm die Zeitung und las die kurze Nachricht, die "Mysteriöse Geschichte in Upper Norwood" betitelt war.
Im Standard stand folgendes: "Gestern gegen zwölf Uhr nachts wurde Mr. Bartholomew Sholto von der Pondicherry Lodge, Upper Norwood, tot in seinem Zimmer aufgefunden. Wie wir erfuhren, sind keine Spuren von Gewaltanwendung an der Person gefunden worden. Jedoch wurde eine wertvolle Edelsteinsammlung entwendet, die der Verstorbene von seinem Vater geerbt hatte. Mr. Sherlock Holmes und Dr. Watson entdeckten den Toten als erste. Sie kamen mit Mr. Thaddeus Sholto, dem Bruder des Verstorbenen, zum Haus. Durch viele glückliche Umstände war Mr. Athelney Jones, der bekannte Detektiv, zufällig auf der Polizeiwache von Norwood. Weniger als eine halbe Stunde nach Eingang der Meldung war er am Tatort. Sein geschulter Verstand und seine Erfahrung führten schnell zur Entdeckung der Schuldigen. Es ist erfreulich zu berichten, dass folgende Festnahmen bereits erfolgten: der Bruder, Thaddeus Sholto zusammen mit seiner Haushälterin, Mrs. Bernstone, ein indischer Butler namens Lal Rao und der Pförtner namens McMurdo. Es ist gesicherte Erkenntnis, dass der Dieb oder die Diebe mit dem Haus vertraut waren. Mr. Jones' wohlbekanntes Fachwissen und die Fähigkeit zu genauester Beobachtung erbrachten den Beweis, dass die Eindringlinge nicht durch Tür oder Fenster kamen, sondern den Weg über das Dach des Gebäudes nahmen und über eine Falltür in einen Raum eindrangen, der mit dem Zimmer des Toten in Verbindung stand. Diese klar herausgearbeitete Tatsache beweist, das es kein willkürlicher Einbruch war. Die schnelle und energische Reaktion der Gesetzeshüter zeigt, wie vorteilhaft die Präsenz eines einzelnen dynamischen und meisterhaften Geistes in solch einem Falle ist. Dies ist wieder ein Beweis dafür, dass unsere Detektive dezentraler eingesetzt werden sollten, damit sie in näheren und effizienteren Kontakt mit den Fällen kommen, deren Aufklärung ihre Pflicht ist."
"Ist das nicht prächtig," sagte Holmes und grinste über den Rand seiner Kaffeetasse. "Was halten Sie davon?"
"Ich glaube, dass wir nur um Haaresbreite unserer eigenen Verhaftung entkommen sind."
"Das glaube ich auch. Ich würde nicht für unsere Sicherheit bürgen wollen, sollte er noch einen Anfall von Energie erleiden."
"Im gleichen Moment klingelte es laut und ich hörte unsere Wirtin Mrs. Hudson, deren Stimme in einem Schwall von Protest und Bestürzung immer lauter wurde.
"Um Himmelswillen, Holmes," sagte ich halblaut, "ich glaube, sie sind wirklich hinter uns her."
"Nein, so schlimm steht es nicht. Es ist die inoffizielle Polizeitruppe der Baker Street."
Kaum hatte er das gesagt, war ein flinkes Fußgetrappel und ein Stimmengewirr die Treppe hinauf zu hören. Herein rauschte ein Dutzend schmutziger und zerlumpter Gassenjungen. Trotz des tumulthaften Hereinkommens zeigten sie eine gewisse Disziplin. Sie stellte sich augenblicklich in einer Reihe auf und schauten uns mit erwartungsvollen Gesichtern an. Ein etwas größerer und älterer unter ihnen trat mit einer selbstverständlichen Anmaßung der Führung vor, die bei einer derart unansehnlichen Schreckgestalt sehr komisch wirkte.
"Hab' Ihre Nachricht erhalten, Sir," sagte er, "und hab' sie schnell zusammengetrommelt. Drei Shillin' und 'nen Sixpence für die Karten."
"Hier sind sie," sagte Holmes und zog ein paar Silbermünzen heraus. "Zukünftig können sie Dir berichten, Wiggins; und Du berichtest mir. So wie eben könnt ihr nicht immer bei mir hereinstürmen. Egal, dann hört ihr jetzt wenigstens zusammen meine Anweisungen. Ich suche den Verbleib einer Dampfbarkasse mit dem Namen Aurora, sie gehört Mordecai Smith, sie ist schwarz mit zwei roten Streifen, der Schornstein ist ebenfalls schwarz mit einem weißen Band. Sie ist irgendwo flussabwärts. Ich will einen Jungen bei Mordecais Steg gegenüber von Millbank, der uns meldet, wenn das Schiff zurückkommt. Teilt es euch selbst ein, aber untersucht beide Flussufer gründlich. Berichtet mir sofort jede Neuigkeit. Alles verstanden?"
"Ja, Chef," sagte Wiggins.
"Bezahlung wie üblich, und eine Guinee extra an den, der das Schiff findet. Hier ist das Geld für den ersten Tag. Auf geht's!" Er gab jedem einen Shilling und sie schossen die Treppen hinunter. Im nächsten Moment sah ich sie auf der Straße verschwinden.
"Wenn die Barkasse sich über Wasser befindet, wird sie auch entdeckt," sagte Holmes, als er aufstand und sich die Pfeife anzündete. "Sie kommen überall hin, sehen alles und belauschen jeden. Ich erwarte, dass sie das Schiff noch vor dem Abend auffinden. Wir können bis dahin nur warten. Unsere Spur können wir erst dann wieder aufnehmen, wenn wir die Aurora oder Mr. Mordecai Smith gefunden haben."
"Toby könnte die Essensreste erhalten. Gehen Sie zu Bett, Mr. Holmes?"
"Nein, ich bin nicht müde. Ich habe eine seltsame Konstitution. Solange ich arbeite, bin ich nie müde; aber Untätigkeit erschöpft mich total. Ich werde weiter rauchen und über diesen merkwürdigen Fall nachdenken, den uns unsere hübsche Kundin beschert hat. Es gibt kaum eine einfachere Arbeit als die, welche jetzt vor uns liegt. Leute mit Holzbein gibt es wenige, aber der andere Mann muss absolut einzigartig sein."
"Wieder dieser andere Mann!"
"Ich will kein Geheimnis aus ihm machen. Aber Sie müssen sich eine eigene Meinung bilden. Betrachten Sie die Tatsachen. Kleine Fußabdrücke, Zehen nie in Schuhe gezwängt, nackte Füße, eine hölzerne Keule mit Steingriff, große Beweglichkeit, kleine vergiftete Pfeile. Wie entwirren Sie das?"
"Ein Wilder!" rief ich aus. "Vielleicht einer dieser Inder, die bei Jonathan Small waren."
"Kaum," sagte er. "Als ich anfangs die Anzeichen seltsamer Waffen bemerkte, dachte ich das Gleiche. Aber die außergewöhnliche Beschaffenheit der Fußabdrücke hat meine Meinung geändert. Einige Bewohner Indiens sind kleinwüchsig, aber keiner könnte solche Fußabdrücke hinterlassen. Der typische Inder hat lange, schmale Füße. Der Mohammedaner in Sandalen hat den großen Zeh von den anderen abgespreizt, da dort der Sandalriemen sitzt. Die kleinen Pfeile konnten nur auf eine Art abgefeuert werden, nämlich durch ein Blasrohr. Und woher kommt dann unser Wilder?"
"Aus Südamerika," wagte ich zu behaupten.
Er griff nach einem dickleibigen Band aus dem Bücherregal. "Dies ist der gerade herausgekommene erste Band eines alphabetischen Ortsverzeichnisses mit Ortsbeschreibungen. Er enthält die aktuellsten Informationen. Was haben wir hier? 'Inselgruppe der Andamanen, etwa 340 Meilen nördlich von Sumatra im Golf von Bengalen gelegen.' Hmm! Was noch? Feuchtes Klima, Korallenriff, Haie, Port Blair, Straflager, die Insel Rutland, Baumwolle -- ah, hier haben wir es. 'Die Eingeborenen der Andamanen gehören zur Rasse der kleinsten Menschen auf der Erde, obwohl einige Anthropologen dies über die Buschmänner Afrikas, die amerikanischen Digger-Indianer und die Feuerländer ebenfalls behaupten. Die mittlere Größe beträgt weniger als vier Fuß, aber man findet auch Erwachsene, die viel kleiner sind. Sie sind ein wildes, verstocktes und widerspenstiges Volk, zeigen aber hingebungsvolle Freundschaft, wenn sie einmal Vertrauen gewonnen haben.' Merken Sie sich das, Watson. Und hören Sie weiter. 'Sie sind im allgemeinen von hässlichem Aussehen und haben große, missgestaltete Köpfe, kleine wilde Augen und entstellte Gesichter. Die Arme und Beine sind außergewöhnlich klein. Sie sind so widerspenstig und wild, dass trotz vieler Versuche die britischen Kolonialbeamten ihr Vertrauen noch nicht gewinnen konnten. Sie waren schon immer der Schrecken aller schiffbrüchigen Besatzungen, da sie den Überlebenden mit ihren Steinäxten die Schädel einschlugen oder sie mit vergifteten Pfeilen beschossen. Diese Massaker gipfelten häufig in einem kannibalischen Fest.' Nette, liebenswürdige Menschen, Watson! Wenn dieser Kerl ohne Aufsicht gewesen wäre, hätte die Sache eine noch schlimmere Wendung nehmen können. Es scheint mir, dass Jonathan Small sich selber wünscht, ihn niemals beschäftigt zu haben."
"Aber wie kam er zu einem solch eigenartigen Begleiter?"
"Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Da wir bereits wissen, das Smith von den Andamanen kam, ist es nicht besonders verwunderlich, dass der Insulaner bei ihm ist. Zweifellos wissen wir bald mehr. Watson, Sie sehen ziemlich fertig aus. Legen Sie sich aufs Sofa, vielleicht kann ich sie zum Einschlafen bringen."
Er nahm seine Violine aus der Ecke, ich streckte mich aus und er begann einige leise, verträumte und melodiöse Weisen zu spielen -- eigene Kompositionen, denn er hatte ein bemerkenswertes Talent zur Improvisation. Ich erinnere mich schwach an seine hageren Glieder, sein ernstes Gesicht und das Auf und Ab seines Geigenbogens. Dann schien ich in einem weichen Meer aus Klängen davonzuschwimmen, bis ich mich in einem Traum befand, in dem das liebe Gesicht von Mary Morstan auf mich herabsah.
Ein Bruch in der Kette
Es war später Nachmittag, als ich erfrischt und gestärkt aufwachte. Holmes saß noch in der gleichen Stellung, in der ich ihn vor dem Einschlafen gesehen hatte. Er hatte nur seine Violine zur Seite gelegt und war in ein Buch vertieft. Als ich mich rührte, sah er kurz zu mir herüber und ich bemerkte, dass sein Ausdruck dunkel und verärgert war.
"Sie haben fest geschlafen," sagte er, "ich fürchtete schon, unsere Unterhaltung würde Sie aufwecken."
"Ich habe nichts gehört," antwortete ich, "haben Sie denn Neuigkeiten erhalten?"
"Leider nein. Ich gestehe, dass ich überrascht und enttäuscht bin. Es hätten schon Nachrichten eintreffen müssen. Wiggins hat mir soeben Bericht erstattet. Er sagt, dass von der Barkasse keine Spur gefunden werden konnte. Das ist ein ärgerlicher Rückschlag, denn jede Stunde ist kostbar."
"Kann ich etwas tun? Ich fühle mich vollkommen erfrischt und bin für eine weitere Nachtwanderung gerüstet."
"Nein, wir können nur warten. Gehen wir selbst, könnte die Nachricht während unserer Abwesenheit eintreffen und alles verzögern. Machen Sie, was Sie wollen, ich bleibe hier in Bereitschaft."
"Dann gehe ich hinüber nach Camberwell und besuche Mrs. Cecil Forrester. Sie bat mich gestern darum."
"Zu Mrs. Cecil Forrester?" fragte er mit einem Anflug von Lächeln in den Augen.
"Ja, natürlich auch zu Miss Morstan. Beide sind bestimmt neugierig, das bisher Geschehene zu erfahren.
"Ich würde ihnen nicht allzuviel erzählen," sagte Holmes. "Frauen kann man nie ganz trauen -- nicht einmal den besten."
Ich vermied einen Streit über diese scheußliche Meinung. "Ich bin in einer oder zwei Stunden zurück," bemerkte ich.
"Gut! Viel Glück! Wenn Sie aber schon über den Fluss müssen, könnten Sie auch Toby zurückbringen. Ich glaube nicht, dass wir noch Verwendung für ihn finden werden."
So nahm ich unsere Promenadenmischung und brachte ihn mit einem 10-Shilling-Stück für den Botaniker in die Pinch-Street. In Camberwell war Mrs. Morstan ein wenig müde nach den nächtlichen Abenteuern, aber dennoch lebhaft erregt, die Neuigkeiten zu erfahren. Auch Mrs. Forrester war neugierig. Ich erzählte ihnen alles, was wir bisher unternommen hatten, vermied aber die schlimmeren Teile unserer Tragödie. Ich sprach wohl über den Tod von Mr. Sholto, sagte aber nichts über die Umstände und die genaue Todesart. Doch trotz meiner Auslassungen gab es genug Erstaunen und Erschrecken.
"Fantastisch!" rief Mrs. Forrester. "Eine um eine halbe Million betrogene Lady, ein schwarzer Kannibale und ein Schurke mit Holzbein. Anstelle des üblichen Drachens und des bösen Barons."
"Und zwei Ritter eilen zu ihrer Rettung," fügte Miss Morstan mit einem an mich gerichteten strahlenden Lächeln hinzu.
"Nun, Mary, Ihr zukünftiges Vermögen hängt von den Ergebnissen dieser Suche ab. Sie können nicht aufgeregt genug sein. Denken Sie daran, wie reich Sie sein werden und wie dann die Welt zu Ihren Füßen liegt!"
Ein Freudenschimmer bemächtigte sich meiner, als ich bemerkte, dass diese Aussicht ihr Verhalten nicht änderte. Im Gegenteil, sie warf den Kopf stolz zurück, als ob sie an der Sache keinen Anteil nähme.
"Ich bin um Mr. Thaddeus Sholto besorgt," sagte sie. "Alles andere ist bedeutungslos. Ich denke, er hat sich sehr ehrenwert und nett gezeigt. Wir sollten ihn von dieser fürchterlichen und unbegründeten Anklage befreien."
Als ich Camberwell verließ, war es Abend geworden und schon sehr dunkel, als ich zu Hause ankam. Buch und Pfeife meines Begleiters lagen auf seinem Stuhl, er aber war verschwunden. Trotz Suche nach einer Notiz fand ich nichts.
Als Mrs. Hudson kam, um die Jalousien herunterzulassen, sagte ich: "Holmes ist sicherlich spazierengegangen."
"Nein, Sir. Er ist auf sein Zimmer gegangen. Wissen Sie, dass ich mir über seine Gesundheit Sorgen mache?" antwortete sie mit leiser Stimme.
"Und warum, Mrs. Hudson?"
"Nun, er benimmt sich so merkwürdig, Sir. Nachdem Sie gegangen waren, ist er auf und ab gegangen, immer wieder auf und ab, bis ich dem Geräusch seiner Fußtritte überdrüssig wurde. Dann sprach und murmelte er zu sich, und jedesmal, wenn die Klingel ging, rief er: "Was ist, Mrs. Hudson?" Und jetzt hat er sein Zimmer verriegelt, aber ich höre ihn immer noch herumgehen. Ich hoffe, er wird nicht krank, Sir. Ich sagte ihm etwas über lindernde Medizin, aber er sah mich derart an, dass ich nicht einmal weiß, wie ich aus dem Zimmer kam."
"Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, Mrs. Hudson," antwortete ich. "So habe ich ihn schon früher gesehen. Er hat ein kleines Problem, und das macht ihn ruhelos." Ich versuchte, beruhigend auf unsere Wirtin einzureden, war aber dennoch selbst etwas beunruhigt, als ich die ganze Nacht den dumpfen Klang seiner Schritte hörte. Ich wusste, dass sein scharfer Verstand gegen die ungewollte Passivität rebellierte.
Zum Frühstück sah er erschöpft und ausgezehrt aus und hatte kleine fiebrige Flecken auf beiden Wangen.
"Sie reiben sich selbst auf, mein Herr," bemerkte ich. "Ich habe Sie die ganze Nacht wandern gehört."
"Nun, ich konnte nicht schlafen," antwortete er. "Dieses höllische Problem frisst mich auf. Wo schon fast alles geklärt ist, darf uns solch kleines Hindernis nicht aufhalten. Ich kenne die Leute, das Schiff, fast alles -- und doch kommen keine neuen Nachrichten. Ich habe noch andere Nachrichtenquellen angezapft und jedes mir zur Verfügung stehende Mittel angewandt. Der Fluss ist auf beiden Seiten gründlich durchsucht worden, trotzdem gibt es keine Neuigkeiten und Mrs. Smith hat nichts von ihrem Mann gehört. Fast kommt mir der Gedanke, dass sie das Schiff versenkt haben. Aber dagegen spricht etwas anderes."
"Oder Mrs. Smith hat uns auf eine falsche Fährte gelockt."
"Nein, das können wir vergessen. Ich habe Nachforschungen angestellt, es gibt eine Barkasse mit genau dieser Beschreibung."
"Könnten sie flussaufwärts gefahren sein?"
"Auch das habe ich in Betracht gezogen. Es ist ein Suchtrupp bis hoch nach Richmond unterwegs. Wenn heute keine Nachrichten kommen, werde ich morgen aufbrechen und nach den Männern anstatt nach dem Boot suchen. Aber wir werden bestimmt etwas hören."
Wir hörten nichts. Weder Wiggins noch andere Quellen brachten neue Informationen. In allen Zeitungen wurden Artikel über die Norwood-Tragödie veröffentlicht. Und alles sprach gegen den unglücklichen Thaddeus Sholto. Es gab keine neuen Fakten, aber die gerichtliche Untersuchung der Todesursache wurde für den folgenden Tag angekündigt. Ich fuhr am Abend nach Camberwell um den Damen unsere Misserfolge zu berichten. Bei meiner Rückkehr fand ich Holmes niedergeschlagen und etwas verschlossen. Er beantwortete meine Fragen kaum und beschäftigte sich den ganzen Abend mit einer abstrusen chemischen Analyse. Er erhitze Retortengläser und destillierte Dämpfe, deren Geruch mich letztendlich aus dem Zimmer vertrieben. Bis in die frühen Morgenstunden konnte ich das Klirren seiner Teströhrchen hören und ich war sicher, dass er immer noch an seinen übelriechenden Experimenten arbeitete.
Zur Morgendämmerung wachte ich auf und war überrascht, als er plötzlich neben meinem Bett stand. Er trug grobe Seemanskleidung mit Rollkragen und einen roten Schal um den Hals.
"Ich gehe jetzt zum Fluss, Watson," sagte er. "Nach allen Überlegungen sehe ich nur einen einzigen Weg. Und den werde ich auf jeden Fall versuchen."
"Ich darf doch sicherlich mitkommen?" fragte ich.
"Nein. Sie sind hier besser als mein Vertreter aufgehoben. Ich gehe ungern, denn es sieht so aus, dass heute noch wichtige Nachrichten eintreffen werden. Obgleich Wiggins gestern nacht noch nicht sicher war. Bitte öffnen Sie alle Nachrichten und Telegramme und handeln Sie dann nach Ihrem eigenen Ermessen. Kann ich mich auf Sie verlassen?"
"Aber sicher."
"Sie werden mich nicht benachrichtigen können, denn ich kann Ihnen nicht sagen, wo ich mich befinden werde. Mit viel Glück bin ich aber nicht sehr lange fort. Und ich werde mit Nachrichten der einen oder der anderen Art zurückkommen."
Bis zum Frühstück hörte ich nichts von ihm. Als ich den Standard aufschlug, fand ich eine frische Anspielung auf unser Unternehmen. "Zur Norwood-Tragödie," berichtete man, "wird angenommen, dass der Fall doch komplexer und mysteriöser ist als ursprünglich angenommen wurde. Neuere Hinweise haben ergeben, dass Mr. Thaddeus Sholto unmöglich mit dem Mordfall in Verbindung gebracht werden kann. Er und seine Haushälterin Mrs. Bernstone wurden gestern auf freien Fuß gesetzt. Es wird aber vermutet, dass die Polizei einen Hinweis auf die wahren Täter hat. Mr. Athelney Jones von Scotland Yard verfolgt die Spuren mit bekannter Energie und Scharfsinn. Weitere Verhaftungen werden in Kürze erwartet."
"Soweit ist es gut," dachte ich. "Unser Freund Sholto ist jedenfalls gerettet. Was mag die neue Spur sein, von der berichtet wird. Aber das ist sicher eine der Floskeln, die bei der Polizei im Fall von Pannen benutzt wird."
Ich warf die Zeitung auf den Tisch und im gleichen Moment fiel mein Auge auf eine Anzeige in der Rubrik "Verschiedenes". Dort stand:
"Vermisst -- Mordecai Smith, Seemann, und sein Sohn Jim. Verließen Smiths Werft Dienstag gegen drei Uhr mit der Dampfbarkasse Aurora, schwarz mit zwei roten Streifen, Schornstein schwarz mit weißem Band. Fünf Pfund Belohnung für Informationen über Verbleib von genanntem Mordecai Smith oder der Barkasse Aurora. Nachrichten bitte an Mrs. Smith, Smith's Werft, oder an 221b Baker Street."
Das war eindeutig Holmes Werk. Das sah man schon an der Adresse "Baker Street". Ich fand es sehr einfallsreich, da es von den Flüchtigen gelesen werden konnte und dennoch nur auf die natürliche Sorge einer Frau um ihren vermissten Ehemann hinwies.
Ein langer Tag begann. Jedesmal, wenn es an der Tür klopfte oder eilige Schritte auf der Straße zu hören waren, erwartete ich Holmes oder eine Nachricht auf die Anzeige. Ich versuchte zu lesen, aber meine Gedanken wanderten sofort zu unserer Suche nach dem Schurkenpaar, das wir verfolgten. Könnte es einen Fehler in der Gedankenkette meines Begleiters geben? Könnte er einem Trugbild hinterherlaufen? Könnte nicht sein schneller und theoretisierender Verstand eine These aufgestellt haben, die auf falschen Voraussetzungen beruhte? Ich hatte noch nie erlebt, dass er sich geirrt hatte, aber auch der schärfste Verstand täuscht sich gelegentlich. Durch die Überschätzung seiner Logik könnte er einem Fehlschluss aufgesessen sein und eine spitzfindige und feinsinnige Erklärung gewählt haben, wo eine einfache und triviale Lösung auf der Hand lag. Andererseits hatte ich die Beweise gesehen und war mit seinen Folgerungen einverstanden. Im Rückblick auf die lange Kette von Ereignissen sahen viele trivial aus, aber sie führten alle in die gleiche Richtung. Ich konnte nicht verhehlen, dass die Wahrheit erschreckend sein könnte, selbst wenn Holmes' Erklärungen falsch gewesen sein sollten.
Nachmittags um drei Uhr läutete es an der Haustür, ich hörte eine gebieterische Stimme im Hausflur und Mr. Athelney Jones wurde zu mir geführt. Er ähnelte nicht mehr der brüsken und gebieterischen Person, die den Fall in Upper Norwood übernommen hatte. Er war niedergeschlagen, sanftmütig, ja fast entschuldigend.
"Guten Tag, Sir, guten Tag," sagte er, "wie ich sehe, ist Mr. Holmes unterwegs."
"Ja, und ich kann nicht sagen, wann er zurückkommt. Aber vielleicht möchten Sie warten. Setzen Sie sich und nehmen Sie eine dieser Zigarren."
"Danke, ich nehme mir die Freiheit," sagte er und wischte sich das Gesicht mit einem roten Taschentuch.
"Möchten Sie einen Whiskey-Soda?"
"Gern, ein halbes Glas. Für diese Jahreszeit ist es sehr warm und ich habe reichlich Sorgen. Kennen Sie meine Theorie über den Norwood-Fall?"
"Ja, Sie hatten eine Theorie."
"Nun, ich muss sie neu überdenken. Ich hatte mein Netz fest um Mr. Sholto gezogen, als er es mit einem Knall durch ein Loch in der Mitte verließ. Er konnte ein Alibi vorweisen, das nicht zu erschüttern war. Seit er das Zimmer seines Bruders verließ, war er immer von anderen Personen gesehen worden. Er konnte daher nicht derjenige sein, der das Dach erklomm und durch die Falltür hereinkam. Ein sehr dunkler Fall und meine Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel. Ich würde mich über jede Hilfe freuen."
"Wir alle brauchen manchmal Hilfe," sagte ich.
"Ihr Freund Sherlock Holmes ist ein bemerkenswerter Mann, Sir," sagte er mit heiserer und vertraulicher Stimme. "Er ist unermüdlich. Ich habe ihn schon eine Menge Fälle bearbeiten gesehen, und noch in jeden Fall hat er bisher Licht gebracht. So ungewöhnlich seine Methoden auch sind, und wie schnell er sich auch auf Theorien versteift, letztendlich hätte er einen guten Polizeioffizier abgegeben. Heute morgen erhielt ich von ihm ein Telegramm, dem ich entnahm, dass er neue Anhaltspunkte zum Sholto-Fall gefunden hat. Hier ist die Nachricht."
Er nahm das Telegramm aus der Tasche und gab es mir. Es war um zwölf Uhr in Poplar aufgegeben. "Gehen Sie sofort zur Baker Street. Falls ich nicht dort bin, warten Sie. Ich bin der Sholto Gang auf den Fersen. Wenn Sie am Finale teilnehmen wollen, begleiten Sie uns heute Nacht."
"Das klingt gut. Er hat anscheinend die Fährte wieder aufgenommen," sagte ich.
"Oh, dann hatte auch er sich getäuscht," eiferte er mit sichtlicher Befriedigung. "Auch die Besten täuschen sich manchmal. Natürlich kann es ein falscher Alarm sein, aber meine Pflicht als Polizist verlangt, dass ich keine Gelegenheit verpasse. Doch da klopft jemand an der Tür. Vielleicht ist er es."
Wir hörten schwere Schritte heraufkommen, der pfeifende und röchelnde Klang war ein Anzeichen von Atemnot. Der Ankömmling stoppte mehrfach, als wäre der Aufstieg zu beschwerlich für ihn; doch schließlich betrat er unser Zimmer. Sein Aussehen entsprach den von uns gehörten Geräuschen. Es war ein älterer Mann in Seemannskleidung und hochgeschlossenem Rollkragenpullover. Er hatte einem gebeugten Rücken, wacklige Knie und offensichtlich asthmatische Beschwerden. Auf einen dicken eichernen Stock gestützt, zeigte das Heben seiner Schultern die Anstrengung, genügend Luft in seine Lungen zu bekommen. Um den Hals trug er einen farbigen Schal, vom Gesicht sah man nur die grauen Schnurrbarthaare und ein Paar scharfe dunkle Augen, die von buschigen Augenbrauen bedeckt wurden. Er machte auf mich den Eindruck eines ehrbaren Seemanns, mit deutlichen Anzeichen von Alter und Armut.
"Worum geht es?" fragte ich.
Er schaute mit der Bedächtigkeit des Alters herum.
"Ist Mr. Sherlock Holmes hier?" fragte er.
"Nein. Aber ich vertrete ihn. Sie können mir jede Mitteilung an ihn übermitteln."
"Ich will nur mit ihm reden," sagte er.
"Ich sagte bereits, ich vertrete ihn. Geht es um Mordecai Smith's Schiff?"
"Ja, ich weiß, wo es ist. Und weiß auch, wo die Männer sind, hinter denen er her ist. Und weiß, wo der Schatz ist. Weiß alles darüber."
"Dann reden Sie, und ich erzähle es ihm."
"Ich erzähl' es nur ihm," sagte er mit der Hartnäckigkeit eines gereizten alten Mannes.
"Gut, dann müssen Sie auf ihn warten."
"Nein, nein; ich bleib' hier keinen ganzen Tag, nur aus Gefälligkeit. Wenn Mr. Holmes nicht da ist, muss er es eben selbst herausfinden. Eure Gesichter gefallen mir nicht und ich sage kein Wort."
Er schlurfte zur Tür, aber Athelney Jones stellte sich vor ihm auf.
"Momentchen, mein Freund," sagte er. "Sie haben wichtige Informationen und Sie können nicht einfach fortgehen. Wir behalten Sie hier bis unser Freund zurück ist, ob Sie wollen oder nicht."
Der alte Mann versuchte, durch die Tür zu entkommen, aber er erkannte die Zwecklosigkeit des Versuchs, weil Athelney Jones seine breiten Schultern in der Tür platzierte.
"Das ist 'ne schöne Behandlung!" rief er und stampfte mit dem Stock auf. "Ich kam, um einen Gentleman zu sehen, und Sie beide behandeln mich in einer derartigen Weise!"
"Es hätte Schlimmeres passieren können," sagte ich. "Wir werden Sie für die Wartezeit entschädigen. Setzen Sie sich hier auf das Sofa. Sie werden nicht lange warten müssen."
Er kam mürrisch herüber und setzte sich, den Kopf in die Hände gestützt. Jones und ich nahmen die Unterhaltung wieder auf, bis uns kurze Zeit später die Stimme von Holmes unterbrach.
"Sie könnten mir ruhig auch eine Zigarre anbieten," sagte er.
Beide sprangen wir aus unseren Stühlen. Holmes saß plötzlich auf dem Sofa und schaute uns amüsiert an.
"Wieso sind Sie plötzlich hier!" rief ich aus, "und wo ist der alte Mann?"
"Hier ist er," sagte er und zeigte ein Büschel weißer Haare. "Hier ist er, mit Perücke, Schnurrbart, Augenbrauen und allem anderen. Ich wusste, meine Verkleidung war recht gut, aber dass sie den Test besteht, hätte ich nicht gedacht."
"Oh, Sie Gauner!" rief Jones begeistert, "Sie würden einen guten Schauspieler abgeben, und zwar einen, wie man ihn selten findet. Sie hatten den typischen Husten eines Zwangsarbeiters aus dem Armenhaus und Ihre schwachen Beine würden nur zehn Pfund die Woche bringen. Aber beinahe hätte ich Sie am Glanz Ihrer Augen erkannt. Sie wären uns nicht so leicht entkommen."
"Ich habe heute den ganzen Tag in dieser Aufmachung gearbeitet", sagte er und zündete sich die Zigarre an. "Viele Leute aus dem kriminellen Lager kennen mich bereits -- seit unser Freund hier einige meiner Fälle veröffentlicht hat. So kann ich mich nur noch in Verkleidung auf den Kriegspfad begeben. Haben Sie mein Telegramm erhalten?"
"Ja, deshalb bin ich hier."
"Und wie ist Ihr Fall gediehen?"
"Fast wieder bei Null angekommen. Ich musste zwei der Festgenommenen freilassen und bei den anderen beiden gibt es nicht genügend Beweise."
"Kein Problem, wir geben Ihnen statt dessen zwei neue. Aber Sie müssen sich meinen Befehlen beugen. Die öffentliche Belobigung dürfen Sie einheimsen, aber Sie müssen meinen Richtlinien entsprechend mitarbeiten. Sind Sie damit einverstanden?"
"Uneingeschränkt, wenn ich die Leute damit erwische."
"Gut, dann brauche ich erst einmal ein schnelles Polizeiboot, das um sieben Uhr bei Westminster bereitsteht."
"Das kann ich schnell erledigen. In der Nähe liegt ein Boot; ich werde kurz telefonieren und das arrangieren."
"Dann brauche ich zwei zuverlässige Männer, falls es Widerstand gibt."
"Zwei oder drei befinden sich auf den Boot. Was brauchen Sie noch?"
"Wenn wir die Männer festgenommen haben, werden wir den Schatz haben. Ich glaube, mein Freund hier wird es sich nicht nehmen lassen, ihn der jungen Dame geben zu wollen, der rechtmäßig die Hälfte gehört. Sie soll die erste sein, die die Schatzkiste öffnet -- einverstanden, Watson?"
"Es wäre mir ein Vergnügen."
"Eine recht ungewöhnliche Reihenfolge," sagte Jones. "Aber die ganze Sache ist ungewöhnlich. Und wir müssen dabei ein Auge zudrücken. Aber danach muss der Schatz den Behörden übergeben werden, bis die offizielle Untersuchung abgeschlossen ist."
"Sicher. Das wird erfolgen. Noch ein weiterer Punkt. Einige Einzelheiten muss mir Jonathan Small noch selbst erzählen. Denn ich möchte alle Einzelheiten meiner Fälle geklärt wissen. Erklären Sie sich mit einem inoffiziellen Interview einverstanden, wenn es hier oder anderswo unter strenger Bewachung erfolgt?"
"Ja, denn Sie haben jetzt das Sagen. Ich hatte bisher noch keinen Beweis für die Existenz dieses Jonathan Small. Wenn Sie ihn aber fangen, kann ich Ihnen das Interview wohl kaum verwehren."
"Dann haben wir uns verstanden?"
"Vollkommen, gibt es sonst noch etwas?"
"Nein, aber ich bestehe darauf, dass Sie mit uns speisen. Das Essen wird in einer halben Stunde serviert. Es gibt Austern und zwei Moorhühner, dazu Weißwein nach Ihrer Wahl. Watson, haben Sie eigentlich schon gemerkt, welch guter Gastgeber ich bin?"
Das Ende des Insulaners
Wir hatten eine ausgezeichnete Mahlzeit. Wenn Holmes wollte, konnte er sehr unterhaltsam sein; und heute wollte er . Er befand sich in einem Zustand nervöser Erregung. Selten hatte ich ihn so brillant erlebt. In munterer Reihenfolge sprach er über eine Reihe von Themen -- über Wundererscheinungen, mittelalterliche Töpferkunst, die Stradivari-Violine, den ceylonesischen Buddhismus und über Kriegsschiffe der Zukunft. Jedes Thema behandelte er so, als hätte er darüber spezielle Studien angestellt. Seine humorvolle Darstellung stand in deutlichem Kontrast zu den dunklen Depressionen der vergangenen Tage. Athelney Jones erwies sich bei inoffiziellen Treffen als geselliger Typ und genoss das Dinner. Ich selbst verspürte Begeisterung darüber, dass wir uns dem Ende des Abenteuers näherten und fing etwas von Holmes' Fröhlichkeit ein. Keiner von uns sprach während des Essens über die Umstände, die uns zu diesem zusammengeführt hatten.
Als die Speisen abgeräumt wurden, schaute Holmes auf die Uhr und füllte drei Gläser mit Portwein. "Einen Schluck auf den Erfolg unserer Expedition," sagte er, "Und nun müssen wir uns beeilen. Watson, haben Sie eine Pistole dabei?"
"Mein Dienstrevolver ist im Schreibtisch."
"Dann nehmen Sie ihn bitte. Wir müssen gewappnet sein. Die Droschke steht bereits vor der Tür. Ich habe sie für halb sieben bestellt."
Es war kurz nach sieben Uhr als wir die Kaianlage von Westminster erreichten. Unser Boot war bereits dort. Holmes beäugte es kritisch.
"Kann man es als Polizeiboot erkennen?"
"Ja, am grünen Seitenlicht."
"Dann nehmen Sie es weg."
Diese kleine Veränderung wurde vorgenommen und wir gingen an Bord. Die Leinen wurden losgeworfen; ich setzte mich ins Heck Ein Mann stand am Ruder, einer kümmerte sich um die Maschine, zwei stämmige Inspektoren saßen im Bugbereich.
"Wohin?" fragte Jones.
"Zum Tower. Sagen Sie ihnen, dass wir auf der anderen Seite vom Jacobson Yard anhalten werden."
Wir hatten offensichtlich ein sehr schnelles Schiff. Wir schossen an der langen Kette beladener Kähne vorbei, als würden sie sich nicht durch das Wasser bewegen. Holmes lächelte zufrieden, als wir ein Dampfschiff überholten und hinter uns ließen.
"So können wir jeden auf dem Fluss erwischen," sagte er.
"Nicht alle, aber nur wenige Dampfschiffe können uns schlagen."
"Wir müssen die Aurora fangen, obwohl sie ein sehr schnelles Schiff ist. Ich sage Ihnen, wie sie aussieht, Watson. Erinnern Sie sich, wie ärgerlich ich über eine nichtige Sache wurde?"
"Ja"
"Nun, ich habe meinen Verstand durch eine chemische Analyse beruhigt. Einer unserer größten Staatsmänner hat gesagt, dass eine Veränderung der Arbeitsweise die beste Beruhigung ist. Das stimmt. Als ich die Kohlenwasserstoffe erfolgreich auflöste, kam ich zu unserem Sholto-Problem zurück und überdachte alles noch einmal. Die Jungen haben ohne Erfolg flussauf und flussab gesucht. Die Barkasse war an keinem Landeplatz, an keinem Kai und ist auch nicht zurückgekehrt. Und konnte auch nicht versenkt worden sein, um ihre Spuren zu verbergen -- obwohl dies als mögliche Hypothese bleibt, wenn alles andere sich als falsch erweist. Small hat eine gewisse Art von Schläue, besitzt aber keine Veranlagung zu größerer Raffiniertheit. Dazu gehört normalerweise eine andere Ausbildung. Dann fiel mir auf, dass er schon länger in London gewesen sein musste -- da wir wissen, dass er Pondicherry Lodge längere Zeit beobachtete -- und dass er mindestens einen Tag benötigte, um alles zu arrangieren.
"Diese Argumentation erscheint mir ein wenig schwach," sagte ich. "Hätte er nicht alles arrangieren können, bevor er aufbrach?"
"Ich glaube nicht. Das Versteck wird er solange behalten, bis er weiß, dass er ohne das Versteck sein Ziel erreichen kann. Aber mir ist noch eine andere Sache aufgefallen. Jonathan Small muss erkannt haben, dass das ungewöhnliche Aussehen seines Begleiters trotz aller Verkleidung zu Gerüchten führen könnte, die mit dem Norwood Fall in Verbindung gebracht werden könnten. So scharfsichtig war er schon. Von ihrem Versteck aus sind sie in der Dunkelheit aufgebrochen und wollten vor Tageslicht zurück sein. Als sie bei der Barkasse ankamen, war es nach Aussage von Mrs. Smith bereits drei Uhr vorbei. Innerhalb einer Stunde wäre es hell und Leute kämen vorüber. Also nehme ich an, dass sie nicht weit kamen. Sie bezahlten Smith für sein Schweigen, reservierten sich die Barkasse für die spätere Flucht und verschwanden in ihrem Versteck mit dem Schatz. Während der nächsten paar Tage konnten sie die Nachrichten in den Zeitungen verfolgen und falls der Verdacht auf sie fiele, sich im Schutze der Nacht ihr Schiff in Gravesend oder in den Downs suchen, für das sie zweifellos schon eine Überfahrt nach Amerika oder in die Kolonien arrangiert hatten."
"Aber sie konnten die Barkasse doch nicht mit in ihr Versteck nehmen."
"So ist es. Ich vermutete das Schiff trotzt seiner Unsichtbarkeit ganz in dessen Nähe. Ich habe versucht, mich in Small hineinzuversetzen und es mit seinen Augen zu betrachten. Er hatte die Rückführung der Barkasse oder ihre Unterbringung an einem Kai verworfen, da ihre Entdeckung die Polizei leicht auf seine Spur führen könnte. Wie also konnte er das Schiff gleichzeitig verstecken und dennoch sofort zur Hand haben? Ich überlegte, was ich an seiner Stelle getan hätte; und ich konnte mir nur einen Weg vorstellen. Ich müsste sie zu einer Werft oder einem Reparaturbetrieb bringen und dort nur unwesentliche Reparaturen ausführen lassen. Die Barkasse wäre dann im Bootsschuppen oder Dock und damit gut verborgen. Doch gleichzeitig wäre sie in wenigen Stunden wieder betriebsbereit."
"Das ist eine einleuchtende Erklärung."
Aber genau solche einfachen Sachen werden leicht übersehen. Ich beschloss, diese Idee weiter zu verfolgen. So begann ich in dieser Seemannskleidung alle Werften flussab zu befragen. Bis zur fünfzehnten waren es nur Fehlanzeigen, aber bei Jacobsen erfuhr ich, dass die Aurora ihnen von einem Mann mit Holzbein vor zwei Tagen überlassen worden war. Es sollten nur kleine Reparaturen am Ruder ausgeführt werden. 'Es war aber nichts am Ruder,' sagte mir der Vorarbeiter. 'Dort liegt sie, die mit den roten Streifen.' Und im gleichen Moment kam Mordecai Smith, der vermisste Besitzer. Er war stark angetrunken. Ich hatte ihn vorher zwar nie gesehen, aber er rief seinen Namen und den des Schiffes. 'Ich brauche sie heute abend um acht Uhr, und zwar pünktlich, denn ich habe zwei Gentlemen, die nicht warten mögen.' Man hatte ihn augenscheinlich gut bezahlt, denn er warf den Männern einige Shillinge zu. Ich folgte ihm in einiger Entfernung. Als er in einer Kneipe einkehrte, ging ich zur Werft zurück. Unterwegs traf ich auf einen Jungen meiner Gang und stellte ihn als Wache bei der Barkasse ab. Er steht dicht am Wasser und wird mit seinem Taschentuch winken, wenn sie ablegen. Wir werden mitten im Fluss liegen und es wäre schon sehr seltsam, wenn wir nicht die Männer und den Schatz fangen würden."
"Sie haben alles sehr gewissenhaft geplant, egal ob es die richtigen oder die falschen Männer sind," sagte Jones. "Aber wenn ich für den Fall verantwortlich wäre, hätte ich ein paar Polizisten auf Jacobson's Werft platziert und sie sofort beim Erscheinen verhaftet."
"Dann wären sie wohl nicht erschienen. Dieser Small ist ein schlauer Bursche. Er würde einen Späher vorausschicken und wenn ihm etwas verdächtig wäre, würde er gemütlich eine weitere Woche abwarten."
"Aber wenn Sie bei Mordecai Smith geblieben wären, hätte dieser Sie zum Versteck führen können," sagte ich.
"Dann hätte ich den ganzen Tag verschwendet. Ich wette hundert zu eins, dass er nicht weiß, wo sie sich aufhalten. Solange er Schnaps und Geld hat, wird er keine Fragen stellen. Sie benachrichtigen ihn, was er zu tun hat. Ich habe alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen und diese ist am wahrscheinlichsten."
Während unserer Unterhaltung waren wir unter einer Reihe von Themsebrücken hindurchgeschossen. Als wir am Stadtzentrum vorbeikamen, schmückten die letzten Strahlen der Sonne das Kreuz auf der Kuppel der St. Paul's Kathedrale. Es war Dämmerung, bevor wir den Tower erreichten.
"Dort ist Jacobson's Werft," sagte Holmes und zeigte auf eine Ansammlung von Masten und Takelage auf der Surrey-Seite des Flusses. "Fahren sie langsam im Schutz dieser Reihe von Lichtern hin und her." Er nahm ein Nachtsichtglas aus seiner Tasche und starrte einige Zeit ans Ufer. "Meine Wache steht auf ihrem Posten," bemerkte er, "aber kein Zeichen eines Taschentuchs."
"Wie wäre es, wenn wir ein Stück flussabwärts fahren und ihnen dort auflauern," sagte Jones beflissen. Mittlerweile waren wir alle ungeduldig geworden, die Polizisten und Heizer eingeschlossen, die nur eine vage Ahnung von dem hatten, was hier vorging.
"Wir können nichts als gesichert betrachten," antwortete Holmes. "Es steht zehn zu eins, dass sie flussabwärts wollen, aber wir können nicht sicher sein. Von hier aus sehen wir die Einfahrt der Werft und sie können uns nicht sehen. Die Nacht ist wolkenlos und wir haben genügend Licht. Wir bleiben, wo wir sind. Sehen Sie nur, wieviel Leute unter den Gaslaternen passieren."
"Sie kommen alle von ihrer Arbeit auf der Werft."
"Dreckige Schurken, aber jeder hat einen unsterblichen Funken in sich verborgen. Man kann es ihnen nicht ansehen. Es gibt keine a-priori Wahrscheinlichkeit dafür. Welch seltsames Rätsel ist der Mensch!"
"Jemand nannte es 'die Seele im Tier' ," schlug ich vor.
"Winwood Reade hat darüber gut geschrieben," sagte Holmes. "Er sagte, dass der einzelne Mensch ein unlösbares Puzzle darstellt. Aber in der Gesamtheit gesehen ist er eine berechenbare Größe. So kann man nie vorhersagen, was ein Mensch gerade tun wird; aber ab einer gewissen Zahl können Sie es präzise vorhersagen. Die Individuen variieren, aber die Prozentzahlen bleiben konstant -- sagt der Statistiker. Aber sehe ich dort nicht ein Taschentuch? Dort flattert doch etwas weißes."
"Ja, es ist ihr Junge," rief ich. "Ich kann ihn genau erkennen."
"Und dort ist die Aurora," rief Holmes, "und fährt wie der Teufel! Volle Kraft voraus! Folgen Sie der Barkasse mit dem gelben Licht. Um Himmels willen, ich verzeihe es mir nie, wenn wir ihr nicht auf den Fersen bleiben können!"
Die Barkasse war unbemerkt durch das kleine Werfttor geschlüpft, passierte hinter einigen kleineren Schiffen und hatte Fahrt aufgenommen, bevor wir sie entdeckten. Nun flog sie flussabwärts, dicht am Ufer entlang und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Jones sah sie besorgt an und schüttelte den Kopf.
"Sie ist sehr schnell," sagte er, " ich bezweifle, dass wir sie einholen können."
"Wir müssen sie einholen!" rief Holmes zwischen den Zähnen hindurch. "Schaufeln Sie, Heizer! Holen Sie alles aus ihr heraus! Und wenn auch die Kessel platzen, wir müssen sie haben!"
Wir waren ihr jetzt ziemlich nahe. Die Brennöfen bullerten und die mächtigen Maschinen zischten und rasselten wie ein gewaltiges metallisches Herz. Der spitze, steile Bug zerschnitt das Wasser des Flusses und erzeugte auf beiden Seiten mächtige, sich brechende Wellen. Mit jedem Klopfen der Maschine hüpfte und zitterte das Schiff wie ein lebendiges Wesen. Eine große gelbe Laterne an unserem Bug warf ihren langen, flackernden Lichtkegel voraus. Genau voraus zeigt ein dunkler Fleck auf dem Wasser die Position der Aurora. Der hinter ihr aufgewirbelte weiße Schaum verriet das Tempo, mit dem sie vorwärtsschoss. Wir durchkreuzten den Kurs von kleinen Barken, Dampfschiffen, bald vorbei, bald dazwischen oder drum herum. Es hagelte Flüche aus der Dunkelheit; die Aurora donnerte voran und wir folgten ihr dicht dahinter.
"Mehr Kohlen, mehr Kohlen!" schrie Holmes, als er in den Maschinenraum sah. Die Glut der Öfen beleuchtete sein ungeduldiges Adlergesicht. "Machen Sie Dampf, soviel nur geht."
"Ich glaube, wir haben ein wenig aufgeholt," sagte Jones, der die Aurora beobachtete.
"Ich glaube auch," sagte ich. "Wir werden sie in ein paar Minuten eingeholt haben."
Wie es das Schicksal wollte, kam in diesem Moment ein Schlepper mit drei Lastkähnen im Schlepptau genau zwischen uns. Nur durch hartes Ruderlegen wurde ein Zusammenstoß vermieden, aber bevor wir den Schleppzug umrundeten, hatte die Aurora mehr als zweihundert Yards gewonnen. Aber sie war immer noch in guter Sichtweite und die unsichere Dämmerung verwandelte sich in eine sternklare Nacht. Unsere Kessel waren bis zum Äußersten beansprucht und der zerbrechliche Rumpf vibrierte und knarrte unter den gewaltigen Kräften, die uns vorantrieben. Wir hatten den Pool passiert, waren schon hinter den West India Docks, die lange Deptford Reach entlang und umrundeten die Isle of Dogs. Der dunkle Fleck vor uns löste sich auf und verwandelte sich zusehends in die zierliche Aurora. Jones richtete unsere Suchlampe auf sie, und wir konnten deutlich die Personen an Bord erkennen. Ein Mann saß im Heck und beugte sich über einen schwarzen Gegenstand zwischen seinen Knien. Neben ihm lag ein dunkles Etwas, das wie ein Neufundländer aussah. Der junge Smith hielt die Pinne. Im rotglänzenden Schein der Öfen sah ich den bis zur Hüfte nackten alten Smith, wie er um sein Leben Kohlen schaufelte. Sie mochten zuerst gezweifelt haben, ob wir ihnen wirklich folgten. Aber nun konnte kein Zweifel mehr daran sein, da wir ihnen bei jeder Wendung und Drehung folgten. In Höhe von Greenwich waren wir nur noch dreihundert Schritt von ihnen entfernt, in Blackwell waren es nur noch zweihundertfünfzig. In meinem wechselvollen Leben habe ich viele Kreaturen in den unterschiedlichsten Ländern gejagt, aber noch nie hatte der Jagdsport mir einen so aufregenden Nervenkitzel gegeben wie in dieser verrückten Menschenjagd auf der Themse. Yard um Yard kamen wir ihnen näher. In der nächtlichen Stille konnten wir das Keuchen und Stampfen ihrer Maschinen hören. Der Mann im Heck kauerte noch immer auf dem Deck und seine Arme bewegten sich geschäftig. Ab und zu schaute er hoch und maß die Entfernung zwischen den Schiffen. Wir kamen näher und näher. Jones rief ihnen zu, die Maschinen zu stoppen. Wir waren nur noch vier Bootslängen hinter ihnen, beide Schiffe mit einer gewaltigen Geschwindigkeit. Hier war der Flussverlauf ohne Biegungen, Barking Level auf der einen und die eintönigen Plumstead Marshes auf der anderen Seite. Auf unseren Zuruf hin sprang der Mann im Heck vom Deck auf, schüttelte seine geballten Fäuste gegen uns und fluchte in einer hohen, sich überschlagenden Stimme. Er war ein stämmiger, großer Mann. Als er sich an Deck ausbalancierte, sah ich, dass er auf der rechten Seite vom Oberschenkel an einen hölzernen Stumpf hatte. Beim Klang seiner scharfen, bösartigen Flüche bewegte sich das Bündel an Deck. Es richtete sich auf und wurde zu einem kleinen schwarzen Mann -- dem kleinsten, den ich je gesehen hatte -- mit einem großen, missgestalteten Kopf und einem Büschel verfilzter, zerzauster Haare. Holmes hatte schon seinen Revolver gezogen und beim Anblick dieser wilden, verformten Kreatur zog auch ich meinen Revolver. Er war in eine Art dunkle Decke eingehüllt, die nur sein Gesicht freiließ; aber dieses Gesicht genügte, um jemanden schlaflose Nächte zu bescheren. Nie zuvor hatte ich solche Bestialität und Grausamkeit in einem Gesicht gesehen. Seine kleinen Augen glühten und brannten in düsterem Licht, seine dicken Lippen stülpten sich vor die Zähne, die uns mit nahezu tierischer Wut angrinsten und losschnatterten.
"Feuern Sie, wenn er die Hand hebt," sagte Holmes ruhig. Wir waren weniger als eine Bootslänge entfernt und konnten unsere Beute fast berühren. Ich konnte beide jetzt deutlich sehen, der Weiße mit seinen weit gespreizten Beinen, Geschrei und Flüche ausstoßend und daneben der heidnische Zwerg mit dem hässlichen Gesicht, dessen kräftige gelbe Zähne im Licht unserer Lampe knirschten.
Es war vorteilhaft, dass wir ihn so deutlich sehen konnten. Trotz unseres Zusehens zog er aus seiner Körperbedeckung ein kurzes, rundes Holzstück hervor, das wie ein Zeigestock aussah und führte es an seine Lippen. Unsere Pistolen erklangen gleichzeitig. Er wirbelte herum, warf die Arme hoch und fiel mit einem würgenden Husten seitlich ins Wasser. Inmitten der weißen Wasserwirbel fing ich einen Blick seiner giftigen, drohenden Augen auf. Im gleichen Moment sprang der Mann mit dem Holzbein ans Ruder und riss es herum. Das Boot schoss aufs südliche Ufer zu, während wir knapp an seinem Heck im Abstand von wenigen Fuß vorbeischossen. Im nächsten Moment waren wir hinter dem Schiff, es war aber schon dicht an der Böschung. Es war ein wilder und öder Ort, der Mond beschien eine breite sumpfige Stelle, flaches stehendes Wasser und Sumpf mit absterbender Vegetation. Mit einem dumpfen Geräusch rutschte die Barkasse eine Schlammbank hinauf; der Bug ragte in die Luft, das Heck ins Wasser. Der Flüchtige sprang hinaus, aber sein Holzstumpf versank sofort im schlammigen Boden. Er kämpfte vergeblich, denn er konnte weder einen Schritt vorwärts noch einen Schritt zurück machen. Er schrie in ohnmächtiger Wut und trat mit dem gesunden Fuß krampfhaft in den Schlamm. Doch sein hölzerner Schaft sank nur immer weiter in den Schlamm. Als wir unsere Barkasse längsseits brachten, war er so fest im Schlick verankert, dass wir ihn nur herausziehen konnten, indem wir ein Seil über seine Schultern warfen. Wir konnten ihn wie einen großen Fisch über die Bordwand einholen. Die beiden Smiths, Vater und Sohn, saßen mürrisch auf dem Schiff und kamen auf unseren Befehl hin ohne Widerstreben an Bord. Wir zogen die Aurora von der Schlickbank und vertäuten sie an unserem Heck. Eine solide Truhe indischer Fabrikation stand an Deck. Sie musste zweifellos den fluchbeladenen Schatz der Sholtos enthalten. Ein Schlüssel war nicht vorhanden und wir mussten das schwere Teil vorsichtig in unsere Kabine bugsieren. Während wir langsam wieder stromaufwärts dampften, leuchteten wir mit unserer Suchlampe in alle Richtungen, konnten aber keine Spur des Insulaner finden. Irgendwo im Schlamm am Boden der Themse liegen die Knochen dieses seltsamen Besuchers unserer Insel.
"Schauen Sie," sagte Holmes und zeigte zur hölzernen Luke. "Wir waren gerade schnell genug mit unseren Pistolen." Und genau dort, wo wir vorhin gestanden hatten, steckte eines der mörderischen Geschosse, die wir so gut kannten. Es muss im gleichen Augenblick zwischen uns geflogen sein, als wir unsere Pistolen abfeuerten. Holmes lächelte darüber und zuckte in seiner leichtfertigen Art mit den Schultern. Aber ich gestehe, dass es mich krank machte, an den schrecklichen Tod zu denken, der uns diese Nacht so knapp verfehlt hatte.
Der große Agra Schatz
Unser Gefangener saß in der Kabine der großen eisernen Truhe gegenüber, für die er so viel angestellt hatte und auf die er so lange gewartet hatte. Er war ein sonnengebräunter Bursche mit ruhelosen Augen; die zahlloses Furchen und Falten seines mahagonifarbenen Gesicht verrieten ein hartes Leben unter freiem Himmel. Das vorstehende bärtige Kinn ließ einen Menschen erkennen, der nicht leicht von seinem einmal gewählten Weg abgebracht werden konnte. Er musste um die fünfzig Jahre alt sein, denn das schwarze, lockige Haar war schon mit grauen Strähnen durchsetzt. Sein entspanntes Gesicht wirkte sympathisch, nur die dichten Augenbrauen und das energische Kinn erzeugten den grausamen Gesichtsausdruck, den ich noch kürzlich erlebt hatte. Er saß jetzt mit den gefesselten Händen in seinem Schoß, den Kopf leicht zur Brust gesenkt. Mit seinen scharfen, blitzenden Augen sah er auf die Kiste, die der Grund all seine Schandtaten war. Ich seinem starren und gefassten Gesichtsausdruck fand ich mehr Trauer als Ärger. Und sobald er mich ansah, trat ein Anflug von Belustigung in seine Augen.
"Nun, Jonathan Small," sagte Holmes und zündete sich eine Zigarre an. "Es tut mir leid, dass es soweit gekommen ist."
"Mir geht es ebenso," antwortete er geradeheraus. "Ich kann die Sache nicht rückgängig machen. Ich schwöre bei der Bibel, dass ich nie meine Hand gegen Sholto erhoben habe. Der kleine Höllenhund Tonga hat einen dieser verfluchten Pfeile auf ihn geschossen. Ich hatte damit nichts zu tun, Sir. Es war für mich ebenso schmerzlich wie bei einem nahen Verwandten. Ich habe den kleinen Teufel für diese Tat mit dem losen Ende des Taues verdroschen, aber es war passiert und konnte nicht rückgängig gemacht werden."
"Nehmen Sie eine Zigarre," sagte Holmes. "Und Sie haben genug Gründe, einen guten Schluck aus meiner Flasche zu nehmen, so nass wie Sie sind. Wie konnten Sie von diesem kleinen schwächlichen Wesen annehmen, dass es Mr. Sholto überwältigt und aufhält, während Sie das Seil emporklettern?"
"Sie wissen fast soviel, als wären Sie dabeigewesen, Sir. Eigentlich hatte ich niemanden im Zimmer erwartet. Ich kannte die Gewohnheiten der Hausbewohner recht gut; und es war gerade die Zeit, zu der Mr. Sholto normalerweise zum Supper hinuntergeht. Ich will Ihnen nichts verheimlichen, die Wahrheit wird meine beste Verteidigung sein. Wenn es der alte Major gewesen wäre, hätte ich es leicht mit ihm gehabt. Und ich hätte ihm ebensowenig angetan wie dieser Zigarre hier. Verflucht, warum musste ich auf den jungen Sholto stoßen, mit dem ich nicht den geringsten Streit hatte."
"Sie wurden von Mr. Athelney Jones von Scotland Yard festgenommen. Er wird Sie in meine Wohnung bringen und ich werde Sie über die wahren Hintergründe der Geschichte befragen. Sie sollten ein volles Geständnis ablegen, ich bin sicher, dass es Ihnen weiterhilft. Ich kann vermutlich beweisen, dass das Gift so schnell wirkte, dass der Mann tot war, bevor Sie den Raum betraten."
"So war es, Sir. Noch nie in meinem Leben habe ich einen solchen Schrecken verspürt, wie als ich sein verzerrt grinsendes Gesicht und den zur Seite gefallenen Kopf sah, während ich durchs Fenster stieg. Es hat mich richtig erschüttert und ich hätte Tonga dafür getötet, wenn er nicht so schnell davongeklettert wäre. Deshalb vergaß er seine Keule und einige Pfeile, wie er mir später erzählte. Die haben Sie auf unsere Fährte geführt; doch wie sie es anschließend geschafft haben, kann ich nicht sagen. Ich hege deshalb auch keinen Groll gegen Sie," fuhr er mit einem bitteren Lächeln fort, "aber es ist dennoch verrückt, wo ich doch einen berechtigten Anspruch auf die Hälfte der Million habe. Die erste Hälfte meines Lebens habe ich beim Bau eines Wellenbrechers auf den Andamanen zugebracht und soll nun die andere Hälfte beim Bau von Entwässerungsgräben in Dartmoor zubringen. Verflucht sei der Tag, als ich das erste Mal den Händler Achmet sah und mit dem Agra Schatz in Berührung kam, der noch keinem seiner Besitzer Glück gebracht hat. Ihm brachte er den Tod, Major Sholto brachte er Angst und Schuldgefühle und mir brachte er lebenslange Knechtschaft."
In diesem Moment erschienen Athelney Jones rundes Gesicht und seine breiten Schultern in der Kabinentür. "Oh, ein richtiges Familientreffen," bemerkte er. "Bekomme ich einen Schluck aus der Flasche, Holmes? Ich denke, wir dürfen uns gratulieren. Schade, dass wir den anderen nicht gefasst haben. Holmes, Ihr Plan war sehr gut, wir brauchten sie nur einzuholen!"
"Ende gut, alles gut," sagte Holmes. "Aber ich hatte wirklich nicht erwartet, dass die Aurora ein derart schneller Schiff war."
"Smith sagt, dass sie eine der schnellsten Barkassen auf der Themse sei. Und hätte ihm noch ein weiterer Mann im Maschinenraum geholfen, hätten wir sie nicht erwischt. Er schwört, dass er nichts über den Norwood-Fall weiß."
"Das stimmt," rief unser Gefangener, "er weiß kein Wort darüber. Ich habe sein Schiff nur ausgewählt, weil es solch ein Flitzer ist. Wir sagten ihm nichts und bezahlten ihn reichlich. Er hätte ein weiteres Geschenk erhalten, wenn wir unser Schiff Esmeralda in Gravesend erreicht hätten. Die Esmeralda sollte nach Brasilien fahren."
"Wenn er nichts Schlimmes getan hat, wird ihn auch nichts Schlimmes passieren. Wir fangen unsere Leute zwar schnell, verurteilen sie aber nicht ebenso schnell." Es war amüsant festzustellen, wie schnell sich der wichtigtuerische Jones mit den Federn der geglückten Festnahme schmückte. Am leichten Lächeln in Holmes Gesicht konnte ich erkennen, dass er diese Worte wohl vernommen hatte.
"Wir werden bald an der Brücke von Vauxhall sein," sagte Jones. "Sie, Dr. Watson werden wir mit der Schatzkiste dort absetzen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich hierbei eine schwere Verantwortung übernehme. Es ist sehr ungewöhnlich, aber versprochen ist versprochen. Um meiner Pflicht genüge zu tun, werde ich Ihnen einen Inspektor mitgeben, da Sie eine sehr kostbare Fracht befördern. Werden Sie fahren?"
"Ja, ich werde fahren."
"Schade, dass es keinen Schlüssel gibt, sonst könnten wir zuvor eine Bestandsaufnahme machen. Sie werden sie aufbrechen müssen. Mister, wo ist der Schlüssel?"
"Auf dem Grund der Themse," war Smalls knappe Antwort.
"Hm! Sie sollten uns keine unnötigen Schwierigkeiten machen. Wir hatten schon genug Arbeit durch Sie. Doktor, ich muss Sie jedenfalls warnen, vorsichtig zu sein. Bringen Sie die Kiste dann zur Baker Street zurück. Sie finden uns dort, bevor wir zur Wache fahren."
Man setzte mich in Vauxhall ab. In meiner Begleitung waren die schwere eiserne Kiste sowie ein gutmütiger freundlicher Inspektor. Nach einer Viertelstunde Fahrt erreichten wir das Haus von Mrs. Cecil Forrester. Die Bedienstete war über so spätem Besuch überrascht. Sie erklärte uns, dass Mrs. Forrester diesen Abend ausgegangen war und wahrscheinlich spät zurückkäme. Miss Morstan war aber im Salon, also ging ich in den Salon hinein und nahm die Kiste mit, ließ aber den Inspektor im Wagen zurück.
Sie saß am offenen Fenster und war in ein weißes, durchsichtiges Gewand gekleidet, das an Hals und Hüfte von leichten Tüchern gehalten wurde. Sie saß zurückgelehnt in einem Korbstuhl und das weiche Licht einer abgedunkelten Lampe fiel auf sie, spielte über ihr süßes, ernstes Gesicht und betonte mit einem schwachen, metallischen Schimmer die reiche Lockenpracht ihrer vollen Haare. Der weiße Arm und die Hand hingen über der Seite des Stuhls herab und ihre gesamte Haltung und Figur zeigten Zeichen von Schwermut. Beim Klang meiner Schritte sprang sie auf und ein Anflug von Überraschung und Freude färbte ihre blassen Wangen.
"Ich hörte eine Droschke vorfahren," sagte sie. "Ich glaubte, Mrs. Forrester wäre frühzeitig zurückgekommen. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass Sie es sein könnten. Welche Neuigkeiten bringen Sie mir?"
"Ich bringe mehr als nur Neuigkeiten," sagte ich und stellte die Kiste auf den Tisch. Ich sprach in aufgeräumter und ungestümer Art, obwohl mir schwer ums Herz war. "Ich bringe Ihnen etwas, das mehr wert ist als alle Nachrichten der Welt zusammen. Ich bringe Ihnen ein Vermögen."
Sie schaute auf die eiserne Kiste. "Ist dies der Schatz?" fragte sie mit sehr ruhiger Stimme.
"Ja, es ist der große Agra-Schatz. Eine Hälfte gehört Ihnen, die andere Thaddeus Sholto. Jeder von Ihnen hat ein paar Hunderttausender. Stellen Sie sich das vor! Eine Jahresrente von zehntausend Pfund. Es gibt nur wenige Frauen in England, die reicher sind. Ist es nicht herrlich?"
In meiner Freude hatte ich wohl ein wenig überreagiert und meine Glückwünsche erschienen ihr unglaubwürdig, denn ich sah, wie sie die Augenbrauen hochzog und mich seltsam ansah.
"Wenn es mir gehört," sagte sie, "dann verdanke ich es Ihnen."
"Nein, nein," antwortete ich, "nicht mir, sondern meinem Freund Sherlock Holmes. Auch mit der größten Anstrengung hätte ich nicht alle Anhaltspunkte verfolgen können, die sein analytisches Denken hervorgebracht hat. Beinahe hätten wir noch im letzten Augenblick alles verloren."
"Bitte setzen Sie sich und erzählen Sie mir alles genau, Dr. Watson," sagte sie.
Ich berichtete kurz die Ereignisse seit der letzten Begegnung -- Holmes neue Suchmethode, die Entdeckung der Aurora, das Erscheinen von Athelney Jones, unsere abendliche Expedition und die wilde Jagd auf der Themse. Sie hörte mit offenem Mund und glänzenden Augen der Erzählung unserer Abenteuer zu. Als ich vom Pfeil berichtete, der uns beinahe getroffen hätte, wurde sie so bleich, dass ich schon befürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen.
Als ich mich beeilte, ihr ein wenig Wasser ins Gesicht zu spritzen, sagte sie nur: "Ich bin schon wieder in Ordnung. Es war nur der Schock, als ich hörte, dass ich meine Freunde in solch schreckliche Gefahr gebracht habe."
"Das ist nun vorbei," antwortete ich, "und es war nicht der Rede wert. Ich werde Ihnen keine weiteren verdrießlichen Einzelheiten erzählen. Wenden wir uns den schöneren Seiten zu. Hier ist der Schatz. Was gibt es schöneres? Man hat mich mit ihm zu Ihnen geschickt, denn Sie sind die erste, die den Schatz sehen sollen."
"Es würde mich schon interessieren," sagte sie. Aber die Stimme hatte keinen begierigen Klang. Sie hatte zweifellos bemerkt, dass es unschicklich wäre, über diesen so schwer erworbenen Schatz gleichgültig zu sein.
"Welch hübsche Kiste!" sagte sie und beugte sich darüber. "Sie ist vermutlich in Indien hergestellt worden."
"Ja, die Metallbearbeitung ist typisch für Benares."
"Und so schwer!" rief sie beim Versuch, die Kiste anzuheben. "Auch die Kiste muss sehr wertvoll sein. Wo ist der Schlüssel?"
"Small warf ihn in die Themse," antwortete ich. "Ich muss mir Mrs. Forresters Feuerhaken ausleihen." An der Vorderseite befand sich ein dicker, breiter Verschluss in Form eines sitzenden Buddhas. Ich stieß das Ende des Feuerhakens darunter und hebelte ihn auf. Der Verschluss sprang mit einem lauten Schnappgeräusch auf. Mit zitternden Händen warf ich den Deckel zurück. Wir beide standen stumm vor Erstaunen da. Die Kiste war leer!
Ihr Gewicht war nun nicht mehr verwunderlich. Die Metallarbeiten waren rundherum etwa zweidrittel Zoll dick. Die Kiste war massiv, gut verarbeitet und solide, wie eine Truhe, die wertvolle Dinge enthalten sollte. Aber nicht die geringste Spur von Juwelen oder Edelmetall lagen darin. Die Kiste war vollkommen und absolut leer.
"Der Schatz ist fort," sagte Miss Morstan gefasst.
Als ich ihre Worte vernahm und deren Bedeutung begriff, fiel mir ein schwerer Stein vom Herzen. Jetzt, wo der Agra Schatz fort war, bemerkte ich erst, wie sehr er mich bedrückt hatte. Obwohl es unehrlich, treulos uns selbstsüchtig war, bemerkte ich nur, dass sich die goldene Barriere zwischen uns aufgelöst hatte. "Gott sei Dank!" stieß ich aus ganzem Herzen hervor.
Sie sah mich mit einem schnellen fragenden Lächeln an. "Warum sagen sie das?" fragte sie.
"Weil Sie nun wieder für mich erreichbar sind," sagte ich und nahm ihre Hand. Sie zog sie nicht zurück. "Weil ich Sie liebe, Mary. So sehr, wie kaum ein Mann eine Frau jemals geliebt hat. Dieses Schatz, dieser Reichtum haben meine Lippen versiegelt. Nun, wo alles fort ist, kann ich Ihnen sagen, wie sehr ich Sie liebe. Darum sagte ich 'Gott sei Dank'."
"Dann sage auch ich 'Gott sei Dank'", flüsterte sie, als ich sie an mich zog. Auch wenn jemand in dieser Nacht einen Schatz verlor, ich hatte einen gewonnen.
Die seltsame Geschichte von Jonathan Small
Der Inspektor war geduldig im Wagen geblieben, obwohl er lange auf meine Rückkehr warten musste. Seine Miene verdüsterte sich, als ich ihm die leere Kiste zeigte.
"Weg ist die Belohnung!" sagte er düster. "Wo kein Geld ist, ist auch keine Bezahlung. Diese Nachtschicht hätten mir und Sam Brown jeweils zehn Pfund bringen können, wenn der Schatz dagewesen wäre."
"Mr. Thaddeus Sholto ist reich," sagte ich. "Er wird dafür sorgen, dass Sie belohnt werden; und das auch ohne Schatz."
Der Inspektor schüttelte seinen Kopf mutlos. "Schlechte Arbeit," wiederholte er, "und das gleiche wird Mr. Athelney Jones denken."
Seine Vorhersage war richtig. Der Detektiv war mehr als verblüfft, als ich ihm die leere Kiste zeigte. Er, Holmes und der Gefangene waren gerade eben angekommen. Sie hatten ihren Plan geändert und unterwegs ihren Bericht auf der Wache abgegeben. Mein Begleiter lümmelte sich mit seinem typischen teilnahmslosen Blick in einen Lehnstuhl. Small saß ihm aufrecht gegenüber und hatte das hölzerne Bein über das gesunde gelegt. Als ich die leere Kiste zeigte, lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und lachte laut auf.
"Das war Ihr Werk, Small," sagte Athelney Jones ärgerlich.
"Ja, ich habe es an einen Ort gebracht, wo Sie es nie finden werden," rief er frohlockend. "Es ist mein Schatz, und wenn ich diese Beute nicht haben kann, werde ich dafür sorgen, dass niemand sie bekommt. Kein Lebender hat das Recht daran, außer mir und drei anderen Männern aus den Strafbaracken der Andamanen. Nun weiß ich, dass weder sie noch ich allein jemals davon Gebrauch machen können. Ich habe sowohl für sie wie auch für mich gearbeitet. Aber das Zeichen der Vier war immer dabei. Sie hätten es ebenso wie ich getan, und den Schatz lieber in der Themse versenkt als ihn den Freunden oder Erben von Sholto oder Morstan zu geben. Was wir für Achmet taten, sollte keinen reich machen. Der Schatz ist dort, wo der Schlüssel ist -- und wo der kleine Tonga ist. Als ich sah, dass uns die Barkasse erwischt, habe ich die Beute an eine sichere Stelle gebracht. Und Sie sehen keine Rupie davon."
"Sie belügen uns, Small," sagte Athelney Jones streng. "Falls Sie den Schatz in die Themse werfen wollten, wäre es einfacher gewesen, die gesamte Kiste zu versenken."
"Ich hätte sie einfach geworfen und Sie hätten Sie einfacher gefunden," antwortete er mit einem schlauen Seitenblick. "Wer klug genug ist, mich zu jagen, ist auch klug genug, eine Eisenkiste auf dem Grund eines Flusses zu heben. Nun, wo alles über fünf Meilen verstreut liegt, wird es eine schwierigere Arbeit werden. Es fiel mir schwer, das zu tun. Ich war wie von Sinnen, als Sie immer näher kamen. Aber man braucht darüber nicht zu trauern. Mein Leben hatte Höhen und Tiefen, aber über verschüttete Milch sollte man nicht trauern."
"Das spricht schwer gegen Sie, Small," sagte der Detektiv. "Wenn Sie der Justiz geholfen hätten, anstatt uns so zu behindern, wäre das Urteil vor Gericht günstiger für Sie ausgefallen."
"Gerechtigkeit," stieß der Ex-Sträfling hervor. "Eine schöne Gerechtigkeit! Wem anders gehört der Kies als uns? Ist es gerecht, wenn ich es denen gebe, die es nicht verdient haben? Denken Sie daran, wie ich es verdient habe! Zwanzig Jahre im fieberverseuchten Sumpf, tägliche Arbeit zwischen den Mangroven, jede Nacht angekettet in den dreckigen Hütten der Zwangsarbeiter, gestochen von Moskitos, von Schüttelfrost gequält und von jedem verfluchten schwarzen Wächter tyrannisiert, der sich gegen einen Weißen aufspielen wollte. So habe ich mir den Agra-Schatz verdient. Und Sie reden mir über Gerechtigkeit, nur weil ich es nicht ertragen kann, dass sich jemand anderes an dem Preis ergötzt, den ich bezahlt habe! Ich würde lieber am Galgen baumeln oder einen von Tongas Pfeilen in der Haut haben, als in einer Gefängniszelle zu leben und zu wissen, dass jemand anders mit dem Geld, das eigentlich mir gehört, es sich in einem Palast wohl gehen lässt." Small hatte seine gleichmütige Maske abgeworfen und alles kam in einem wilden Wirbel von Worten heraus. Seine Augen loderten und die Handschellen schlugen bei den leidenschaftlichen Bewegungen seiner Hände zusammen. Als ich die Wut und Leidenschaft dieses Mannes sah, konnte ich verstehen, dass Mr. Sholto nicht ohne Grund mit Horror reagierte, als er bemerkte, dass der Verbrecher ihm auf der Spur war.
"Sie vergessen, dass wir nichts darüber wissen," sagte Holmes ruhig. "Wir kennen Ihre Geschichte nicht; und wir wissen auch nicht, inwieweit die Gerechtigkeit auf Ihrer Seite steht."
"Nun Sir, bisher waren Sie sehr höflich zu mir, obwohl ich weiß, dass ich diese Armbänder um meinen Handgelenken Ihnen verdanke. Aber ich habe noch immer keinen Groll gegen Sie. Bisher war es gerecht und ehrlich. Wenn Sie meine Geschichte hören wollen, werde ich sie nicht verschweigen. Jedes Wort, das ich Ihnen sage, ist wahr. Danke, Sie können das Glas hier abstellen, ich nehme einen Schluck, wenn mir die Kehle trocken wird.
"Ich stamme aus Worcestershire und bin in der Nähe von Pershore geboren. Wenn Sie dort nachsehen, werden Sie eine Haufen Smalls finden. Ich wollte oft einmal einen Blick dorthin werfen, aber um ehrlich zu sein, ich hatte keinen guten Ruf in der Familie. Ich glaube nicht, dass man mich gern sehen würde. Es waren alles zuverlässige Kirchgänger, kleine Bauern, im Umkreis wohlbekannt und respektiert. Ich hingegen war ein Vagabund. Als ich ungefähr achtzehn war, hörte ich auf Ihnen Ärger zu machen. Ich hatte ein Verhältnis mit einem Mädchen und konnte mich nur dadurch entwinden, indem ich das Handgeld nahm und den Third Buffs beitrat, die gerade nach Indien verlegt wurden."
Vom Soldatenleben bekam ich nicht viel mit. Ich beherrschte gerade den Paradeschritt und konnte meine Muskete bedienen, als ich so dumm war, im Ganges zu schwimmen. Glücklicherweise war mein Kompanie-Feldwebel John Holder zusammen mit mir im Wasser; und er war einer der besten Schwimmer des Regiments. Als ich den Fluss halb durchquert hatte, erwischte mich ein Krokodil und biss mir das rechte Bein genau über dem Knie ab. Ein Chirurg hätte es nicht sauberer durchführen können. Durch den Schock und den Blutverlust verlor ich die Besinnung und wäre ertrunken, wenn Holder mich nicht gepackt hätte und mit mir ans Ufer geschwommen wäre. Ich war fünf Monate im Hospital. Als ich endlich dazu fähig war, es mit meinem hölzernen Fuß am Beinstumpf zu verlassen, fand ich mich als Invalide aus der Armee entlassen und war ungeeignet für irgendeinen aktiven Beruf."
"Wie Sie sich vorstellen können, war ich damals ziemlich vom Glück verlassen. Ich war noch keine zwanzig Jahre alt und doch schon ein Krüppel ohne Chancen. Jedoch stellte sich mein Unglück im nachhinein als Segen heraus. Ein Mann mit dem Namen Abelwhite, er war als Indigo-Pflanzer dorthin gekommen, suchte einen Aufseher für seine Kulis, auch um sie zur Arbeit anzutreiben. Er war zufällig ein Freund des Colonels, der sich seit meines Unfalls um mich kümmerte. Um es kurz zu machen, empfahl mich der Colonel wärmstens. Da ich hauptsächlich zu Pferd arbeiten musste, war mein Bein kein großes Hindernis, da ich mich mit den Knien gut im Sattel festhalten konnte. Ich musste auf der Plantage umherreiten, die Männer bei der Arbeit beobachten und die säumigen Arbeiter melden. Ich erhielt einen angemessenen Lohn, war gut untergebracht und war im Großen und Ganzen damit zufrieden, den Rest meines Lebens auf der Indigo-Plantage zu verbringen. Mr. Abelwhite war ein netter Mann; er kam oft in meine kleine Hütte und rauchte ein Pfeifchen Tabak mit mir. Weiße fühlen sich im Ausland einander viel näher als sie es sich zu Hause wären.
Das Glück dauert bei mir nie lange. Ohne ein vorheriges Warnzeichen brach bei uns eine Meuterei los. Lag Indien im ersten Monat noch still und friedlich wie Surrey oder Kent da, waren im nächsten Monat zweihunderttausend schwarze Teufel losgelassen und das Land war eine richtige Hölle. Sicher wissen Sie alles darüber, Gentlemen -- vielleicht mehr als ich, da das Lesen nicht meine große Stärke ist. Ich weiß nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Unsere Plantage befand sich an Rand der nordwestlichen Provinzen bei einem Ort namens Muttra. Nacht für Nacht war der ganze Himmel vom Licht brennender Bungalows erhellt, und Tag für Tag kamen kleine Gruppen von Europäern mit ihren Frauen und Kindern durch unsere Plantage, alle auf dem Weg nach Agra, wo sich die nächsten Truppen befanden. Mr. Abelwhite war ein hartnäckiger Mann. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass die ganze Angelegenheit übertrieben wurde und sich schneller legen würde als sie aufgekommen war. So saß er auf der Veranda, trank sein Gläschen Whiskey und rauchte seinen Stumpen, während das Land um ihn herum in Aufruhr war. Natürlich hielten wir zu ihm, ich und Dawson, der gemeinsam mit seiner Frau die Buchhaltung und Plantagenverwaltung machte. Und eines schönen Tages kam es zum Knall. Ich war auf einer abgelegeneren Plantage und ritt am Abend langsam heim, als mein Auge auf etwas fiel, das als Haufen am Boden einer tiefen Senke lag. Ich ritt hin, um es zu sehen, was es war und mir fuhr es kalt durchs Herz, als ich Dawson's Frau fand, vollständig in Streifen zerschnitten und schon zur Hälfte von Schakalen und Hunden aufgefressen. Ein Stück weiter die Straße hinauf lag Dawson bäuchlings und offensichtlich tot. Er hatte einen leergeschossenen Revolver in der Hand, vier Sepoys lagen übereinander direkt vor ihm. Ich hielt mein Pferd im Zaum und dachte über den einzuschlagenden Weg nach. Im gleichen Moment quoll dicker Rauch aus Abelwhite's Bungalow, die Flammen schossen durch das Dach. Da wusste ich, dass ich meinem Arbeitgeber nicht mehr helfen konnte, sondern durch eine Einmischung nur das eigene Leben riskieren würde. Von meinem Standpunkt aus konnte ich Hunderte von schwarzen Teufeln sehen, die mit ihren roten Umhängen das brennende Haus mit Geheul umtanzten. Man zeigte auf mich und ein paar Kugeln pfiffen mir um den Kopf. Ich machte mich über die Reisfelder davon und war spät nachts innerhalb der sicheren Mauern von Agra."
"Doch die erwartete Sicherheit war trügerisch. Das ganze Land war in Aufruhr wie ein Bienenschwarm. Wo sich Engländer in kleinen Gruppen sammeln konnten, vermochten sie nur soviel Boden zu behaupten, soweit ihre Pistolen reichten. Überall sonst waren sie hilflose Flüchtlinge. Es war ein Kampf von Millionen gegen Hunderte. Am schlimmsten daran war, dass die Männer, gegen die wir kämpften, unsere eigenen, von uns ausgebildeten Truppen waren. Fußvolk, Berittene und Schützen, wir hatten sie alle ausgebildet, und nun kämpften sie gegen uns mit unseren eigenen Waffen und sie verwendeten unsere Signalhörner. In Agra waren die Dritten Bengalischen Füsiliere stationiert, einige Sikhs, zwei berittene Schwadrone und eine Batterie Artillerie. Ein Freiwilligenkorps aus Angestellten und Kaufleuten wurde aufgestellt, dem ich mit meinem Holzbein beitrat. Wir zogen los, um die Rebellen Anfang Juli bei Shahgunge zu stellen und konnten sie einige Zeit zurückschlagen. Dann ging uns das Pulver aus und wir mussten uns in die Stadt zurückziehen. Aus allen Richtungen kamen nur die schlimmsten Nachrichten -- kein Wunder, wenn Sie sich die Karte ansehen, werden Sie feststellen, dass wir im Zentrum der Rebellion lagen. Lucknow liegt mehr als einhundert Meilen östlich und Cawnpore gleich weit entfernt im Süden. Aus jeder Kompassrichtung kamen nur Nachrichten über Folter, Mord und Frevel."
"Agra ist ein großartiger Ort, alle Sorten von Fanatikern und Teufelsanbetern schwirren dort herum. Unsere Handvoll Männer war in den schmalen, gewundenen Straßen verloren. Daher ging unser Anführer mit uns auf die andere Seite des Flusses und bezog im alten Fort von Agra Stellung. Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen etwas über dieses alte Fort gehört oder gelesen hat. Es ist ein sehr eigenartiger Ort -- der seltsamste, an dem ich mich jemals befunden habe, und ich bin schon an einigen gewesen. Erst einmal hatte das Fort eine gewaltige Ausdehnung. Es muss einige Morgen umfasst haben. Den neueren Teil bewohnte unsere Garnison mit Ehefrauen, Kindern und auch Geschäften auf viel freiem Platz. Der neuere Teil ist nichts gegen das alte Viertel, das den Skorpionen und Tausendfüßlern überlassen wurde. Es ist voller großer verlassener Hallen und gewundener Gänge, in denen man sich leicht verlaufen kann. Deshalb ging selten jemand hinein, ab und zu vielleicht einmal eine mit Fackeln bewaffnete Gruppe."
Der Fluss fließt direkt vor der Stirnseite des Forts und schützt es so. Aber an den Seiten und im hinteren Teil gab es viele Türen. Diese mussten sowohl im alten Viertel wie auch im von unseren Truppen bewohnten Teil bewacht werden. Wir waren nicht genügend Leute, um alle Winkel des Gebäudes zu besetzen und auch noch zu kämpfen. Es war deshalb unmöglich, eine starke Wache an jedem der unzähligen Tore zu postieren. Wir konnten nur ein zentrales Wachhaus in der Mitte des Forts einrichten; jedes Tor wurde in die Obhut eines Weißen und zwei oder drei Eingeborenen gegeben. Ich wurde zur nächtlichen Bewachung eines kleinen, abgelegenen Tores an der südwestlichen Seite des Gebäudes abkommandiert. Zwei Sikh-Soldaten wurden unter meinen Befehl gestellt und ich erhielt die Anweisung, einen Musketenschuss abzugeben, wenn etwas schiefging. Ich sollte mich dann auf die Hilfe vom zentralen Wachhaus verlassen können. Da die Wache mehr als zweihundert Schritt entfernt lag und der Raum dazwischen von einem Labyrinth von Gängen und Korridoren durchschnitten war, hatte ich große Zweifel, ob man uns im Falle eines Angriffs rechtzeitig zur Hilfe kommen könnte."
"Ich war sehr stolz auf diesen kleinen Befehl, denn ich war ein junger Rekrut und dazu noch lahm. Zwei Nächte lang hielt ich mit meinen Punjabis Wache. Es waren große, wild aussehende Kerle, sie hießen Mahomet Singh und Abdulla Khan, beide alte Kämpfer, die gegen uns in Chilian-wallah gekämpft hatten. Sie sprachen recht gutes Englisch, aber ich konnte nicht viel aus ihnen herausbekommen. Sie standen lieber die ganze Nacht zusammen und quatschten in ihrer seltsamen Sikh-Muttersprache. Ich stand gewöhnlich außerhalb des Torweges und beobachtete den breiten, sich schlängelnden Fluss und die blinkenden Lichter der Stadt. Das Dröhnen der Trommeln und das Geschrei und Geheul der von Opium und Ganja berauschten Rebellen führte uns immer wieder die Gefährlichkeit unsere Widersacher auf der anderen Flussseite vor Augen. Der wachhabende Offizier kam alle zwei Stunden bei den Posten vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung war."
"Die dritte Nacht unserer Wache war dunkel und leichter Nieselregel machte sie noch trüber. Stundenlang in solchem Wetter im Torweg zu stehen war eine langweilige Sache. Ich versuchte immer wieder vergeblich, meine Sikhs zum Reden zu bewegen. Um zwei Uhr Nachts unterbrach der Kontrollgang die Eintönigkeit für einen Moment. Da ich wusste, dass meine Begleiter nicht zur Konversation zu bewegen waren, nahm ich meine Pfeife heraus und stellte die Muskete ab, um ein Streichholz zu entzünden. Im gleichen Moment fielen die zwei Sikhs über mich her. Eine hob meine Flinte auf und zielte damit auf meinen Kopf, der andere hielt mir ein großes Messer an die Kehle und schwor ingrimmig, dass er es benutzen würde, wenn ich auch nur die geringste Bewegung machte."
"Mein erster Gedanke war, dass die beiden Kerle mit den Rebellen verbündet waren und dies der Beginn eines Überfalls war. Sollte unser Tor fallen, würde mit den Frauen und Kindern ebenso wie in Cawnpore verfahren werden. Die Gentlemen glauben vielleicht, dass ich mich damit brüsten will, aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich trotz des Messers an der Kehle im Begriff war, mit einem Hilferuf die Hauptwache zu alarmieren, selbst wenn das mein letzter Ausruf gewesen sein sollte. Der Mann, der mich festhielt, schien meine Gedanken zu erraten und flüsterte: 'Machen Sie keinen Lärm, das Fort ist nicht in Gefahr. Auf dieser Seite des Flusses ist keiner der rebellierenden Hunde.' Es war ein Klang von Ehrlichkeit in seiner Stimme und ich wusste, ein Schrei hätte meinen Tod bedeutet. Das jedenfalls las ich aus den Augen des braunhäutigen Gesellen. So wartete ich schweigend zu hören, was sie von mir wollten."
"'Hören Sie, Sahib,' sagte der größer und wilder erscheinende, der auf den Namen Abdullah Khan hörte. 'Entweder halten Sie zu uns oder wir werden Sie für immer zum Schweigen bringen. Die Sache ist uns zu wichtig, als dass wir zögern würden. Entweder sind sie voll und ganz auf unserer Seite, und schwören dies auf das Kreuz der Christen, oder Ihr Leichnam wird noch diese Nacht in den Graben geworfen und wir laufen zu unseren Brüdern in der Rebellenarmee über. Es gibt keine Kompromisse. Was wählen Sie, Tod oder Leben? Wir geben Ihnen nur drei Minuten zum Überlegen, denn die Zeit rennt und alles muss erledigt sein, ehe der nächste Rundgang gemacht wird.'"
"'Wie soll ich mich entscheiden', sagte ich, 'Wenn ihr mir noch nicht einmal erzählt habt, was ihr von mir verlangt. Ich sage euch aber, wenn es gegen die Sicherheit des Forts gerichtet ist, will ich nichts damit zu tun haben. Dann benutzt das Messer besser sofort.'"
"'Es ist nicht gegen das Fort gerichtet,' sagte er. 'Wir bitten Sie nur, das gleiche zu tun, weswegen Ihre Landsleute hierher gekommen sind. Wir machen Sie reich. Wenn Sie heute Nacht zu uns stehen, schwören wir hier beim blanken Messer und beim dreifachen Schwur, den kein Sikh je brechen wird, dass Sie Ihren gerechten Anteil an der Beute erhalten werden. Ein Viertel des Schatzes soll Ihnen gehören. Mehr können wir Ihnen nicht anbieten.'"
"'Und woraus besteht der Schatz?' fragte ich. 'Ich bin ebenso wie ihr an Reichtum interessiert. Aber sagt mir erst, wie es geschehen soll.'"
"'Dann schwören Sie bei den Gebeinen Ihres Vaters, bei der Ehre Ihrer Mutter und beim Zeichen Ihres Glaubens, dass Sie weder heute noch später Hand gegen uns erheben oder ein Wort gegen uns sagen werden.'"
"'Das schwöre ich,' antwortete ich, 'falls das Fort nicht gefährdet wird.'"
"'Dann schwören mein Freund und ich, dass Sie ein Viertel des Schatzes erhalten werden. Er soll zu gleichen Teilen unter uns aufgeteilt werden.'"
"'Aber wir sind nur drei,' sagte ich."
"'Nein, auch Dost Akhbar erhält seinen Teil. Wir erzählen Ihnen die Geschichte, während wir auf ihn warten. Mahomet Singh, stelle dich an die Pforte und sag uns, wenn sie kommen. Die Sache ist folgendermaßen, Sahib. Ich erzähle sie Ihnen nur, weil ein Eid für einen Weißen verbindlich ist und wir Ihnen daher nun trauen können. Wären Sie ein lügnerischer Hindu gewesen, der bei allen Göttern seines falschen Tempels geschworen hätte, Ihr Blut wäre bereits am Messer und Ihr Leichnam im Wasser. Aber die Sikhs kennen die Engländer gut und umgekehrt. Hören Sie also, was ich Ihnen sage.'"
"'In den nördlichen Provinzen gibt es einen Rajah, dessen Land klein ist, aber sein Reichtum groß. Viel hatte er bereits durch seinen Vater, aber noch mehr hat er selbst hinzugewonnen, denn er hütet sein Gold lieber, statt es auszugeben. Als die Unruhen ausbrachen, wollte er sowohl mit dem Löwen wie auch mit dem Tiger gut Freund sein -- den Sepoys und dem Raj der Company. Aber schon bald bemerkte er, dass die Tage des weißen Mannes gezählt waren. Denn überall im Land hörte er nur von ihrem Tod und den Niederlagen. Er war ein vorsichtiger Mann und plante so, dass ihm mindestens die Hälfte des Schatzes verbliebe, komme was wolle. Alles Gold und Silber beließ er in seiner Schatzkammer, aber die kostbarsten Edelsteine und wertvollsten Perlen tat er in eine eiserne Kiste und sandte sie durch einen als Händler verkleideten Diener ins Fort von Agra. Dort sollten sie bleiben, bis wieder Frieden war. Sollten die Rebellen gewinnen, hätte er sein Geld, beim Sieg der Ostindischen Kompanie wären ihm die Juwelen sicher. So teilte er seinen Schatz und schlug sich auf die Seite der Sepoys, die schon an seinen Landesgrenzen standen. Und so, Sahib, kam sein Besitz in die Obhut intimster Vertrauter.'"
"'Der angebliche Händler, der unter dem Namen Achmet reiste, ist jetzt in der Stadt und möchte ins Fort gelangen. Sein Begleiter ist mein Stiefbruder Dost Akbar, der das Geheimnis kennt. Dost Akbar versprach ihm, ihn durch ein Seitentor ins Fort zu bringen und hat dieses Tor dafür ausgewählt. Er wird bald hier sein und Mahomet Singh und mich hier treffen. Dieser Ort ist einsam, und niemand weiß, dass er kommt. Von Achmet wird man nie wieder etwas hören, aber der Schatz des Radschahs wird unter uns aufgeteilt. Was halten Sie davon, Sahib?'"
"In Worcestershire ist uns das Leben eines Menschen heilig. Aber die Dinge liegen anders, wenn Feuer und Blut um einen herum sind und man dem Tod an jeder Ecke begegnet. Leben oder Tod des Händlers Achmet hatten kein Gewicht für mich. Aber die Geschichte vom Schatz hatte von meinen Gedanken Besitz ergriffen und ich dachte daran, wie ich in der alten Heimat angestarrt werden würde, wenn der Nichtsnutz mit den Taschen voller Louisdor plötzlich auftauchen würde. Ich hatte mich schon längst entschlossen. Abdullah Khan glaubte mich noch zögernd und bedrängte mich weiter.
"'Sehen Sie, Sahib,' sagte er, 'Wenn der Kommandant ihn erwischt, wird er gehängt oder erschossen. Die Juwelen werden von der Regierung beschlagnahmt, und niemand wird eine Rupie davon je wiedersehen. Wenn wir sie ihm aber abnehmen, kommt es auf dasselbe raus. Die Juwelen sind bei uns ebenso gut aufgehoben wie in der Schatzkammer der Company. Jeder von uns wäre reich und ein gemachter Mann. Keiner weiß etwas darüber, denn wir sind hier allein. Wie könnte es besser sein? Sagen Sie nun, Sahib, ob Sie mitmachen oder wir Sie als unseren Feind betrachten müssen.'
"'Ich bin mit Herz und Seele dabei,' sagte ich."
"'Das ist gut,' sagte er und gab mir meine Waffe zurück. 'Wir trauen Ihnen, und Ihr Wort und auch das unsrige soll nicht gebrochen werden. Nun müssen wir nur noch auf meinen Bruder und den Händler warten.'"
"'Kennt dein Bruder unsere Absichten,' fragte ich."
"'Es ist sein Plan, er hat ihn sich ausgedacht. Wir gehen jetzt zum Tor und wachen zusammen mit Mahomet Singh.'"
"Es regnete noch immer, denn die Regenzeit hatte gerade begonnen. Schwere, dunkle Wolken trieben über den Himmel und man sah keinen Steinwurf weit. Ein tiefer Wassergraben war vor unserem Tor, aber er war stellenweise noch ausgetrocknet und konnte leicht durchquert werden. Es war mir unheimlich, dort mit zwei wilden Punjabees zu stehen und auf den Mann zu warten, der zu seinem eigenen Tod hier erschien."
"Plötzlich fiel mein Auge auf den Schimmer einer abgeschatteten Laterne, die auf der anderen Seite des Wassergrabens erschien. Sie verschwand zwischen den Schlammhügeln und kam dann langsam in unsere Richtung."
"'Da sind sie,' rief ich."
"'Überprüfen Sie sie wie üblich, Sahib,' flüsterte Abdullah. 'Sie sollen keinen Verdacht schöpfen. Befehlen Sie uns zur Begleitung und wir besorgen alles, während Sie hier weiter Wache stehen. Halten Sie die Laterne bereit, damit wir erkennen, ob es der richtige Mann ist.'"
"Das Licht war flackernd nähergekommen, hielt an und kam wieder näher, bis ich zwei dunkle Gestalten auf der anderen Seite des Grabens erkennen konnte. Ich ließ sie die schräge Grabenwand herunterklettern, sie spritzen durch den Morast und kletterten halb zum Tor hinauf, bevor ich sie anrief."
"'Wer ist da?' sagte ich mit ruhiger Stimme."
"'Freunde,' kam die Antwort. Ich deckte meine Laterne auf und richtete den vollen Lichtschein auf sie. Der erste war ein gewaltiger Sikh mit einem schwarzen Bart, der fast bis zu seiner Schärpe herabreichte. Einen derart großen Menschen hatte ich bisher nur im Zirkus gesehen. Der andere war ein kleiner, dicker, runder Geselle mit einem großen gelben Turban, er trug ein Bündel in der Hand und war nur mit einem Stofftuch bekleidet. Er schien vor Furcht zu zittern, seine Hände zuckten, als hätte er Schüttelfrost, sein Kopf pendelte andauernd von links nach rechts und er hatte zwei kleine blitzende Augen wie eine Maus, die aus ihrem Loch hervorlugt. Mir wurde kalt um Herz bei dem Gedanken, ihn zu töten. Aber der Gedanke an den Schatz überwog und mein Herz wurde hart wie Stein. Als er mein hellhäutiges Gesicht sah, stieß er einen kleinen Freudenschrei aus und kam auf mich zugerannt."
"'Helfen Sie, Sahib,' keuchte er,' helfen Sie dem unglücklichen Händler Achmet. Ich bin quer durch Rajputan gereist, um Schutz im Fort von Agra zu suchen. Ich bin bestohlen, geschlagen und beschimpft worden, nur weil ich ein Freund der Company war. Gesegnet sei diese Nacht, in der ich endlich in Sicherheit komme -- ich und meine geringer Besitz.'"
"'Was haben Sie in diesem Bündel, 'fragte ich."
"'Eine eiserne Kiste,' antwortete er, 'sie enthält die eine oder andere Sache aus unserem Familienbesitz, wertlos für jemand anderen, aber ich möchte sie nicht verlieren. Doch ich bin kein Bettler und kann Sie wohl belohnen, junger Sahib, auch Ihren Gouverneur, wenn er mir den erbetenen Schutz gewährt..'"
"Ich konnte es nicht aushalten, weiter mit dem Mann zu sprechen. Je länger ich sein fettes, verängstigtes Gesicht sah, desto schwerer wurde mir beim Gedanken, dass wir ihn gleich kaltblütig erschlagen würden. Es war am besten, es gleich hinter uns zu bringen.
"'Bringt ihn zur Hauptwache,' sagte ich. Die zwei Sikhs nahmen ihn zwischen sich und der Riese ging hinterher, als sie in den dunklen Torweg hineinmarschierten. Selten war ein Mensch so vollständig von Tod umgeben. Ich blieb mit der Laterne im Tor stehen.
"Ich hörte den Klang ihrer gemessenen Schritte durch die einsamen Gänge. Plötzlich verstummte er, ich hörte Stimmen, eine laute Rauferei und das Geräusch von Schlägen. Zu meinem Entsetzten kam dann das Geräusch hastiger Schritte, begleitet vom stoßartigen Atmen eines Rennenden auf mich zu. Ich richtete meine Laterne auf den langgestreckten Durchgang, und dort kam der dicke Mann in Windeseile angerannt, einen großen Blutstreifen quer über dem Gesicht. Direkt auf seinen Fersen und mit gewaltigen, tigerhaften Sprüngen folgte ihm der riesige schwarzbärtige Sikh, das blitzende Messer in der Hand. Nie zuvor hatte ich einen Menschen so schnell wie den kleinen Händler rennen gesehen. Sein Vorsprung zum Sikh vergrößerte sich, und wenn er mich erst passiert und das Freie gewonnen hätte, wäre er in Sicherheit gewesen. Ich hatte Mitleid mit ihm, aber wieder war es der Gedanke an den Schatz, der mich hart und unerbittlich machte. Als er an mir vorbeirannte, warf ich meine Flinte zwischen seine Beine und er überschlug sich zweifach wie ein angeschossenes Kaninchen. Bevor er wieder auf die Füße kam, war der Sikh über ihm und stieß ihm das Messer zweimal in die Seite. Der Mann gab nicht einmal ein Stöhnen von sich und bewegte keinen Muskel mehr. Er blieb genau an der Stelle liegen, wo er hingefallen war. Ich glaube, er hatte sich beim Fallen das Genick gebrochen. Gentlemen, Sie sehen, dass ich mein Versprechen halte. Ich erzähle Ihnen jede Einzelheit der Sache exakt wie sie geschehen ist, egal ob sie für oder gegen mich spricht."
Hier hielt er inne und streckte seine Hand nach einem Whisky-Soda aus, den Holmes für ihn gemixt hatte. Ich hatte zugegebenermaßen bereits eine äußerste Abscheu gegen diesen Mann entwickelt, nicht nur wegen der Kaltblütigkeit seiner Tat, sondern vielmehr aufgrund der schnoddrigen und teilnahmslosen Erzählweise. Welche Strafe ihm auch bevorstand, von mir konnte er keine Sympathie mehr erwarten. Sherlock Holmes und Jones saßen mit den Händen im Schoß da und folgten interessiert seiner Erzählung, aber auch in ihren Gesichtern waren Anzeichen von Abscheu zu sehen. Vielleicht hatte es dies bemerkt, denn er fuhr mit einem trotzigen Ton in der Stimme fort.
"Das war alles sehr übel," sagte er. "Ich möchte wissen, wieviel andere Gesellen den Anteil an der Beute ausgeschlagen hätten, wenn Skrupel auf der einen, und ein Schnitt durch die eigene Kehle auf der anderen Seite stehen. So stand mein Leben gegen sein Leben, sobald er das Fort betreten hatte. Wäre er entkommen, wäre die ganze Sache aufgedeckt worden und ich wäre vor das Standgericht gekommen und erschossen worden, denn die Leute waren damals nicht sehr nachsichtig."
"Erzählen Sie Ihre Geschichte weiter," sagte Holmes kurz angebunden.
"Nun, Abdullah, Akbar und ich trugen ihn hinein. Obwohl er so klein war, war er dennoch ganz schön schwer. Mahomet Singh wurde als Wache an der Tür belassen. Wir brachten ihn an eine Stelle, die von den Sikhs schon vorbereitet worden war. Sie lag ein Stück entfernt, dort wo ein gewundener Durchgang in eine große leere Halle führte, deren Backsteinwände schon abbröckelten. Der Fußboden hatte sich an einer Stelle gesenkt und eine Art natürliches Grab erzeugt. Dort ließen wir Achmet den Händler liegen, nachdem wir ihn mit losem Steinschutt bedeckt hatten. Als dies vollbracht war, gingen wir zum Schatz zurück."
"Er lag genau dort, wo er ihn beim ersten Angriff fallengelassen hatte. Es war die gleiche Kiste, die Sie hier geöffnet auf dem Tisch liegen sehen. Am geschnitzten Griff des Deckels war ein seidenes Band befestigt, an dem ein Schlüssel hing. Wir öffneten die Kiste und im Licht der Laterne glitzerte eine Kollektion von Edelsteinen, so wie ich als kleiner Junge in Pershore immer darüber gelesen und davon geträumt hatte. Man war geblendet, wenn man sie ansah. Als wir uns satt gesehen hatten, nahmen wir sie alle heraus und machten eine Aufstellung darüber. Es waren einhundertunddreiundvierzig Diamanten erster Güte. Darunter auch einer, der 'Großer Mogul' genannt wird und der zweitgrößte existierende Diamant sein soll. Dann waren da neunundsiebzig sehr schöne Smaragde, einhundertundsiebzig Rubine -- einige kleinere darunter. Weiter waren da vierzig Granatsteine, zweihundertzehn Saphire, einundsechzig Achate und eine große Zahl von Beryll, Onyx, Tigeraugen, Türkisen und anderen Steinen, deren Namen ich damals noch nicht kannte, über die ich mich heute aber auskenne. Und es waren noch dreihundert sehr wertvolle Perlen dabei, von denen zwölf in Gold gefasst waren. Als ich die Kiste wiederfand, waren letztere jedoch herausgenommen worden."
"Als wir unsere Schätze gezählt hatten, legten wir sie in die Kiste zurück und trugen sie zum Torweg, um sie Mahomet Singh zu zeigen. Dann erneuerten wir feierlich unseren Schwur, einander zu helfen und das Geheimnis zu wahren. Wir beschlossen gemeinsam, unsere Beute an einem sicheren Platz zu verstecken, um sie erst dann unter uns aufzuteilen, wenn das Land wieder zur Ruhe gekommen war. Sie sofort zu verteilen wäre unklug gewesen, da es im Fort keinen sicheren Platz gab und der Besitz solch kostbarer Juwelen sofort Verdächtigungen zur Folge gehabt hätte. Wir trugen die Kiste deshalb in die Halle, in der wir auch den Toten begraben hatten und machten ein Loch unterhalb der Steine in einer gut erhaltenen Wand. Wir merkten uns die Stelle genau und ich fertigte am nächsten Tag vier Pläne an, einen für jeden von uns und setzte das Zeichen der Vier darunter, denn wir hatten geschworen, nur gemeinsam vorzugehen, so dass niemand übervorteilt werden konnte. Für diesen Schwur lege ich auch heute meine Hand ins Feuer, denn ich habe ihn niemals gebrochen."
"Was nach dem indischen Aufstand passierte, muss ich keinem der Gentlemen erzählen. Nachdem Wilson Delhi eingenommen hatte und Sir Coli Lucknow befreite, war der Widerstand gebrochen. Neue Truppen kamen ins Land und Nana Sahib entschwand über die Grenze. Eine fliegende Kolonne unter Colonel Greathead kam in Agra vorbei und vertrieb die Pandies. Der Friede schien wieder im Land einzukehren und wir vier hofften, dass bald die Zeit gekommen war, mit unserem Teil des Schatzes durchbrennen zu können. Innerhalb eines Momentes jedoch wurden unsere Hoffnungen zerstört, als wir als die Mörder von Achmet verhaftet wurden."
"Es war folgendes geschehen: der Rajah gab seine Juwelen in Achmets Obhut, weil er ihn als seinen Vertrauten sehr gut kannte. Die Asiaten sind jedoch sehr misstrauisch. Also setzte er einen zweiten, noch vertrauteren Diener als Spion auf den ersten an. Dem zweiten wurde befohlen, Achmet niemals aus den Augen zu lassen und er folgte ihm wie ein Schatten. Auch in jener Nacht war er ihm gefolgt und sah ihn durch den Torweg hindurchgehen. Natürlich glaubte er, Achmet hätte Zuflucht im Fort gefunden, bat am nächsten Tag um Eintritt ins Fort und konnte keine Spur von Achmet finden. Da es ihm merkwürdig vorkam, sprach er darüber mit einem Sergeant der Wache, und dieser brachte es vor den Kommandanten. Schnell wurde eine gründliche Suche durchgeführt und der Tote entdeckt. Und gerade als wir uns sicher fühlten, wurde wir alle vier festgenommen und des Mordes angeklagt -- drei von uns, da wir in jener Nacht das Tor bewacht hatten, der vierte, weil er als Begleiter des Ermordeten gesehen worden war. Im Prozess wurden die Juwelen mit keinem Wort erwähnt, denn der Rajah war entthront und aus Indien vertrieben worden; und niemand sonst konnte sie vermissen. Der Mord war aber eindeutig und wir alle mussten daran beteiligt gewesen sein. Die drei Sikhs erhielten eine lebenslange Zuchthausstrafe, ich wurde zum Tode verurteilt; allerdings wurde mein Strafmaß später in das gleiche wie bei den anderen umgewandelt."
"Wir befanden uns in einer eigenartigen Situation. Alle vier mit Ketten an den Füßen und ohne die geringste Chance des Entkommens. Und doch bewahrte jeder von uns ein Geheimnis, das uns sofort in einen Palast versetzen könnte, wenn wir es preisgeben würden. Es war zum Verücktwerden. Man musste sich von jedem noch so niedrigen Wärter treten lassen, musste Reis essen und Wasser trinken, wo doch das gewaltige Vermögen draußen nur darauf wartete, dass wir es uns nahmen. Es hätte mich verrückt machen können, aber ich war schon immer stur, so hielt ich mich wacker und saß meine Zeit ab."
"Und dann schien sie gekommen zu sein. Ich wurde von Agra nach Madras verlegt und von dort nach Blair Island auf den Andamanen. Es gab nur wenige weiße Verbrecher in dieser Kolonie. Da ich mich von Anfang an ordentlich benahm, war ich bald eine privilegierte Person. Ich erhielt eine Hütte in Hope Town, einem kleinen Ort an den Hängen des Mount Harriet. Man ließ mich dort allein leben. Es war ein düsterer, fieberverseuchter Ort und außerhalb unserer Rodung hausten wilde eingeborene Kannibalen, die uns nur allzu gern mit ihren vergifteten Pfeilen beschossen, wenn sie nur eine Gelegenheit dazu fanden. Den ganzen Tag waren wir mit Graben, Roden und dem Pflanzen von Yams beschäftigt; doch am Abend hatten wir ein wenig Zeit für uns selbst. So lernte ich unter anderem, Medikamente für unseren Arzt auszuteilen und habe dabei von seinem Wissen einiges erlernt. Ich war immer auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Doch das Festland war hunderte von Meilen entfernt und es gab kaum oder nur sehr wenig Wind auf dem Meer. Die Flucht war fürchterlich schwer.
"Der Arzt, Dr. Somerton, war ein sportbegeisterter junger Mann. Abends kamen andere jüngere Offiziere in sein Zimmer und spielten Karten mit ihm. Das Behandlungszimmer, in dem ich die Medikamente zusammenstellte, hatte ein Fenster zu seinem Wohnzimmer. Oft, wenn ich mich langweilte, machte ich die Lampe im Zimmer aus und konnte ihre Gespräche hören und das Kartenspiel beobachten. Ich bin selbst ein begeisterter Kartenspieler und das Zusehen war fast so gut wie das Mitspielen. Anwesend waren Major Sholto, Captain Morstan und Lieutenant Bromley Brown, sie alle befehligten die eingeborenen Truppen. Dann war der Arzt dabei, sowie zwei oder drei Angestellte des Gefängnisses, listige alte Jungens, die ein nettes, schlaues und sicheres Spiel liebten. Sie gaben eine gemütliche kleine Gesellschaft ab."
"Bald schon bemerkte ich verwundert, dass die Soldaten immer verloren und die Zivilisten immer gewannen. Ich sage nicht, dass dabei etwas unfair war, aber es war so. Seit sie auf den Andamanen waren, hatten die Leute vom Gefängnis nichts anderes getan, als Karten zu spielen; und sie kannten die Spielweise ihrer Kameraden recht gut. Die anderen spielten zum nur Zeitvertreib und warfen die Karten schnell hin. Jede Nacht wurden die Soldaten ärmer, und je ärmer sie wurden, desto schärfer waren sie auf ein neues Spiel. Major Sholto war der Schlimmste. Zuerst bezahlte er mit Geldscheinen und mit Gold, aber dann kam es zu Schuldscheinen über große Summen. Manchmal gewann er einige Runden, als sollte er bei Laune gehalten werden. Doch dann verließ ihn das Glück noch mehr als je zuvor. Tagsüber wanderte er wutschnaubend herum und trank mehr als ihm gut tat."
"Eines Abends verlor er noch mehr als gewöhnlich. Ich saß in meiner Hütte, als er und Captain Morstan auf dem Weg zu ihrer Wohnung an mir vorbeistolperten. Die beiden waren Busenfreunde und man sah sie nie weit voneinander entfernt. Der Major ereiferte sich über seine Verluste."
"Als sie meine Hütte passierten, sagte er: 'Es ist aus, Morstan. Ich muss um Entlassung bitten. Ich bin ruiniert.'"
"'Unsinn, alter Junge!' sagte der andere und schlug ihm auf die Schulter. 'Ich habe auch eine Pechsträhne gehabt, aber--'. Das war alles, was ich hören konnte. Aber es hatte mich auf einen Gedanken gebracht."
"Einige Tage später schlenderte Major Sholto am Strand entlang und ich nahm die Gelegenheit wahr, ihn anzusprechen."
"'Ich möchte einen Rat von Ihnen haben, Major,' sagte ich."
"'Nun Small, was gibt es?' fragte er und nahm seinen Zigarrenstumpen aus dem Mund."
"'Sir, ich möchte Sie folgendes fragen,' sagte ich. 'Wer wäre der Richtige, um einen versteckten Schatz zu melden. Ich weiß, wo eine halbe Million liegt. Und da ich sie selber nicht verwenden kann, wäre es das beste, wenn ich sie der richtigen Behörde übergebe. Vielleicht wird dann meine Strafe verkürzt.'"
"'Eine halbe Million, Small?' Er schnappte nach Luft und sah mich an, ob ich es ernst meinte."
"'So ist es, Sir -- in Juwelen und in Perlen. Es liegt für jedermann bereit. Und das verrückte ist, dass der wahre Besitzer geächtet ist und es nicht beanspruchen kann. So gehört es dem Ersten, der es nimmt.'"
"Der Regierung, Small,' stammelte er, '-- der Regierung'. Aber er sagte es mit Zögern und ich wusste nun, dass ich ihn gepackt hatte.
"'Sie meinen also, Sir, ich soll die Information dem Generalgouverneur geben?' fragte ich ruhig.
"'Nun, Sie müssen nichts Unbesonnenes tun, etwas, das Sie bereuen könnten. Erzählen Sie mir alles, Small. Geben Sie mir die Fakten.'"
"Ich erzählte ihm die ganze Geschichte, machte aber kleine Änderungen, damit er die Orte nicht identifizieren konnte. Als ich fertig war, stand er stocksteif und in Gedanken da. Am Zucken seiner Lippen konnte ich sehen, dass in seinem Innern ein Kampf stattfand."
"'Das ist eine sehr wichtige Sache, Small,' sagte er zuletzt. ' Sie sollten keinem ein Wort davon erzählen. Wir werden uns bald wieder sehen.'"
"Zwei Tage später kamen er und sein Freund Captain Morstan in stockfinsterer Nacht mit einer Laterne an meine Hütte."
"'Ich möchte, dass auch Captain Morstan die Geschichte aus Ihrem Munde hört, Small,' sagte er."
"Und so erzählte ich sie genau wie zuvor."
"'Ist sie wahr?' sagte er. 'Ist sie gut genug, um darauf zu reagieren?'"
"Captain Morstan nickte."
"Sehen Sie, Small,' sagte der Major. 'Wir haben darüber gesprochen, mein Freund und ich. Und wir sind zum Entschluss gekommen, dass ihr Geheimnis keine Sache der Regierung ist, es ist eher Ihre private Sache. Sie sollten es also so regeln, wie Sie es für richtig halten. Nun aber die Frage, was wäre es Ihnen wert? Wir könnten den Fall aufnehmen und uns darum kümmern, wenn wir uns über die Bedingungen einigen könnten.' Er versuchte, in einer ruhigen und nachlässigen Art zu sprechen, aber seine Augen schimmerten vor Aufregung und Gier."
"Wenn es so ist, Gentlemen,' antwortete ich und versuchte ebenfalls, ruhig zu sein, obwohl ich genauso aufgeregt war, wie er. 'Ein Mann in meiner Position kann nur einen einzigen Handel abschließen. Ich möchte, dass Sie mir und meinen drei Gefährten zur Freiheit verhelfen. Dann nehmen wir Sie in unsere Gemeinschaft auf und geben Ihnen ein Fünftel, das Sie unter sich aufteilen.'"
"'Hmm!' sagte er. 'Ein Fünftel! Das ist nicht so lohnend.'"
"'Es wären fünfzigtausend für jeden,' sagte ich."
"'Aber wie sollen wir Sie freibekommen? Sie wissen, dass sie um etwas Unmögliches bitten.'"
"'Nicht im geringsten,' antwortete ich. 'Ich habe es bis ins letzte Detail durchdacht. Das einzige Hindernis zu unserer Flucht ist die Tatsache, dass wir kein für die Reise ausgerüstetes Boot finden können. Und nicht ausreichend Proviant für eine so lange Reise. In Kalkutta oder Madras gibt es genügend kleine Yachten oder Yawls, die für unser Vorhaben geeignet sind. Bringen Sie eine hierher. Wir werden in der Nacht an Bord gehen und wenn Sie uns an irgendeiner Stelle an der indischen Küste rauswerfen, haben Sie ihren Teil der Abmachung erfüllt.'"
"'Wenn es nur einer wäre,' sagte er."
"'Alle oder keiner,' antwortete ich. 'Wir haben es geschworen. Wir vier müssen immer gemeinsam handeln.'"
"'Sehen Sie, Morstan,' sagte er, 'Small steht zu seinem Wort. Er steht zu seinen Freunden. Ich glaube, wir können ihm wohl trauen.'"
"'Es ist ein schmutziges Geschäft,' sagte der andere. 'Aber wie Sie schon sagten, das Geld würde unsere Verpflichtungen mehr als genug decken.'"
"'Ich denke, Small,' sagte der Major, 'wir müssen es versuchen und Ihnen entgegenkommen. Natürlich müssen wir erst den Wahrheitsgehalt Ihrer Geschichte überprüfen. Sagen Sie mir, wo die Kiste liegt, und ich nehme Urlaub und fahre mit dem monatlich kommenden Versorgungsboot nach Indien und untersuche die Sache.'"
"'Nicht so schnell,' sagte ich und wurde ebenso kalt wie er heiß geworden war. 'Ich brauche die Zustimmung meiner drei Kameraden. Ich sagte bereits, alle oder keiner.'"
"'Unsinn!' unterbrach er mich. 'Was haben die drei schwarzen Kerle mit unserer Abmachung zu tun?'"
"'Schwarz oder blau,' sagte ich,' sie sind dabei und wir gehen zusammen.'"
"Nun, das ganze endete mit einer zweiten Versammlung, an der Mahomet Singh, Abdullah Khan und Dost Akbar teilnahmen. Wir besprachen die Sache noch einmal und kamen zum Schluss zu einer Übereinkunft. Wir würden beiden Offizieren eine Karte von Agra geben und den Ort markieren, an dem der Schatz versteckt war. Major Sholto sollte nach Indien fahren und die Geschichte überprüfen. Falls er die Box fände sollte er sie dort belassen und eine kleine Yacht für die Reise ausrüsten. Sie sollte vor Rutland Island ankern. Er kehrt zum Dienst zurück und wir schlagen uns zum Boot durch. Dann sollte Captain Morstan seinen Urlaub nehmen und uns in Agra treffen. Dort würde der Schatz endgültig geteilt und er nähme seinen und des Majors Anteil. Dies alles wurde unter den ernstesten Schwüren, die sich der Verstand ausdenken und die Lippen aussprechen konnten, besiegelt. Ich war die ganze Nacht mit Papier und Tinte beschäftigt und am Morgen hatte ich die beiden Karten fertig, unterschrieben mit dem Zeichen der Vier -- von Abdullah, Akbar, Mahomet und von mir.
"'Nun, Gentlemen, ich ermüde Sie sicher mit meiner langen Geschichte und weiß, dass mein Freund Mr. Jones ungeduldig darauf wartet, mich ins Kittchen zu bringen. Ich werde mich kurz fassen. Der Schurke Sholto reiste nach Indien und kam nie mehr zurück. Captain Morstan zeigte mir kurz darauf seinen Namen auf der Passagierliste eines Postschiffes. Sein Onkel war gestorben und hatte ihm ein Vermögen vererbt, und so verließ er die Armee. Wie konnte er nur derart gemein sein, und uns fünf so behandeln. Kurz darauf fuhr Morstan hinüber nach Agra und fand das Versteck leer, genau wie wir es erwartet hatten. Der Schuft hatte alles gestohlen ohne auch nur eine Bedingung zu erfüllen, unter der wir ihm das Geheimnis verraten hatten. Seit jener Zeit sann ich nur noch auf Rache. Tagsüber dachte ich daran und nachts träumte ich davon. Es wurde zu einer mich beherrschenden Leidenschaft. Das Gesetz interessierte mich nicht -- auch nicht der Galgen. Zu entkommen, Sholto zu verfolgen und meine Hand an seinem Hals zu spüren -- dies waren meine einzigen Gedanken. Selbst der Agra-Schatz war in meinen Gedanken weniger wert als das Töten von Sholto."
"'Nun, ich hatte mir in meinem bisherigen Leben viel vorgenommen und alles auch ausgeführt. Aber es waren beschwerliche Jahre, bevor endlich meine Zeit gekommen war. Ich erzählte bereits, dass ich einiges über Medizin gelernt hatte. Als eines Tages Dr. Somerton mit Malaria zu Bett lag, wurde ein kleiner Andamanen-Bursche von einer Gruppe Strafgefangener im Wald gefangengenommen. Er war todkrank und hatte sich eine einsame Stelle zum Sterben gesucht. Ich nahm ihn in Pflege, obwohl er so giftig wie eine junge Schlange war, und nach einigen Monaten war er gesund und konnte wieder laufen. Er hatte Zuneigung zu mir gewonnen, wollte absolut nicht in den Dschungel zurück und trieb sich in der Nähe meiner Hütte herum. Ich hatte ein wenig von seiner Sprache gelernt, dies machte ihn noch anhänglicher."
"Tonga -- so war sein Name -- war ein guter Bootsmann. Ihm gehörte ein großes, geräumiges Kanu. Als ich seine Ergebenheit erkannte, sah ich meine Gelegenheit zur Flucht gekommen, denn er würde alles für mich tun. Ich sprach mit ihm darüber. Er sollte das Boot in der Nacht an einen unbewachten Landungssteg bringen und mich dort aufnehmen. Ich gab ihm Anweisungen, mehrere Kürbisflaschen mit Wasser, sowie genügend Yamswurzeln, Kokusnüsse und Süßkartoffeln mitzubringen."
"Der kleine Tonga war treu und zuverlässig. Man kann sich keinen treueren Gehilfen vorstellen. Zur angegebenen Nacht war sein Boot am Steg. Zufälligerweise war in jener Nacht ein Gefangenenaufseher dort -- ein schrecklicher Pathane, der nie eine Gelegenheit ausgelassen hatte, mich zu beleidigen und zu verletzen. Ich hatte immer Rache geschworen, und nun war die Gelegenheit gekommen. Es war, als ob das Schicksal ihn mir zugeführt hatte, damit ich meine Schuld begleichen konnte, bevor ich die Insel verließ. Er stand mit dem Rücken zu mir am Ufer, den Karabiner über der Schulter. Ich suchte nach einem Stein, um ihm den Kopf einzuschlagen, konnte aber keinen finden. Da kam mir ein verrückter Gedanke, wie ich zu einer Waffe kommen könnte. Ich setzte mich in der Dunkelheit hin und band mir das Holzbein ab. Mit drei schnellen Sprüngen war ich bei ihm. Er riss den Karabiner von seiner Schulter, aber ich traf ihn voll und zerschlug ihm das Gesicht. Sie sehen hier noch den Sprung an der Stelle im Holz, wo ich ihn traf. Da ich mein Gleichgewicht verlor, fielen wir beide hin, aber er blieb für immer liegen. Ich begab mich zum Boot und eine Stunde später waren wir unversehrt auf See. Tonga hatte all seine irdischen Besitztümer mitgebracht, seine Waffen und seine Götzen. Unter anderem hatte er einen langen Bambusspeer und einige Kokosmatten dabei, aus denen ich eine Art Segel machte. Zehn Tage trieben wir in der See herum und vertrauten unserem Glück. Am elften Tag wurde wir von einem Handelsschiff aufgenommen, das mit einer Ladung malaiischer Pilger von Singapur nach Jiddah fuhr. Es war eine komische Truppe, aber Tonga und ich konnten uns bald zwischen ihnen niederlassen. Sie hatten eine gute Eigenschaft: sie ließen uns in Ruhe und stellten keine Fragen."
"Ich kann Ihnen nicht alle Abenteuer erzählen, die mein kleiner Freund und ich durchstehen mussten. Sonst säßen wir noch bei Tageslicht hier. Wir trieben auf der Welt hierhin und dorthin, irgendetwas hielt uns immer davon ab, nach London zu kommen. Aber ich hatte die ganze Zeit mein Ziel nicht aus den Augen verloren. Nachts träumte ich von Sholto. Ich habe ihn hundertmal im Schlaf ermordet. Endlich, vor etwa drei oder vier Jahren, kamen wir doch nach England. Es war nicht schwierig herauszufinden, wo Sholto lebte und ich begann zu erforschen, ob er den Schatz zu Geld gemacht hatte oder ob er ihn noch immer besaß. Ich befreundete mich mit jemandem, der mir dabei helfen konnte -- ich nenne keinen Namen, denn ich möchte ihn nicht auch ins Loch wandern sehen -- und fand bald heraus, dass er die Juwelen noch besaß. Dann versuchte ich, auf verschiedene Weise an ihn heranzukommen. Aber er war sehr schlau und hatte immer zwei Preisboxer zur Bewachung, außerdem seine Söhne und seinem Khitmutgar (*???*).
"Eines Tages erhielt ich jedoch die Nachricht, dass er im Sterben liege. Ich eilte sofort in seinen Garten, voller Furcht, er könnte mir so einfach aus den Fängen entkommen. Ich schaute durchs Fenster und sah ihn in seinem Bett liegen, die Söhne an seiner Seite. Ich hätte es auch mit allen Dreien aufgenommen, als ich plötzlich sein Kinn herunterfallen sah. Da wusste ich, dass er tot war. In der gleichen Nacht stahl ich mich in sein Zimmer und suchte in seinen Papieren nach einem Hinweis, wo er die Juwelen versteckt haben könnte. Doch ich fand keine Zeile und musste verbittert und enttäuscht den Ort verlassen. Doch zuvor überlegte ich, ob ich nicht ein Zeichen der Rache hinterlassen sollte, das meine Sikh-Freunde erfreut hätte, sollte ich sie jemals wiedersehen. So kritzelte ich das Zeichen von uns Vieren auf die Karte und befestigte sie an seiner Brust. Es wäre ungerecht gewesen, wenn er zu Grabe getragen würde ohne irgendein Zeichen der Männer, die er genarrt und bestohlen hatte."
"In jener Zeit verdienten wir unseren Lebensunterhalt, indem ich Tonga auf Ausstellungen und an anderen Orten als den schwarzen Kannibalen vorführte. Er musste rohes Fleisch essen und einen Kriegstanz zeigen. So hatten wir am Ende des Tages eine Handvoll Pennies in Hut. Ich erhielt noch immer die Nachrichten von Pondicherry Lodge, aber für einige Jahre war nichts Neues zu erfahren, außer dass man immer noch nach dem Schatz suchte. Dann endlich kam die Nachricht, auf die wir so lange gewartet hatten. Der Schatz war gefunden worden. Er war im Dach des Hauses, in Mr. Bartholomews Chemielaboratorium. Ich ging sofort hin, um mir den Ort anzusehen, fand aber keine Möglichkeit, mit meinem Holzbein dort hinauf zu gelangen. Ich erfuhr aber etwas über die Falltür und über Mr. Sholto's Uhrzeit des Abendessens. Ich glaubte, dies leicht durch Tonga erledigen zu können. Ich nahm ihn mit und band ihm ein langes Tau um die Hüften. Er konnte wie eine Katze klettern und war schnell auf dem Dach. Unglücklicherweise und zu seinem Schaden war Mr. Sholto noch im Zimmer. Tonga glaubte, etwas sehr Kluges getan zu haben, als er ihn tötete. Als ich das Seil hinaufkam, lief er wie ein stolzer Pfau herum. Er war sehr überrascht, als ich ihn mit dem Tauende schlug und ihn als blutrünstigen Kobold verfluchte. Ich nahm die Schatzkiste und ließ erst sie und dann mich am Seil hinunter. Vorher machte ich aber das Zeichen der Vier auf dem Tisch, um anzuzeigen, dass die rechtmäßigen Besitzer zurückgekommen waren. Tonga zog dann das Seil herauf, schloss das Fenster und machte sich auf demselben Weg von dannen, wie er gekommen war."
"Ich glaube, mehr brauche ich Ihnen nicht zu erzählen. Ich hatte einen Seemann über die Schnelligkeit der Aurora erzählen gehört und dachte, es sei das richtige Boot zur Flucht. Ich wurde mit dem alten Smith handelseinig und versprach ihm eine hohe Belohnung, wenn er uns sicher auf unser Schiff bringen würde. Er wusste zweifellos, dass etwas faul daran war, aber er erfuhr nichts über unser Geheimnis. Und wenn ich Ihnen hier die Wahrheit erzähle, ist es nicht, um Sie gut zu amüsieren, Gentlemen -- denn andersherum haben Sie mir nicht Gutes gebracht --, sondern meine beste Verteidigung kann nur sein, nichts auszulassen. Die ganze Welt soll wissen, wie schlecht ich von Sholto behandelt worden bin und wie unschuldig ich am Tod seines Sohnes."
"Ein bemerkenswerter Fall," sagte Holmes. "Und eine passende Auflösung dazu. Im letzten Teil Ihrer Erzählung habe ich nichts Neues erfahren, außer dass Sie ihr eigenes Seil mitbrachten. Das wusste ich nicht. Ich hatte übrigens gehofft, dass Tonga alle seiner Pfeile verschossen hatte, aber er hat noch einen vom Schiff aus auf uns abgeschossen."
"Er hatte sie alle verloren, Sir. Aber einer steckte noch im Blasrohr."
"Oh, natürlich," sagte Holmes. "Daran hatte ich nicht gedacht."
"Gibt es noch einen anderen Punkt, über den Sie Auskunft wünschen?" fragte der Gefangene leutselig.
"Danke, ich glaube nicht," antwortete mein Begleiter.
"Nun, Holmes," sagte Athelney Jones, "Sie sind ein humorvoller Mensch und wir wissen alle, dass sie ein Liebhaber von Verbrechen sind. Aber Pflicht ist Pflicht und ich bin sehr weit mit dem gegangen, um das Sie mich gebeten hatten. Ich würde mich viel wohler fühlen, wenn wir unseren Geschichtenerzähler endlich hinter Schloss und Riegel hätten. Der Wagen und zwei Inspektoren warten noch immer unten auf uns. Ich danke Ihnen beiden für Ihre Hilfe. Natürlich wird man Sie vor Gericht brauchen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht."
"Ihnen beiden Gute Nacht, Gentlemen," sagte auch Jonathan Small.
"Sie gehen voran, Small," befahl der vorsichtige Jones beim Verlassen des Zimmers. "Ich werde genau aufpassen, dass Sie mich mit Ihrem Holzbein nicht so wie den Mann auf den Andamanen niederknüppeln können."
"So, das ist nun das Ende unseres kleinen Dramas," bemerkte ich, nachdem wir einige Zeit still geraucht hatten. "Ich fürchte, dies war die letzte Ermittlung, bei der ich Ihre Methoden studieren konnte. Miss Morstan hat mir die Ehre gegeben und mich als zukünftigen Ehemann akzeptiert."
Er stieß einen düsteren Seufzer aus. "Das habe ich befürchtet," sagte er. "Ich kann Ihnen wirklich nicht gratulieren."
Ich war ein wenig gekränkt. "Sind Sie mit meiner Wahl unzufrieden?" fragte ich.
"Keineswegs. Sie ist eine der charmantesten jungen Damen, die ich je kennengelernt habe und könnte uns bei solchen Arbeiten wohl unterstützen, wie wir sie bisher gemacht haben. Sie hat eine unzweifelhafte Geschicklichkeit dabei: denken Sie daran, wie sie diese Agra-Karte von allen anderen Papieren ausgewählt und aufbewahrt hatte. Aber die Liebe ist eine emotionale Sache und steht im Gegensatz zur kalten Logik, die ich über alle anderen Dinge stelle. Ich werde nie heiraten, denn ich fürchte die Beeinflussung meines Urteilsvermögens."
"Ich vertraue darauf," rief ich lachend, "dass mein Urteilsvermögen die Probe besteht. Aber Sie sehen müde aus."
"Ja, es wirkt schon bei mir. Ich werde mich eine Woche lang wie ein schlapper Feudel fühlen."
"Seltsam," sagte ich, "wie sich etwas, das ich bei anderen Menschen Faulheit nennen würde, bei Ihnen abwechselt mit Anfällen von extremer Energie und Kraft."
"Ja," sagte er, "in mir gibt es Anlagen für einen guten Faulenzer und auch für einen lebhaften Typen. Ich denke oft an diese Zeilen vom alten Goethe:
'Schade, dass die Natur nur einen Mensch aus Dir schuf,
Denn zum würdigen Mann war und zum Schelmen der Stoff.'
Um noch einmal auf den Norwood Fall zurückzukommen: Sie sehen, dass sie, wie ich schon vermutete, einen Verbündeten im Hause hatten. Dies kann kein anderer als der Butler Lal Rao sein. Jones hat also nur einen Teil der Beute in seinem Netz gefangen."
"Eine Teilung scheint mir ungerecht," antwortete ich. "Sie haben die meiste Arbeit an diesem Fall geleistet. Ich bekomme eine Ehefrau, Jones erhält die Ehre, was bleibt da für Sie?"
"Mir bleibt das Kokain-Fläschchen," sagte Sherlock Holmes und streckte seine lange weiße Hand danach aus.

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Tag der Veröffentlichung: 24.06.2009

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