Sie fallen alle. Erst ein Blatt.
Willen verborgen, blutiger Mast,
wehrhaftes Schild, dann ein Ast,
Willen gebrochen, Axt ist satt.
Baum ist gefallen, heiße Last.
Willen ist Rauch, Blut macht Rast.
Sie hatten kein Interesse, das sah Ashley sofort. Mit diesen Schulklassen war es doch immer dasselbe. Sie wurden von ihren Lehrern hier angeschleppt und wussten nichts hiervon wertzuschätzen. All die schönen und auch seltenen Pflanzen, die gehegt und gepflegt wurden, all die liebevoll gestalteten verschiedenen Gärten im botanischen Garten und dann noch das traumhafte Arboretum - und sie sahen nicht einmal richtig hin.
Ashley lächelte gezwungen. Die Schüler tuschelten mal wieder, sodass sie besonders laut sprechen musste. Oft genug hatte sie erlebt, dass man sie nicht richtig ernst nahm, da sie selbst noch Studentin war und das Ganze hier eigentlich auch nur nebenher machte.
»Die verschiedenen Helikonien-Arten, die Sie hier sehen, sind alle immergrün und tragen einen wichtigen Beitrag zur Artenvielfalt des Regenwaldes bei. Ihre Blüten werden von vielen Tierarten bestäubt, so auch von Kolibris ...«, fuhr sie mit ihrer Führung und all dem Wissen, das sie sich angeeignet hatte, fort, nur um ein weiteres Mal unterbrochen zu werden.
Ein entsetzlich lauter Schrei riss nicht nur ihre Aufmerksamkeit weg von der scharlachroten Helikonie, die sie gerade präsentiert hatte. Einige der Schüler stürmten bereits aus dem Greenhouse, dem Gewächshaus-Komplex, nach draußen.
»Ganz ruhig! Bleibt doch hier!«, rief einer der beiden Lehrer vergebens.
Ashley, die für einen Moment verärgert stehen geblieben war, eilte nun ebenfalls den Schülern hinterher.
Draußen wartete bereits Ms. Pretorius, die Leiterin des botanischen Gartens, die völlig fertig wirkte. »Halt! Keinen Schritt weiter!«, kreischte sie, atmete einmal tief durch und versuchte es dann etwas ruhiger: »Wir haben hier einen Notfall. Ich habe bereits die Polizei gerufen. Ich muss den botanischen Garten unverzüglich schließen und Sie alle bitten, ihn sofort zu verlassen. Kommen Sie doch ein anderes Mal wieder. Melden Sie sich einfach bei mir, ja?«
Es dauerte dann doch ein bisschen, bis die Lehrer die Schüler dazu bewegten, Richtung Ausgang zu gehen. Ernest, die einzige Security-Kraft im botanischen Garten, tauchte auf und beschleunigte den Vorgang etwas.
Ashley hatte die ganze Zeit Richtung Arboretum gestarrt und gegrübelt, was passiert sein könnte. Vor allem wunderte sie sich, warum Ms. Pretorius denn die Polizei rufen musste. Was sollte denn in einem botanischen Garten schon groß passieren?, dachte sie. Als auch die letzten Besucher endlich den Garten verlassen hatten, fragte Ashley dann auch genau dies Ms. Pretorius: »Was ist denn passiert?«
»Da … draußen, beim Arboretum. Da...«, stammelte Ms. Pretorius nun nur noch, den Tränen nahe. Sie wedelte wild in Richtung des Arboretums, das aufgrund seine Größe mehr einem Wald glich und ebenfalls zum großen Außenbereich des botanischen Gartens gehörte.
Da kam auch schon Nina, eine der Gärtnerinnen, angerannt. Ihre langen dunklen Haare, um die Ashley sie auch schon mal etwas beneidet hatte, waren so zerzaust wie sonst Ashleys. Noch dazu waren sie dreckig und wippten im Rennen auf Ninas kräftigem Oberkörper.
»Der schöne Baum … einfach gefällt«, sagte Nina. Sie klang aufgeregt, aber wirkte seltsamerweise nicht so. Trotz ihrer etwas kräftigeren Figur und all der Aufregung war sie kaum außer Atem.
»Meinst du die alte Weiß-Esche? Ich fürchte, die ist unser geringstes Problem«, brachte Ms. Pretorius schrill hervor.
Ashley überlegte nun nicht lange. Ohne auf Nina oder Ms. Pretorius zu reagieren, ging sie zurück Richtung Eingangsbereich, um ihre geliebte Kamera zu holen. Was immer auch da draußen passiert war, sie wollte es unbedingt noch festhalten, bevor die Polizei kam und alles absperrte.
Sie brauchte allerdings viel zu lange für den weiten Weg durch den Garten, durch das Greenhouse, bis zur Verwaltung und den Schließfächern im Eingangsbereich und wieder zurück. Sie hörte schon die Polizeisirenen, ging aber trotz des Protests von Ms. Pretorius schnurstracks weiter Richtung Arboretum. Zum Glück wusste sie genau, dass die Weiß-Esche am westlichen Rande des Arboretums gestanden hatte - sonst wäre sie womöglich stundenlang in dem Wald herum gelaufen.
Den Anblick, der sich ihr dann bot, würde sie nicht so schnell vergessen. Neben dem großen, gefällten Baum und dessen Baumstumpf lagen irgendwelche Knochen. Blutige Knochen, an denen noch Hautfetzen hingen. Schnell machte sie ein Foto, das längst nicht so qualitativ wurde, wie es eigentlich ihren Ansprüchen nach sein musste, ehe sie angewidert ihren Blick abwandte.
Mit flauem Gefühl im Magen fand sie dann auch den Zettel, den eine große Axt am Boden hielt.
Als sie auch davon ein Foto machte, entdeckte sie, dass sich auf dem Zettel ein seltsamer staubiger Haufen befand. Asche. Das ist Asche, dachte sie entsetzt, als es ihr gelang, die mit Blut geschriebene Botschaft zu entziffern und realisierte was da stand:
»Ihr werdet fallen wie ein Baum. Vom Baum bleibt Holz, von euch bleibt nichts als Asche.«
Es war ihr, als könne sie die Asche noch riechen, als lege sich der Tod in Form eines ganz leichten Brandgeruchs, in den Duft des Waldes hinein.
Als Ashley Schritte hinter sich hörte, wandte sie sich schnell von all dem ab und lief genau der anrückenden Polizei entgegen.
- Chronik Devsymbs -
Nichts ist reiner Zufall. Da war dieser Typ gewesen. Groß, einschüchternd, vorlaut. Ein Riese mit Bart. Das allsehende Auge kannte jemanden, der ihn kannte. Der ihn verraten hatte. Und als wir ihn sahen, wussten wir, dass auch niemand um ihn trauern würde. Ein gutes erstes Opfer, das dem Teufel dargeboten wurde.
Der Typ war besoffen, wahrscheinlich auch nicht zum ersten Mal, aber das entschuldigte nichts. Er hat einen von uns angepöbelt und dumme Sprüche losgelassen. Hätten wir es nicht sowieso schon auf ihn abgesehen gehabt, wäre er dennoch fällig gewesen. So etwas lassen wir uns nicht gefallen.
Das Pentagramm hat sich liebend gerne um ihn gekümmert.
Natürlich ist der Typ alleine unterwegs gewesen und natürlich hatte er keinerlei Angst oder Sorgen, so spät nachts durch die Straßen zu ziehen. Wer sollte sich auch mit ihm anlegen?
Das Pentagramm mag zierlich oder schwächlich aussehen, vor allem für ihn. Doch im Pentagramm verbirgt sich die Macht des Teufels. Durch seine Kraft durchdrang die Axt den Nacken des Mannes. Erst fiel er, dann der Baum.
Wir haben uns um seine Leiche gekümmert. Niemand wird verwertbare Spuren finden. Sie werden nur das finden, was sie finden sollen: Zunächst wären das ein paar seiner Knochen mit Haut und den Haufen Asche, der vom Verbrennen seiner abgetrennten Hände stammte.
Wir werden uns immer um alles und jeden kümmern, wie es der Teufel für angemessen erachtet.
Jetzt hat es endlich begonnen. Unser erstes Symbol ist hinterlassen worden. Unsere erste Botschaft – geschrieben mit dem Blut des Opfers - wurde übermittelt. Wir, die Devsymbs, wahre Stellvertreter des Teufels auf Erden, werden sie alle zu uns holen. Wer nicht folgt, wird fallen wie ein Baum, doch vom Baum bleibt Holz. Von euch wird nichts als Asche bleiben, die wir in der Hölle verstreuen werden.
- gezeichnet im Namen aller Devsymbs und des Satans: Der Totenkopf –
»Sofort stehen bleiben!«, schrie sie ein sportlicher Mann mit grauem wirrem Haar an, an dessen Gürtel gut sichtbar eine Polizeimarke befestigt war.
Ashley zuckte zusammen und schob schnell ihre Kamera in die Kameratasche.
»Ich … ich arbeite hier. Ich wollte nur nachsehen … «, stammelte sie.
Der Polizist war nicht alleine gekommen. Auf ihn folgte offenbar seine wesentlich jüngere Kollegin – eine großgewachsene asiatische Frau, die leicht lächelte.
»Lass nur Coldos. Schau schon mal, ob das wirklich was für uns ist oder ob diese Ms. Pretorius nur herum gesponnen hat. Ich kümmere mich derweil um diese junge Frau hier und nehme schon mal ihre Personalien auf.«
Während sich der Mann – der offenbar Coldos hieß - grummelnd in Richtung des gefällten Baums bewegte, präsentierte nun die Frau Ashley ihre Marke.
»Detective Lin. Mit wem habe ich es denn zu tun? Haben Sie einen Ausweis dabei?«
Stumm kramte Ashley ihr Portemonnaie und ihren Ausweis hervor.
»Ich … heiße Ashley Lyndon.«
»So so ... Ms. Lyndon. Und sie arbeiten also auch hier?«
In diesem Moment stieß auch Ms. Pretorius zu ihnen.
Detective Lin musterte Ashley nun genau. Nachdem sie sich wohl ihren Namen notiert hatte, gab sie ihr dann den Ausweis zurück, ließ ihren Blick aber nach wie vor nicht von Ashley. Ashley bemerkte, wie der Blick von Detective Lin dann zu ihrer Kameratasche wanderte.
»Ja. Ich arbeite hier. Ich gebe Führungen und mache hin und wieder auch Bilder unseres Bestandes«, sagte Ashley leise.
»Ja. Sie arbeitet wirklich hier, wenn auch nur um sich ihr Studium zu verdienen. Sie ist eine meiner besten Kräfte. Ganz sicher hat sie nichts damit zu tun«, sagte Ms. Pretorius schnell.
»Hey Lin! Komm sofort her und bring die Göre mit!«, ertönte ein donnernder Schrei, der sie unterbrach.
»Ist ihr Kollege immer so unfreundlich?«, murmelte Ms. Pretorius. Sie war immer noch total durcheinander, ja noch zerstreuter, als sie es sonst sowieso schon immer war.
Widerwillig ging Ashley mit Ms. Pretorius und Detective Lin zurück zum Tatort, wo der andere Detective sie schon ungeduldig erwartete.
»Ich hoffe niemand hat hier etwas angefasst«, begrüßte Detective Coldos sie barsch.
»Nein«, murmelte Ashley, die verzweifelt versuchte, ihren Blick von dem gefällten Baum und dieser abscheulichen Botschaft abzuwenden.
»Ich denke nicht, dass einer meiner Mitarbeiter so unverantwortlich wäre und hier irgendwelche Spuren verwischen würde«, meinte Ms. Pretorius schnippisch.
Detective Lin ist in die Hocke gegangen und betrachtete – zu Ashleys Verwunderung immer noch etwas lächelnd – die blutige Axt und den Zettel mit der bedrohlichen Botschaft.
»Schon in Ordnung, Coldos. Sie stehen wohl alle etwas unter Schock. Ist ja auch kein schöner Anblick. Hast du schon Meldung gemacht?«, sagte Detektive Lin schließlich.
»Sicher. Die anderen müssten jeden Moment eintreffen.«
»Gut … Wenn sie mich nicht mehr brauchen, gehe ich dann mal wieder und … werde sie in Empfang nehmen«, sagte Ms. Pretorius.
»Nicht so schnell. Wir hätten da schon noch einige Fragen an Sie«, sagte Detektive Coldos und blickte sie grimmig an. »Sie haben uns ja im Grunde noch gar nichts gesagt. Also: Wer hat hier alles Zugang?«
»Sie meinen außer meiner Mitarbeiter? Natürlich sämtliche Besucher. Von meinen Mitarbeitern kann ich Ihnen eine Liste geben, aber für die würde ich die Hand ins Feuer legen. Niemals würden sie einen Baum fällen und dann noch … so etwas hinterlassen«, legte Ms. Pretorius wieder sehr schnell und schrill sprechend los.
»Ach und da sind sie sich so sicher? Ich meine, wie soll einer der Besucher hier unbemerkt eine Axt hinein bringen und einen derartigen Baum fällen, ohne dass es jemand mitbekommt? Und dann auch noch diese Knochen … «
»Und warum sollte einer meiner Mitarbeiter so etwas tun?«, sagte Ms. Pretorius aufgebracht.
Genau. Warum nur? Warum sollte überhaupt jemand etwas derartiges tun?, dachte Ashley. Und bestimmt werden für die nächsten ein, zwei Tage Leute von der Spurensicherung, der Gerichtsmedizin, irgendwelche Ermittler oder was auch sonst noch alles den Garten belagern. Das stört die ganze Ruhe hier.
»Genau. Nachher wird der Garten noch geschlossen oder abgesperrt oder so. Wer hat denn davon was?«, sagte sie schließlich leise.
»Hm«, brummte Detective Coldos nur. Nun meldete sich auch Detective Lin zu Wort:
»So ganz von der Hand zu weißen ist das nicht. Ich will ihnen ja keine Angst machen, aber diese … Hinterlassenschaften sehen mir doch sehr … menschlich aus. Auch diese Botschaft deutet ja darauf hin. Wir müssen alles in Betracht ziehen, auch Mord, daher müsste ich Sie bitten zumindest einen Großteil des Außenbereichs für Besucher zu sperren, während unsere Ermittlungen hier laufen.«
Detective Lin lächelte und ignorierte den wütenden Blick, den Detective Coldos ihr zuwarf.
Tolles Duo, dachte Ashley.
Nachdem Ms. Pretorius den Detectives eine Liste der Mitarbeiter gab und die beiden Detectives sie wegschickten, trafen auch schon die »anderen« ein, von denen die Detectives gesprochen hatten.
Ms. Pretorius ging daraufhin schnell.
Ashley hielt für einen Moment inne. Eigentlich wollte sie sich nicht allzu weit vom Tatort entfernen, sei es auch nur, um aufzupassen, dass niemand noch mehr Pflanzen hier beschädigte. Der Lärm und die Unruhe, die durch das ankommende Ermittler-Team aufkam, störte sie jedoch gewaltig.
Also verließ auch sie den botanischen Garten auf schnellstem Weg und hoffte, dass schon bald wieder Ruhe einkehren würde. Ihr Gefühl sagte ihr da jedoch etwas anderes.
Der Blick überall.
Linsen, rund und eckig,
verborgen
im kalten Zug von offenen Mündern.
Das allsehende Auge.
Pupillen, groß und gierig,
verborgen
im warmen Zug von wuselnden Gliedern.
- Chronik der Devsymbs -
Ich, das allsehende Auge, habe euch im Blick. Es ist Zeit, euch zu zeigen, dass ihr in jedem Moment zu sehen seid, auch wenn ihr es nicht glaubt. Der Teufel spürt eure Schritte am Boden und gibt mir ein Zeichen. Mich seht ihr nicht. Und wenn ihr mich seht, denkt ihr euch nichts dabei.
Ich bin gut darin, nicht aufzufallen, mich anzupassen, die Rolle zu spielen, die ihr von mir erwartet. Ihr seht mich erst, wenn es bereits zu spät ist.
Das erste Opfer wurde von mir erwählt. Auch das nächste werde ich erwählen, das werde ich einfordern. Dank meiner guten Verbindung zum Totenkopf, bin ich mir sicher, dass mein Vorschlag angenommen werden wird.
Und dann wärst da ja auch noch du, Ashley. Dich konnte ich ja noch nie leiden. Glaube ja nicht, ich hätte nicht gesehen, wie du einfach Bilder von unserem Werk gemacht hast.
Dir ist ein bisschen übel geworden, oder? Ach komm, lüge mich nicht an. Ich habe doch deinen Gesichtsausdruck gesehen. Glaub mir, ich kenne dich besser, als du dich selbst. Du weißt ja nicht, dass es da etwas gibt, das uns verbindet. Ich weiß, genau, dass du ahnungslos bist. Der Teufel - und vor allem auch ich - werden dich zu gegebener Zeit erleuchten. Ich hoffe jedenfalls unsere neuste Schöpfung wird dir noch mehr missfallen.
- Gezeichnet im Namen der Devsymbs: Das allsehende Auge -
Ashley hatte kaum geschlafen. Die ganze Nacht über waren ihr die Bilder von der gefallenen Weiß-Esche, der blutigen Axt, der Botschaft, den Knochen und der Asche nicht aus dem Kopf gegangen.
Noch hatte sie niemand im Wohnheim darauf angesprochen, doch bestimmt war die Nachricht vom Vorfall im botanischen Garten inzwischen durchgesickert.
Stöhnend rappelte sie sich auf, stand auf zog sich an und warf nur einen flüchtigen Blick auf das leere Bett am anderen Ende des Zimmers. Ihre Mitbewohnerin Esther war wohl schon auf den Beinen. Besser ist es, dachte Ashley.
Der Blick auf ihr Smartphone verriet ihr, dass sie mal wieder spät dran war. Ausgerechnet heute.
Als sie überhastet ihr Zimmer verließ, nahmen sie an jenem Morgen dann auch noch zwei andere Gestalten in Empfang, die sie nicht geglaubt hatte, so früh wieder zu sehen. Vor allem nicht hier.
»Miss Lyndon. Gut, Sie sind auf. Wir wollten gerade zu ihnen, denn wir müssen wirklich sehr dringend mit Ihnen sprechen«, begrüßte sie der unverschämte Detective Coldos.
»Was … was soll das denn? Was ist denn los? Warum sind sie denn hier? Warum wollen sie mit mir sprechen?«, murmelte Ashley verwirrt und starrte die beiden Detectives schlaftrunken an.
»Nun ... In der Nacht hat es einen weiteren Vorfall im botanischen Garten gegeben … «
»Und was hat das mit mir zu tun? Ich war die ganze Zeit hier«, sagte Ashley mürrisch.
»Am besten besprechen wird das nicht hier auf dem Flur«, meinte Detective Lin.
»Hm. Ich wollte eigentlich gerade zu einer Vorlesung. Was zur Hölle ist denn passiert?«, brummte Ashley, die die beiden Detectives in ihr Zimmer bat. Sie sah sich schnell auf dem Flur um, ob irgendjemand die Ankunft der Detectives mitbekommen hatte und schloss dann schnell die Tür hinter ihnen.
»Nahe … des gefällten Baumes, haben wir an einem anderen Baum ein Foto angehaftet gefunden«, sagte Detective Lin.
»Was für ein Foto?«, fragte Ashley.
Detective Lin kramte daraufhin etwas aus ihrer Lederjacke und hielt es Ashley vor die Nase.
»Lin! Was tust du da?«, warf Detective Coldos empört ein.
»Keine Sorge, Coldos. Das ist nur eine Kopie«, sagte Detective Lin. »Und ich finde, sie hat sehr wohl ein Recht darauf, es selbst zu sehen.«
Ashley beachtete die beiden gar nicht weiter, sondern starrte auf das Foto. Es war ein Foto von ihr. Nicht etwa eins, das sie selbst geschossen hatte, sondern eins, auf dem sie abgebildet war und davon gab es eigentlich nicht gerade viele.
Auf dem Foto wirkten ihre großen Augen noch größer. Sie sah sehr konzentriert und irgendwie auch etwas traurig aus. Ihre sowieso schon immer recht zerzausten braunen Haare glichen mehr einem Rattennest. Normalerweise machte sie sich nichts daraus, aber das Foto wirkte, als hätte man mit Absicht ein möglichst unvorteilhaftes Bild von ihr schießen wollen. Damit nicht genug, prangten darauf auch noch kleine, verschmierte rote Buchstaben. Sie zog entsetzt die Luft ein.
»Wer hat das geschossen? Das ist in mehrerer Hinsicht grässlich«, sagte sie und versuchte Ruhe zu bewahren. Mit Mühe entzifferte sie die schmierigen Buchstaben darauf:
»Wir sehen alles. Wir haben auch den Garten im Auge. Nicht du, Ashley.«
Ashley versuchte zu begreifen, was ihr da soeben gezeigt wurde und was dies bedeuten konnte. Ehe sie noch etwas sagen konnte, ergriff Detective Coldos das Wort:
»Irgendeine Idee wer das gewesen sein könnte?«
»Woher soll ich denn das wissen? Ich habe das Bild noch nie zuvor gesehen, noch kenne ich irgendwen der so etwas tun sollte. Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass das Bild bei einer weiteren … Leiche lag«, entfuhr es Ashley. Sie wich bestürzt Detective Coldos kühlem Blick aus.
»Nein. Gott sei Dank haben wir keine weiteren menschlichen Überreste oder dergleichen finden können. Aber diese Botschaft stammt ganz eindeutig von den gleichen Tätern«, sagte Detective Lin in ruhigem, sanften Ton und blickte sie intensiv mit leuchtenden Augen an. »Ashley, es ist doch in Ordnung, wenn ich dich beim Vornamen nenne und dich duze, ja?«
Ashley nickte stumm.
»Nun, Ashley. Da diese Botschaft auf deinem Bild geschrieben stand – noch dazu mit deinem Namen - müssen wir ja annehmen, dass du den oder diejenige kennst. Du sagst zwar, dass du niemanden kennen würdest, der so etwas tut, aber überlege doch bitte einmal: Will dir irgendwer etwas Böses? Hattest du Streit mit irgendwem?«, sagte Detective Lin in weiterhin ruhigem, sanften Ton.
Ashley blickte auf. Lin lächelte wieder.
So sehr Ashley aber auch überlegte, ihr fiel beim besten Willen niemanden ein.
»Nein. Ich habe oder hatte mit niemandem Streit. Höchstens mal mit meinen Eltern, aber das hat sich auch erledigt, seit ich hier wohne.«
»Sagt dir der Name Forrest Baines zufällig etwas?«, fragte Lin.
Ashley schaute sie verwundert an. »Nein. Wieso? Sollte er das? Wer ist das?«
»Nicht so wichtig. Komm Lin. Wir sollten Sie nicht mehr länger belästigen. Lass uns gehen«, wirkte Coldos das Ganze schnell ab.
Lin nickte. Sie schob dann zur Verärgerung ihres Kollegen aber leise nach »Forrest Baines heißt das … Opfer«
»Lin!« Coldos Wut zeichnete sich auf jeder Falte seiner Stirn ab. Die Falten bebten förmlich.
»Was denn? Sie erfährt es doch sowieso irgendwann. Du weißt doch, wie die Presse so ist. Allzu lange können wir das nicht geheim halten«, sagte Lin abwehrend und reichte Ashley eine Visitenkarte. »Melde dich doch, wenn dir noch etwas einfällt oder falls dir irgendetwas auffällt, ja. Und gib auf dich Acht.«
Als die Detectives endlich ihr Zimmer verließen, wartete Ashley nur kurz und folgte ihnen dann ein Stück. Mit viel Glück würde sie vielleicht noch das Ende der Vorlesung am College mitbekommen.
Die Detectives diskutierten leise miteinander und beeilten sich zum Treppenhaus zu gehen, dennoch schnappte Ashley noch etwas auf.
»Wir müssen Sie im Auge behalten. Das ist eine handfeste Drohung, Coldos«, hörte sie Lin sagen.
Coldos grummelte nur irgendetwas, das Ashley nicht verstand, dann verlor sie die beiden aus den Augen.
Schon während der Vorlesung bemerkte Ashley diese ganzen Blicke, die auf sie gerichtet waren. Sie hatte alle Aufmerksamkeit nicht nur, weil sie zu spät kam, da war sie sich sicher. Kaum da sie am Ende der Vorlesung förmlich aus dem Saal herausströmte, empfing Emma, eine Studentin aus dem Filmbereich, sie im Gang.
»Hey Ashley. Du arbeitest doch im botanischen Garten. Hast du die Knochen gesehen?«, fragte Emma euphorisch. Wahrscheinlich wollte sie das Ganze für einen neuen Film verwenden, dachte Ashley. Emma drehte nämlich immer irgendwelche Horror-Streifen.
Ashley seufzte. »Ja, hab ich Emma. War widerlich. Ich will nicht darüber reden«, sagte sie und schob sich einfach an Emma vorbei.
Auch die nächsten zwei Stunden erntete sie fragende Blicke, denen sie auswich.
Anscheinend wissen schon alle Bescheid, dachte Ashley. Hoffentlich wissen sie noch nichts von diesem Foto, das letzte Nacht aufgetaucht ist.
Besonders Atije, die in den Vorlesungen oft neben ihr saß, musterte sie ausgiebig. Atije fiel mit ihren kurzen, lila gefärbten Haaren und ihren schnippischen Äußerungen immer auf, versuchte sich stets in den Mittelpunkt zu drängen. Wahrscheinlich gefiel ihr nicht, dass Ashley nun alle Aufmerksamkeit hatte.
»Hast du das, was du gesehen hast, mit deiner Kamera festgehalten?«, fragte Atije schließlich.
»Selbst wenn es so wäre, geht dich das absolut nichts an«, gab Ashley etwas patzig zurück. Obwohl Atije oft neben ihr saß, verstand sie sich eigentlich nicht besonders gut mit ihr und mied meist das Gespräch. Aber Ashley redete sowieso nie viel mit den anderen Studenten, erst recht nicht während einer Vorlesung.
Ihr Professor - Professor Ettar - ein schlanker, großer Mann mit markantem Gebiss, das er hier und da entblößte, störte sich auch sehr an so etwas.
»Ruhe da hinten. Ich rede hier jetzt gerade«, brüllte er prompt, ehe er mit ganz ruhiger, bedächtiger Stimme fortfuhr.
Heute war Ashley froh, dass der Tag am College für sie wieder ein frühes Ende nahm.
Aber als sie an der Aula vorbei Richtung Ausgang eilte, behelligte sie auch schon der nächste.
»Ashley. Ich habe mitbekommen, was da Schreckliches im Garten geschehen ist. Venity hat behauptet, Beamte heute im Wohnheim gesehen zu haben. Waren die bei dir? Wie geht es dir? Hast du etwas gesehen?«, schoss Dillan los. Er war einer der wenigen Studenten, von denen Ashley sicher war, dass sie nicht nur wegen dieses … Vorfalls an einem Gespräch mit ihr interessiert waren. Ganz im Gegensatz zum Beispiel zu Venity, die eine regelrechte Klatschtante war und das Ganze bestimmt auf ihren achsotollen Blog posten würde. Daher wissen wahrscheinlich auch alle schon davon, dachte Ashley.
»Passt schon. Ja, ich habe es gesehen. Und ja, es waren heute Morgen Beamte bei mir. Am liebsten würde ich das alles einfach vergessen und nicht darüber reden«, sagte sie.
Dillan blickte sie mit seinen strahlenden blauen Augen an. »Versteh schon. Ich hoffe ja, du hast keine Fotos davon gemacht. Mir würde es ja im Traum nicht einfallen, von so etwas Grässlichem Bilder zu machen.«
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du meine Fotos nicht mit deinen Bildern vergleichen sollst? Und ja, ich habe wirklich Fotos davon gemacht, aber wehe du erzählst das Irgendjemandem«, zischte sie leise, sah sich dabei um, ob irgendwer lauschen könnte.
Erleichtert atmete sie aus, als sie endlich die große Aula und den langen Flur hinter sich gelassen hatte und hinaus auf den großen Hof des College of Arts trat.
Doch auch hier hatte sie keine Ruhe. Kaum da sie den parkartigen Hof betreten hatte, stieß sie auch schon auf Venity.
»Hey Ashley. Genau die, die ich gesucht habe. Du kannst mir doch bestimmt mehr zu dem Vorfall im botanischen Garten sagen ...«
»Könnte ich schon. Will ich aber nicht«, brummte Ashley.
»Ph. Ich berichte so oder so davon«, sagte Venity beleidigt und machte sich mit einer schwungvollen Bewegung zum Glück gleich schon wieder aus dem Staub.
Das Wohnheim lag unmittelbar neben dem Gebäude des College of Arts, das sie seit einem Jahr besuchte.
Im Wohnheim selbst begegnete sie zum Glück niemandem. Erst als sie ihr Zimmer betrat, stieß sie auf die nächste, die sie behelligen würde. Wie befürchtet, schien ihre Mitbewohnerin Esther bereits auf sie gewartet zu haben. Esther blickte auf und rückte ihre Brille zurecht.
»Hey Ashley, da bist du ja. Du bist gerade das Gesprächsthema auf dem Campus. Na gut, nicht direkt nur du, eher das, was im botanischen Garten vorgefallen ist«, empfing Esther sie. »Man munkelt, du hättest alles gesehen. Hast du? Nach dem, was man so hört und liest, muss es ja schlimm gewesen sein.«
Ashley atmete einmal tief genervt ein und aus und pfefferte ihre Tasche in Richtung des kleinen Schreibtisches, der gegenüber der Tür unterm Fenster stand.
Dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen.
»Allerdings. Aber schlimm ist auch, das mich gefühlt jeder darauf anspricht. Also auch für dich noch einmal: Ja, ich habe etwas gesehen und ja, es war schlimm. Mehr will ich dazu nicht sagen.«
»Versteh schon. Würde mir wahrscheinlich nicht viel anders gehen«, murmelte Esther, kramte einen Bleistift hervor und kritzelte auf ihrem Zeichenblock herum. Nach einer Weile meinte sie dann: »Du weißt, wenn du über irgendetwas reden willst, kannst du jederzeit mit mir darüber sprechen.«
»Hm«, brummte Ashley nur. Sie blickte eine Weile aus dem schmalen Fenster ihres Zimmers.
- Chronik der Devsymbs -
Unsere neue Botschaft wurde überbracht. Ich hoffe unser Bild hat dir gefallen, Ashley. Ist es nicht lustig, dass du immer nur Bilder von der Natur machst, aber nie von dir selbst? Jetzt hast du mal gesehen, wie du wirklich aussiehst. Eigentlich könntest du so hübsch sein, aber dein Aussehen schert dich ja nicht besonders, oder? Genau das habe ich hoffentlich gut eingefangen. Oder etwa nicht? Na, was sagst du?
Nun gut. Zurück zur Sache. Die Botschaft an dich ist hoffentlich klar geworden, oder?
Wir haben die Kontrolle. Wir sehen dich. Wir sehen alle. Ich sehe euch alle. Ich bin das allsehende Auge. Ach und pass auf, was du den netten Beamten erzählst, Ashley.
Ihr solltet alle aufpassen, was ihr so sagt. Unsere nächste Botschaft wird euch dies noch einmal verdeutlichen.
- Gezeichnet im Namen aller Devsymbs: Das allsehende Auge -
Bewegende Gesichter außer Takt,
die Wolken erst hell, dann matt,
der Baum zum Finger erhoben,
fällt durch Pfeil und Bogen.
Schimmernde Sterne in Leere,
die Wut greift nun zu Schere,
die Angst treibt Luft in Lungen,
ruft: »Hütet eure Zungen!«
Am späten Nachmittag brach Ashley wieder zum botanischen Garten auf. Der Außenbereich war zu einem großen Teil gesperrt worden, doch zumindest im Gewächshaus waren weiterhin – trotz der laufenden Ermittlungen – Besucher zugelassen.
Ms. Pretorius war sich zunächst unsicher gewesen, ob es so eine gute Idee wäre, wenn Ashley wieder die neueste Führung übernahm. Sie wusste, wie Ashley erfuhr, bereits auch über das Foto Bescheid. Ashley hatte ihr jedoch versichert, dass dies alles kein Problem wäre. Widerwillig hatte Ms. Pretorius ihrem Flehen nachgegeben.
Auch wenn Ashley eigentlich selbst sehr oft keine große Lust auf die Führungen hatte, war sie stolz mit ihrem Wissen zu prahlen. Vor allem wollte sie aber möglichst viel Zeit im botanischen Garten verbringen. Sicher, sie hätte auch als Besucher kommen können, aber sie brauchte eben für ihr Studium auch alles Geld, das sie nur irgendwie auftreiben konnte.
Der Andrang an Besuchern war gewaltig. Sie kamen aber sicher nicht wegen der Pflanzen. Ashley war sich sicher, dass sie alle nur einen Blick auf jenen Ort richten wollten, an dem laut Nachrichten »eine schreckliche Botschaft aus Blut und Knochen« hinterlassen worden war. Dabei würden sie alle gar nichts sehen.
Ashley hatte sich an der Menschenmenge vorbei gedrängt, war zu ihrem Spind gegangen und hatte sich eilig das Poloshirt mit dem Logo des botanischen Gartens angezogen, das sie vor allem bei Führungen immer tragen musste. Ihre Kamera hatte sie schnell im Spind verstaut und sich sofort Richtung Außenbereich bewegt.
Die Polizei war gründlich gewesen und hatte viele der Wege mit einen entsprechenden Band abgesperrt. Man kam nicht einmal in die Nähe des Arboretums, schon beim Rosengarten war Schluss. Und von dort sah man noch rein gar nichts. Mit einem Fernglas würde man eventuell einen der Polizisten sehen oder man begegnete Ernest, dem Security-Typen.
Genau jenem lief Ashley nun auch in die Arme.
»Hallo Ashley. Was machst du denn hier draußen? Ich hab gehört, Ms. Pretorius lässt dir heute die Ehre, im Greenhouse die Führung zu geben. Die Leute warten doch schon sicher wie die Geier. Was meinst du: Würdest du so freundlich sein und dich endlich um sie kümmern?«, sagte Ernest, bemüht freundlich wie eh und je. Seine Statur war ja auch einschüchternd genug.
»Wenn du mich so lieb bittest«, sagte Ashley. Seufzend genoss sie für einen kurzen Augenblick die Floribundarosen - wie etwa die Rosen der Sorte »Yesterday« - ehe sie kehrt machte und entschlossen auf das Gewächshaus zusteuerte.
Die Führung war anders als alle Führungen, die sie je gegeben hatte – und sie übernahm normalerweise inzwischen fast täglich mindestens eine.
Die Besucher interessierten sich noch weniger für die Pflanzen, sondern versuchten ständig einen Blick aus den Glasfassaden hinaus in den Garten zu werfen. Und sie stellten immer wieder Fragen, Fragen, die nichts mit irgendeinem der Fakten zu tun hatten, die Ashley wie immer herunter ratterte, als hätte sie nie etwas anders gemacht.
Diese Spinner sorgten dafür, dass ihr die Führung noch weniger Spaß machte als sonst.
Dann unterbrach auch noch erneut ein lauter Aufschrei ihre Führung. Sofort war Ms. Pretorius zur Stelle, als hätte sie nur auf etwas Derartiges gewartet.
Ashley versuchte verzweifelt die Besucher in Blick und in Schach zu halten, während sie allesamt in Richtung des Schreis strömten. Sie verließen den einen Teil des Greenhouses, um zur Aquatic House and Orchid-Collection (also dem Wasserhaus und der Orchideenkollektion) zu gelangen. Im Kontrast zu der Anspannung, die nun im Raum herrschte, schwabbte das Wasser in den Rinnen und Becken so ruhig leicht hin und her wie sonst auch.
Nahe eines der Becken mit Wasserpflanzen stand starr einer der Besucher, der sich nicht der Führung angeschlossen hatte. Der Besucher hatte sich weit in Richtung einer der weißen Schlauchpflanzen gebeugt. Der junge Mann mit bleichem Gesicht starrte auf etwas ganz Bestimmtes, das Ashley erst erkennen konnte, als sie ganz nah herantrat und sich dabei auch an Ms. Pretorius vorbei drängte.
Es war etwas blass-rosarotes, glitschiges, was definitiv nicht zu der Pflanze gehörte - zumal diese jetzt da der Herbst vor den Türen war, längst nicht mehr in der Blüte stand.
Ashley konnte nur erahnen, was sie da sah. Vielleicht wäre das Ganze auch nicht gleich so aufgefallen, wäre an der Pflanze nicht ein kleiner Zettel befestigt worden auf dem in Blutrot stand: »Schweigt. Kein heiliger Geist, kein Gott, niemand redet mehr mit euch. Nur wir. Hütet eure Zungen. Das gilt auch für dich, Ashley.«
Ashley begriff das Ganze nur langsam. Sie sah den rötlichen Film auf dem glitschigen Etwas und auch auf der Pflanze und erkannte dann nach und nach die Strukturen.
Das … ist wirklich eine Zunge, dachte sie und spürte wie erneut Übelkeit in ihr hochstieg. Sie schüttelte sich angewidert, während um sie herum bereits Tumult herrschte.
Während einige der anstürmenden Besucher ihre Smartphones zückten, um zu versuchen Bilder von der blutigen Botschaft zu machen, stürmte schon Ernest in Begleitung von einem Polizisten herein. Die beiden erkannten die Lage sofort, schirmten den Tatort ab und brüllten in die gaffende, sensationsgierige Menge hinein. Der Polizist forderte umgehend per Funk Verstärkung an.
Nach ein paar Minuten hatte sich die ganze Szenerie etwas aufgelöst, auch weil sich zwei Gestalten vordrängten, die Ashley sofort erkannte.
Die Detectives Coldos und Lin wirkten ruhig und entschlossen zugleich. Coldos fuhr Ms. Pretorius sofort an, dass es doch gar keine gute Idee gewesen wäre, nach all dem was bereits vorgefallen war, überhaupt Besucher zuzulassen. Lin ging hingegen schnurstracks Richtung Ashley, die immer noch unweit der … Botschaft stand.
»Ich weiß immer noch nichts Neues«, sagte Ashley sofort.
»Schon gut«, sagte Lin sanft, warf ihrerseits einen kurzen Blick auf die neuste Botschaft, ehe sie zu Ashley zurückkehrte. »Was immer dieser Irre da auf den Zettel schreibt, du kannst uns alles sagen. Hab keine Angst.«
Ashley lachte laut auf. »Na sicher doch. Da liegt ja nur eine verdammte Zunge! Wenn ich dann an die Knochen und Asche denke und mein Bild von letzter Nacht … kann ich wohl ganz beruhigt sein, oder?«
Die meisten der Besucher wurden erfolgreich aus dem Gewächshaus entfernt, dennoch blickte sich Lin besorgt um und seufzte dann lautstark.
»Nun gut. Immerhin von dem Bild letzter Nacht weiß bisher keiner, außer dir und Ms. Pretorius. Aber ich fürchte, das hier werden wir nicht geheim halten können. Wie ich das einschätze, haben bereits einige der Besucher Fotos gemacht. Ich wette einige habe sie auch bereits irgendwo hochgeladen.«
Jetzt trat auch Detective Coldos zu ihnen, der sich zuvor – wie Ashley am Rande bemerkt hatte – aufgeregt weiter mit Ms. Pretorius unterhalten hatte.
»Ms. Lyndon. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass Ihr Name auf solch einem Zettel steht. Sie müssen einfach was wissen. Jetzt sagen Sie schon: Wer hat da was gegen Sie?«
Ashley schnaubte. »Wie oft denn noch. Ich weiß es nicht. Meinen Namen kann zudem theoretisch jeder Besucher hier irgendwann aufgeschnappt haben.«
»Ich glaube nach wie vor nicht daran, dass irgendein Besucher dahinter steckt. Es muss zwingend jemand sein, der hier arbeitet, der die Axt hinein bringen, den Baum fällen, das Foto an einen anderen Baum nageln und auch diese … Zunge auf diese Pflanze platzieren konnte. Also: Welcher der Mitarbeiter hier könnte etwas gegen Sie oder auch diesen botanischen Garten haben?«
Natürlich hatte Ashley selbst auch schon in diese Richtung überlegt, aber sie konnte sich etwas Derartiges nach wie vor von niemandem der hier arbeitenden vorstellen. Das sagte sie auch nun ein weiteres Mal den Detectives.
»Also mir reicht es jetzt endgültig! Ms. Pretorius? Bestellen sie augenblicklich alle ihre Mitarbeiter hier her! Zudem werde ich persönlich veranlassen, dass der gesamte botanische Garten bis auf weiteres für die Öffentlichkeit gesperrt wird«, sagte Coldos mit donnernder Stimme. »Das hätten wir von Anfang an so handhaben sollen«, meinte er dann noch vorwurfsvoll in Richtung seiner Kollegin Lin, die etwas bedröppelt wirkte.
Bis sich alle Mitarbeiter - inklusive der beiden Ermittler - vor dem dafür viel zu kleinen Büros von Ms. Pretorius und Mr. Bankst versammelt hatten, dauerte es einige Zeit, zumal die meisten sich hier eher selten während der Besuchszeiten - oder wenn gerade eine Führung war – zeigten, da sie keine Besucher in ihrem »Erlebnis« stören wollten. Einige mussten zudem von auswärts herbeordert werden.
Ashley musterte die versammelte Mannschaft ebenso kritisch wie die beiden Detectives.
Keiner von ihnen wirkte in irgendeiner Weise nervös oder dergleichen. Da waren zum einen die ganzen Landschaftspfleger – oder auch Gärtner - von denen sie nur zwei kannte. Zum einem Tosi, der Hauptverantwortliche und zum anderen die Auszubildende Nina. Während Tosi total freundlich war und mit jedem gern redete, schwieg Nina meist, blickte höchstens ab und zu genervt und war sonst immer sehr beschäftigt. Insbesondere den Beiden traute Ashley nicht zu, auch nur irgendetwas mit diesen abscheulichen Botschaften zu tun zu haben. Genauso wenig traute sie es den beiden Herren Salsition und Inaba zu, die hier die verschiedenen Pflanzenarten erforschten oder Samen einkauften.
Am ehesten passte etwas Derartiges noch zu Ms. Pretorius rechter Hand und Stellvertreter Mr. Bankst. Er war einfach so … undurchsichtig und immer so ernst. Aber er war wiederum so sehr am Erfolg des botanischen Gartens interessiert wie auch Ms. Pretorius, dass er ganz sicher nicht auch nur einen Schließtag mehr haben wollte.
»Habe ich das richtig mitbekommen? Jetzt müssen wir den Garten also komplett schließen?«, fragte Mr. Bankst auch prompt die Polizisten.
»Leider ja. Sie sehen ja, wozu es geführt hat, dass wir dieses Gewächshaus offen gelassen haben. Ich schlage vor, wir beide gehen als erstes in ihr Büro. Ich würde sowieso einmal gerne auch mit Ihnen über die Vorfälle hier sprechen. Lin, fang du doch solange mit der Befragung der anderen Mitarbeiter an, ja?«
Detective Lin nickte nur, wandte sich dann an Ashley.
»Und du hast uns wirklich alles gesagt, was du weißt, ja?«, fragte sie.
Ashley stöhnte auf.
»Schon gut. Wir haben dich ja schon genug behelligt. Am besten du gehst nach Hause und ruhst dich aus. Und auch in deinem Interesse würde ich dir empfehlen, die nächsten paar Tage nicht in die Nähe des Gartens zu kommen, ja?«
Ashley wollte daraufhin erst etwas empört erwidern, nickte aber dann nur und ging mit gesenktem Kopf von dannen. Nur am Rande bekam sie die Blicke der anderen Mitarbeiter mit und wie diese nun nach und nach zur Befragung in das kleine Büro gehen mussten.
Ashley ging mit keinem guten Gefühl zurück zum College. Kaum im Wohnheim angekommen, wurde sie, wie sie es befürchtet hatte, erneut belagert. Ihre Mitbewohnerin Esther schaute sofort von ihrem Laptop auf.
»Oh Ashley. Das alles ist ja so was von … unschön. Ich hab es schon gesehen und alle anderen auch. Venity hat sofort alles, was sie darüber finden konnte, in ihren Blog gepostet. Grausig einfach. Und dann steht da auch noch dein Name.«
»Na toll«, sagte Ashley, stöhnte genervt auf und ließ sich auf ihr Bett fallen.
Wie kommt Venity nur derart schnell an solche Informationen?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Ob sie womöglich auch irgendetwas damit zu tun hatte? Hm. Passen würde es zu ihr irgendwie ja schon, denn sie tut wirklich alles für eine gute Story … aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemanden einfach … töten würde.
Schon als der nächste Tag begann, wusste sie sofort, dass es erneut kein ruhiger werden würde. Nein, am College war es nahezu unerträglich. Noch mehr Getuschel, noch mehr neugierige Blicke.
In einer kleinen Gruppe aus Studenten, die sie am liebsten allesamt belagert hätten, erkannte Ashley sofort den blonden Lockenkopf von Dillan herausragen, der sich an den anderen vorbei drängte und auf sie zusteuerte.
»Keine Sorge. Das legt sich irgendwann wieder«, begrüßte Dillan sie, legte einen Arm um sie und schirmte sie von den anderen ab.
»Wenn du meinst«, murmelte Ashley. Sie empfand Dillans Nähe wie so oft als etwas unangenehm. Den Blicken der anderen weiblichen Studenten am College zu urteilen, war er das was man wohl als »gutaussehend« bezeichnen würde. Ashley fand ihn auch irgendwie nett, aber irgendetwas in ihr wehrte sich, wollte sich nicht auf irgendjemanden einlassen. Zumal Dillan, fand sie, auch ganz schön nerven konnte.
»Bist du in der letzten Zeit überhaupt dazu gekommen, ein paar gute Fotos zu schießen?«, fragte er schließlich, merkte anscheinend ihr Unbehagen und löste sich von ihr, kaum da sie sich von dem kleinen Studenten-Grüppchen entfernt hatten.
Ashley seufzte. »Was denkst du denn? Lass mich raten: Du hast wieder ein neues Bild gemalt und würdest es mir gerne zeigen?«
Dillan grinste, ignorierte ihren schnippischen Ton. »Stimmt. Aber das läuft nicht davon.«
»In Gegensatz zu mir«,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2022
ISBN: 978-3-7554-2782-7
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