Nacht nimmt Licht, findet Funken,
Kraft kommt nicht, findet Wunden,
Stunden um Stunden.
Schwarze Schnecke sucht Sinn,
scheint so schlimm, findet Wut,
Runden um Runden.
Glühbirne flackert, Tag sucht,
tut sich aufbäumen, findet Kraft,
erkunden, erkunden.
Eins geht aus, eins bleibt an,
Kraft verschwindet nicht, findet Wirt,
nichts erloschen, nur gefunden.
Das nagende Unbehagen, das Anisha nach wie vor in sich verspürte, verdrängte sie. Tanita ist besiegt, alles ist ruhig, Deacon ist fort und alleine. Alleine hat er keine Chance gegen uns, dachte sie. Also hör endlich auf, dir die ganze Zeit Sorgen zu machen!
Sie stand vor dem Haus, das man Rachel, Phil und ihr einst hier in der magischen Stadt Angovonn zugeteilt hatte und tat etwas, das sie schon lange nicht mehr getan hatte: Sie blickte nachdenklich in die Ferne. Erst als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um und sah sich suchend um.
»Hier bin ich du Tölpel!«, rief eine amüsiert klingende Frauenstimme. Anisha drehte sich in die Richtung der Stimme. Es war Daya, ihre Mentorin.
»Ich hatte gedacht, ich hätte dir inzwischen besser beigebracht, immer achtsam zu sein. Egal. Die gröbste Bedrohung scheint ja vorerst sowieso gebannt zu sein. Jetzt wird es endlich Zeit, mal mein Versprechen einzulösen«, sagte Daya und packte Anisha am Arm.
»Schon gut. Ich gehe ja mit. Was für ein Versprechen meinst du denn?«, fragte Anisha und entwand sich Dayas Griff wieder.
»Ich zeige dir das Sternhaus, du Dussel. Endlich haben wir mal Zeit dafür.«
Der Weg zum Sternhaus war länger, als Anisha gedacht hatte, zumal sie zu Fuß und nicht etwa in einem dieser seltsamen Fahrzeuge unterwegs waren. Jenseits der Hauptstraße gingen sie durch eine enge langgezogene Gasse nach der anderen. In diese Gegend war Anisha bisher kaum gekommen, auch nicht bei den Angriffen in Angovonn oder als sie die Schäden mit den anderen Ambitern repariert hatte. Die Häuser hier wirkten älter und schienen - wie die meisten Häuser der Stadt - verlassen zu sein. Hier funkte die Straße auch kaum, was das ganze noch trostloser machte.
Umso mehr verwunderte es sie, dass ihnen ausgerechnet hier jemand entgegenkam, wo sie sonst doch in der Stadt fast nie jemanden auf den Straßen sah. Die zwei muskulösen jungen Männer mussten Ambiter sein, denn Selbers gab es noch weniger und Entrainer hätten sie längst angegriffen. Außerdem sprach einfach auch die Optik der Männer dafür. Selbers waren nämlich meist erschreckend dünn und blass, was auf die beiden Ambiter ganz und gar nicht zutraf.
»Sieh an. Die Resterampe ist auch mal unterwegs«, sagte Daya und grinste die zwei grimmig aussehenden Ambiter an.
Anisha sog die Luft ein. Sie war ja einiges von Daya gewohnt, aber das erschreckte sie dann doch.
Die Ambiter hingegen ignorierten Daya einfach und gingen weiter ihrer Wege.
Daya führte Anisha weiter in eine engere Gasse, in der sich auch einer dieser seltsamen Naturalien-Läden befand, an dem sie schnell vorbei gingen. Er schien geschlossen zu haben, wie auch die meisten Läden an denen sie vorbeikamen.
»Tja. Angovonn wird Jahr zu Jahr mehr zu einer Geisterstadt«, kommentierte Daya das Ganze.
Anisha blickte betreten auf das leicht schimmernde Pflaster der Gasse. »Hm. Aber seit ich hier bin, ist so viel passiert, sind so viele hier gestorben. Die meisten habe ich nicht mal gekannt.«
»Ist nicht deine Schuld, Anisha. Schon vor deiner Ankunft hier, wurden wir immer weniger. Wir sterben früh, bekommen kaum Kinder und auch die Kundschafter finden immer weniger noch verborgen lebende in der fluchlosen Welt, um sie nach Angovonn zu bringen. Wir sind verflucht, falls du das vergessen haben solltest. Wenn es so weitergeht, wird es diese Stadt irgendwann, in nicht allzuferner Zukunft, nicht mehr geben. Aber genug davon. Wir sind hier, um endlich mal auf andere Gedanken zu kommen. Um endlich einmal zu genießen und zu feiern, was wir alles überstanden haben und dass endlich mal etwas Ruhe hier eingekehrt ist.«
Das Freizeithaus – oder auch Sternhaus - war nicht zu übersehen. Es war tatsächlich sternförmig. Sie hatte ja Phil, der bereits ohne Erlaubnis einst dort war, es nicht glauben wollen. Aber das Haus zierte auch noch ein pompöses Schild mit dem Titel »Zum Stern« und »Bar - Casino – Disco«.
»Ernsthaft? Hier finden auch Partys und so statt?«, fragte Anisha verunsichert.
Daya lachte. »Das ist schon lange her. Man kann froh sein, wenn man jemanden findet um ein bisschen zu zocken. Ich meine: Was denkst du, wie viele Leute in dieser verfluchten Stadt noch leben? Du hast es ja gesehen. Ich schätze es sind höchstens noch so fünfzig. Von denen sind zehn oder so unter 18 und haben hier keinen Zutritt. Und von den anderen kommt hier wohl auch keiner mehr her, um Party zu machen, sondern höchstens um sich zu besaufen.«
Daya führte sie durch das Sternhaus, das von innen noch verwirrender war als von außen. Sie gingen an zahlreichen Automaten, die nicht mehr liefen, vorbei, auch an den Pool- und Billardtischen.
»Wenn du willst können wir auch ein bisschen was spielen. Und keine Sorge: Um Geld spielt hier niemand. Das würde auch kaum einen Sinn machen, da der einzige Aller ja sowieso jedem Geld gibt, der es benötigt. Wenn man das dann verzockt und er es mitbekommen würde … Nun, sagen wir, dass wir das am besten lassen sollten.«
Anisha folgte weiter stumm Daya, ließ sich von ihr schließlich zu einer langen, schmalen Bar führen. Sie sah ziemlich staubig und verlassen aus. Daya schmiss sich dennoch lässig auf einen der Hocker. Anisha setzte sich zögerlich daneben. Ein Matt mit Bart Mitte 40 kam angerannt, kaum da sie sich niedergelassen hatten.
»Sieh an? Das ich das noch einmal erlebe! Es hat sich doch tatsächlich mal wieder jemand hier hinein gewagt. Was verschafft mir die Ehre? Kann ich euch etwas zum Trinken bringen?«
Ehe Anisha etwas sagen konnte, bestellte Daya schon für sie grinsend einen »leckeren Drink, der die Zunge dieser Dame löst und sie mitteilsamer macht.« Und für sich selbst etwas »was die Stimmung hebt und die Wahrheit förmlich herausfließen lässt.«
Anisha dachte schon, Daya wolle den Barkeeper nur veralbern, doch dieser nickte unberührt und stellte schon nach wenigen Sekunden zwei exotisch aussehende, seltsam schimmernde Cocktailgläser vor ihnen auf die Bar und verschwand wieder irgendwo hinter der Theke.
Anisha starrte das Gebräu vor ihr an. Die beiden Drinks sahen recht ähnlich aus, doch Dayas Drink hatte einen goldenen Bodensatz.
»Der Barkeeper mixt sehr spezielle Drinks«, sagte Daya. »Man munkelt, dass er sogar diese Naturalien aus den Läden hier in Angovonn dafür benützt.«
Anisha wollte schon das Glas wegstellen, dachte an die … Dinge, die sie in diesen seltsamen »Naturalienläden« in der Stadt gesehen hatte. Ihr war ganz flau im Magen geworden. Daya lachte nur und leerte ihren Drink in einem Rutsch.
»Siehst du. Ist gar nicht schlimm. Komm schon! Deswegen sind wir doch hier. Ich will nicht nur ein bisschen Spaß haben, ich will mich mal wirklich intensiv mit dir unterhalten, Anisha. Weißt du: manche sagen, der Barkeeper sei ein Entrainer, andere glauben, dass es an den Naturalien liegt, die er manchmal für seine speziellen Drinks nützt. Fest steht, dass er wirklich allen – leider auch Entrainern – diese speziellen Drinks mixt und diese auch immer die versprochene Wirkung entfalte. Daher werde ich dir in nächster Zeit wohl die Wahrheit sagen und etwas … besser gelaunt sein. Und du … Nun du probierst es am besten aus.«
Daya klang jetzt schon deutlich angeheitert und redete auch schneller als zuvor.
In Anisha meldete sich jedoch wieder eine Stimme, die sie seit der Entdeckung ihrer Fähigkeiten schon häufiger gehört hatte. Meistens half sie ihr und gab ihr Ratschläge, aber irgendwie machte es ihr auch Angst sie zu hören – eine Stimme zu hören … war irgendwie schon verrückt, aber in dieser verfluchten Welt wohl nicht verrückter als alles andere.
»Tue es einfach! Trink! Komm schon!«, wisperte die hohe Stimme, die dieses Mal nicht hilfreich sondern eher belustigt klang.. »Daya hat es auch getan. Sie wird dich schon nicht vergiften.«
Seufzend gab Anisha nach und nippte ganz vorsichtig an dem Gebräu und lächelte. Entgegen ihrer Annahme schmeckte es hervorragend. Fruchtig, süß, sauer und scharf. Alles zusammen.
»Weißt du: Es gibt hier nicht sehr viele Wege, die man als Ambiter beruflich einschlagen kann. Und mir wäre es am liebsten, wenn du eines Tages in meine Fußstapfen treten würdest«, hörte sie Daya vor sich hinmurmeln, während Anisha starr auf den Drink vor ihr starrte. Anisha hatte genau gehört und begriffen, was Daya da gesagt hatte, ehe sie erneut das Glas hob. Eine nicht brennende, sondern angenehme Wärme stieg Anisha in den Kopf und auch in ihren restlichen Körper, als sie gierig den Rest des Drinks trank. Nun war das Ganze nicht mehr so angenehm, das Brennen wurde stärker und ihr Kopf fühlte sich seltsam an. Hilflos hielt sie sich an der Tischkante fest und blickte Daya wütend an.
Daya lächelte und klopfte ihr fast schon anerkennend auf die Schulter.
»Keine Sorge. In ein paar Stunden geht es dir wieder gut. Du bist es nur nicht gewöhnt und das ist besser so, glaub mir. Ich weiß doch, dass du mir etwas verschweigst. Also, schieß los: Was hast du mir zu sagen?«
Anisha wollte ihr schon etwas wütend entgegnen, doch stattdessen fragte sie:
»Was für Wege kann man denn als Ambiter eigentlich einschlagen? Das hier ist jetzt ja wohl für immer mein Leben, oder? Und du willst das ich in deine Fußstapfen trete? Ausgerechnet ich? Was meinst du damit eigentlich genau?« Sie schaffte es dann jedoch noch hinterher zu schieben: »Was soll das alles hier? Warum... bringst du mich dazu so etwas zu … trinken? Warum bin ich denn überhaupt nur mit dir mitgegangen? Ich dachte wohl, du wolltest mir nur das Sternhaus zeigen und ein bisschen Spaß haben.«
Daya packte sie am Arm blickte ihr tief in die Augen und brachte mühsam ein: »Der Drink entfaltet also seine Wirkung. Tut mir leid«, hervor. Daya schüttelte kurz ihren Kopf und fuhr dann mit wieder vergnügter Stimme fort. »Nun: Was den beruflichen Werdegang von Ambitern anbelangt, so kann man hier einerseits Kämpfer und Mentor werden, wie ich und Leeroy und noch andere. Man kann sich auch zur Wache für die Haupttore oder fürs Rehabilitationscenter ausbilden lassen – da fehlen uns nämlich immer wieder Leute, zumal die Schutzschilde um die Stadt irgendwie immer wieder von den Entrainern durchbrochen werden. Am Ungefährlichsten ist es wohl, wenn man Verkäufer in einem der Läden hier wird, sofern man nicht gerade dem Barkeeper hier seinen Job streitig machen will. Man kann sich natürlich auch zu einem »Reisenden« berufen lassen und den Kundschaftern bei der Beschaffung und dem Einkauf von Kleidung und Nahrung aus der fluchlosen Welt helfen. Wenn man wiederum Selbers ist, kann man sich auch noch als Heilerin ausbilden lassen – wie deine Freundin Rachel. Nur Eira ist da die Ausnahme.«
Daya holte tief Luft und lachte kurz auf. »Mann diese Drinks bringen es echt voll! Ich werde dem Barkeeper wohl ein gutes Trinkgeld zahlen müssen«, murmelte sie, ehe sie mit ihrem Redeschwall fortfuhr:
»Was deine anderen Fragen anbelangt: Ich habe dich wirklich hier her gebracht, um Spaß zu haben. Wir werden nachher noch eine Runde Billard spielen oder so, wenn du willst. Ich habe dich das trinken lassen, weil ich – wie ich schon sagte – spüre, dass du mir etwas verschweigst. Etwas Wichtiges. Du verschweigst immer gerne allen was, oder? Doch ich muss es einfach wissen, Anisha. Wie stehe ich als deine Mentorin denn da, wenn nachher - was auch immer - rauskommt und ich nichts davon wusste? Warum du überhaupt mitgegangen bist und warum du diesen Drink genommen hast, weißt du selbst am besten, glaube ich. Aber ich vermute, du weißt innerlich selbst, dass es dir gut tut, einfach mal loszulassen und offen zu reden. Nicht nur so häppchenweise mit deiner Freundin Rachel oder dieser verrückten Kundschafterin Mimi.«
Anishas Schädel brummte inzwischen gewaltig, doch sie fühlte sich auch seltsam leicht. Wie von selbst kamen die Worte über ihren Mund: »Hm. Ich weiß nicht, wie viel du weißt. Aber du hast Recht: Es gibt da etwas, das ich womöglich allen hätte erzählen sollen. Ich war nicht ganz ehrlich, was den Tod von Tanita anbelangt. Das Ganze verhielt sich anders, als ich und Rachel es euch erzählt haben.«
Mit Schaudern erinnerte sich Anisha zurück an den Augenblick, an dem sie und Rachel in der vernebelten Straße der Entrainerin Tanita gegenüber gestanden hatten. Sie hatte erzählt, Rachel hätte ihr Kraft abgegeben und sie alleine hätte Tanita getötet. Rachel war mit dieser Version einverstanden gewesen, es war sogar Rachels Idee gewesen, das Ganze so darzustellen.
Nun fühlte sich Anisha jedoch gezwungen, Daya zu erzählen, wie sich das Ganze wirklich abgespielt hatte:
»Wir haben Tanita getötet, indem wir irgendwie unsere Kräfte … vereint haben. So habe ich Rachels Blitz genau auf Tanita teleportiert, als diese gerade ihren Zaubertrank auf uns werfen wollte.«
Daya zog entsetzt die Luft ein. »Eine derartige Verbindung von Kräften hat es seit der Trennung in die Fraktionen, vor Gründung der Stadt, hier höchstens in Form des einzigen Allers gegeben«, sagte sie.
»Mh. Kann sein. Und dann ist da noch die hohe Stimme, die ich so oft höre und meine besonderen Fähigkeiten. An mir ist wohl gar nichts normal«, fühlte sich Anisha genötigt zu sagen.
»Was ist schon normal«, brummte Daya und war auf einmal für eine Weile seltsam still. Anisha schaffte es erfolgreich, gegen die Mattigkeit anzukommen und würgte ein: »Wolltest du nicht … mit mir etwas Billard spielen oder so?«, hervor.
Daya lachte.
Sie spielten nur kurz. Anisha fühlte sich durch den Drink sehr unsicher auf den Beinen und schaffte es kaum mit dem schweren Billardqueue, der hier nicht aus Holz, sondern aus massiven Metall war, eine der Kugeln richtig zu treffen. Daya hingegen war wieder vergnügt und traf auch angetrunken einfach alles, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
»Tut mir Leid, habe ich vergessen zu erwähnen, wie gut ich darin bin«, sagte sie nur lachend, schaute dann Anisha grinsend an und meinte: »Hm. Wir gehen jetzt wohl besser mal.«
Sie klatschte dem Barkeeper ein paar Geldscheine auf den Tresen und schob Anisha dann Richtung Ausgang.
Kaum da sie das Sternhaus verlassen hatte, spürte Anisha einen angenehm kühlen Windhauch. Sie atmete tief die kühle Luft ein und merkte erleichtert, dass das seltsame Gefühl in ihrem Kopf etwas nachließ.
Doch auch hier in der Straße vor dem Sternhaus hatte sich etwas verändert. Es war seltsam dunkel. Dunkler als sonst in Angovonn.
»Das bildest du dir nur ein«, sagte sie sich, wie sie es sich auch vor ein paar Tagen schon einmal gesagt hatte, kurz nachdem sie Tanita besiegt hatten. »Nein, tust du nicht«, rief nun jedoch die hohe Stimme.
Daya, die sie etwas abstützte, zog an ihrem Ärmel, drehte sie um und deutete auf das Sternhaus.
»Der Stern. Er ist … erloschen«, stammelte sie.
Und tatsächlich sah man keinerlei blinkendes oder sonstiges Licht am Sternhaus. Nur Dunkelheit.
Quelle lässt fließen – Wasser vertrocknet,
Licht geht an – flackert – erlischt,
Pflanze wächst, blüht, welkt,
Blatt grünt – bekommt Farbe – fällt,
Mensch lacht, weint, stirbt.
Sonne geht auf, steigt, geht unter.
Alles: Ein Anfang und ein Ende,
bis sich Kreise drehen.
»Ich nehme an, der Barkeeper will nicht einfach schlafen gehen, oder?«, fragte Anisha leise, blickte im leichten Funken und matten Schein schwebender Straßenlichter in Dayas grimmiges Gesicht.
»Ähm ... nein« Daya schnaubte geräuschvoll auf. »Wir sollten morgen Damian davon unterrichten, falls er nicht schon Bescheid weiß. Noch besser wäre es, wenn wir mit dem einzigen Aller sprechen könnten. Ich kann mich nämlich nicht daran erinnern, dass auf den Straßen von Angovonn jemals abends irgendwo ein Licht erloschen ist.«
»Wenn du meinst«, murmelte Anisha nur, dachte mit Ehrfurcht daran, den Ambiter Chef Damian Nels in seinem so prunkvollen »Büro« im Rathaus zu besuchen, nur um ihn mit etwas zu belangen, dass er wahrscheinlich sowieso längst von einem der Kundschafter mitgeteilt bekommen hatte.
Daya begleitete Anisha auch den Rest des Weges bis zu Hitoetra Lane 9, den Ort, der seit einiger Zeit ihr Zuhause geworden war.
»Tut mir Leid, dass der Abend so verlaufen ist, wie er verlaufen ist. Ich hoffe aber dennoch, dass du etwas Spaß hattest. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, dass ich dir … diesen Drink serviert habe, um dir dein kleines Geheimnis zu entlocken. Ich fände es im Übrigen besser, wenn das alles zwischen uns beiden bleiben würde, aber das ist deine Sache. Gute Nacht, Anisha«, sagte Daya, die längst nicht mehr so heiter, sondern viel ernster klang.
Offenbar hatte die Wirkung ihres Drinks schnell nachgelassen, dachte Anisha, während Daya für sie auch noch die Haustüre per Steinmechanismus öffnete und sie ins Haus schob.
Im Haus brannte kein Licht. Offenbar war es so spät geworden, dass Rachel und Phil schon schliefen. Vielleicht sind sie ja gar nicht hier. Das weiß man in dieser Stadt nie, dachte sie, während sie – immer noch leicht taumelnd – durchs Haus stolperte, endlich ihr Bett fand und sich dort niederließ.
Phil zitterte sogar schon vor Nervosität. Gleich würde ihn sein Mentor Curtis abholen und mit ihm offiziell das Training seiner Selbers-Fähigkeiten starten. Er hoffte innigst, dass dann endlich dieses Gefühl, fehl am Platz zu sein, ein Ende hatte.
So lange hatte er als »Fluchloser« gegolten, als jemand ohne Kräfte, der nur aus Versehen in diese Stadt gelangt war und dort eigentlich nicht hingehört hatte. Jemand, der ein »Sicherheitsrisiko« darstellte. Doch das hatte sich alles geändert, als man entdeckt hatte, dass er doch nicht nur fluchlos war. Als er dann schließlich das erste Mal seine Selbers-Kräfte aktiv einsetzen konnte, um Anisha wieder etwas Kraft zu geben, hatte ihn das zwar selbst sehr erschöpft, aber es war für ihn auch endlich das Zeichen gewesen, dass er wirklich hier nach Angovonn gehörte und dass die anderen ihn fortan nicht einfach mehr wie ein Störenfried behandeln konnten.
Von Anisha und Rachel, die mit ihm hier wohnten und leider immer viel zu wenig beachteten, war mal wieder nichts zu sehen. Rachel hatte ohne ein Wort noch vor ihm selbst in aller Frühe das Haus verlassen. Anisha war am gestrigen Abend wohl noch lange mit ihrer Mentorin Daya unterwegs gewesen. Ob und wann sie heimgekommen war, wusste er nicht. Er traute sich auch nicht nachzusehen.
Endlich tat sich was an der Haustüre. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss um. Noch ein Zeichen, dass es sich um Curtis handeln musste. Woher auch immer er diesen Schlüssel hatte. Nur die Selbers benötigten jedenfalls Schlüssel, um in die Wohnhäuser zu gelangen. Phil selbst hatte nie einen Schlüssel für dieses Haus bekommen, auch jetzt nicht, da er als Halb-Selbers galt.
Curtis zuckte zusammen. »Du hast also auf mich gewartet«, stellte er fest, beäugte Phil kritisch und klimperte dann mit dem Schlüssel. »Den hat man mir übrigens für dich mitgegeben. Dennoch solltest du auch künftig nicht ohne mich in Angovonn umher laufen, nur weil Leeroy sich jetzt anderweitig beschäftigt.«
Phil schnappte sich schnell den Schlüssel aus der drahtigen Hand des dürren, komischen Typs Curtis, der fortan also sein Mentor und auch sein Bewacher sein sollte. Bisher hatte Leeroy immer »aufgepasst, dass er keinen Mist baute«, doch dieser war – wie Phil in der letzten Versammlung erfahren hatte – wohl endlich für jemand andern zuständig.
»Ja, ich hab auf dich gewartet. Aber warum zum Teufel brauch ich denn immer noch einen Babysitter? Ich dachte, das wäre endlich vorbei. Meine Güte, ich bin doch jetzt nicht mehr fluchlos und ein Kind auch nicht. Zudem kann mich so ein Hänfling wie du doch sowieso nicht beschützen!«
Curtis glotze ihn mit großen Augen an. »Du kennst doch das Mentorenprogramm. Ich halte mich nur an die Anweisungen. Das solltest du auch tun. Du weißt doch, was hier alles passieren kann, wenn man alleine unterwegs ist. Wer weiß, ob die Gefahr wirklich gebannt ist. Ich glaube es jedenfalls nicht. Etwas passiert hier wieder. Ich spüre es. Also bleib gefälligst bei mir, ja!?«, blaffte er halb gelangweilt, halb genervt.
Phil seufzte, gab aber nach und trottete an der Seite von Curtis zu einem der seltsamen Fahrzeuge, das sich ihnen scheinbar zufällig näherte und schließlich direkt neben ihnen hielt. Er hatte bis heute nicht herausfinden können, ob irgendwer eigentlich am Steuer saß oder ob diese einfach von selbst fuhren. Innen gab es jedenfalls eine Abtrennung zwischen Sitzen und vorderem Bereich des Fahrzeugs. Schnell hob er die Arme hoch, als er sich auf einen der Sitze niederließ, sodass ihn der selbstschließende Gurt nicht fesselte.
Leider waren die Fenster recht blickdicht, sodass er wieder einmal nicht recht erkennen konnte, wohin sie fuhren. Daher war er umso überraschter, als sie ausstiegen und nicht etwa vor dem Trainingscenter standen, sondern vor dem Rehabilitationscenter.
»Was soll das? Warum bringst du mich hier her? Soll ich etwa auf die Krankenstation und dort jemanden heilen oder Kraft geben oder so?«, fragte er Curtis misstrauisch, als dieser ihn auch noch auf das Wachhäuschen vor dem Rehabilitationscenter zuführte.
»Ich würde gerne, bevor wir mit dem Training anfangen, etwas ausprobieren. Du hast dich doch bestimmt schon immer gefragt, wie wir Selbers eigentlich ohne einen Ambiter, der die Sicherheitstüren – oder eher Sicherheitswände – hier öffnet, zur Krankenstation gelangen. Nun lass mich kurz mit dem Wachmann reden, dann zeige ich dir, was ich meine. Warte hier kurz«, sagte Curtis, klang dabei wie so oft so eklig hochnäsig.
Phil blieb wie befohlen stehen und schaute Curtis hinterher.
Was meint der schon wieder? Was soll das?, dachte er, musste aber zugegeben, dass er sich tatsächlich schon einmal gefragt hatte, wie etwa Rachel einfach so in dieses Rehabilitationscenter kommen und gehen konnte, wie es ihr gerade passt.
Curtis hastete mit großen, staksigen Schritten wieder auf ihn zu. »Gut. Es ist alles geklärt. Nun gehe doch einfach mal genau auf die dicke Wand vor dem Rehabilitationscenter zu und drücke sanft mit deinem ganzen Körper dagegen.«
Phil runzelte die Stirn. »Was? Ernsthaft jetzt«
»Ja, verdammt!«, brummte Curtis genervt.
Also ging Phil auf die dicke Wand zu, die wohl den Haupteingang zum Rehabilitationscenter darstellen sollte – beziehungsweise zur Schleuse dazu. Wie Curtis gesagt hatte, lehnte er sich also gegen die Wand und kam sich dabei wirklich dämlich vor.
Wahrscheinlich will er sich nur über mich lustig machen, dachte Phil, doch da kribbelte sein Körper auf einmal seltsam, als würde eine Art Strom durch ihn fließen. Er zuckte zurück, doch anscheinend hatte er lange genug gegen die Wand gelehnt: Erstaunt sah er mit an, wie sich erst die äußere, dann die innere Wand öffnete und sich vor ihm die Schleuse zeigte. »Block A und Block B« sah er förmlich vor seinen Augen leuchten. Er wusste, dass er sich von Block B lieber fernhalten sollte, denn auch da war er schon einmal gewesen. Dort befand sich der Gefängnistrakt.
Wieder lehnte er sich gegen die Wand – diesmal gegen jene, die zum Block A führte und tatsächlich öffnete sich auch diese für ihn wie von Zauberhand.
»Aber …«, stammelte er nur erstaunt, da trat auch schon Curtis zu ihm.
»Nun. Die Wände, die zur Krankenstation führen, sind für uns Selbers extra vom einzigen Aller eins mit einem Zauber versehen worden. Sie erkennen es irgendwie, wenn jemand Selbers ist und öffnen sich dann für ihn. Wie genau das funktioniert, weiß ich auch nicht, das musst du den einzigen Aller fragen«, murmelte Curtis.
»Das heißt, ich hätte womöglich schon immer alles hier öffnen können?«, stieß Phil aus, konnte es immer noch nicht fassen.
»Nicht alles, nur die Wände, die zur Krankenstation führen. Nicht die Wände des Gefängnistrakts, nicht die Türen der Häuser in Angovonn und vermutlich auch nicht die Tür zum Rathaus – wobei der Selbers-Chef dort ja auch zugegen ist, also wer weiß. Ich habe es noch nicht ausprobiert, aber wahrscheinlich hat der Selbers-Chef dafür einen Extra Schlüssel oder so. Jedenfalls glaube ich nicht, dass die Selbers-Kräfte in dir schon lange so ausgeprägt sind, dass auch dies hier funktioniert hätte. Ich hatte es gehofft, für dich und für mich, weil es einiges einfacher machen wird, aber nicht gedacht. Gut, dass es nun der Fall scheint. So können wir jetzt beide gut zur Krankenstation gelangen, ohne großen Aufwand und ich denke, dass wir nun auch genau das tun sollten«, sagte Curtis und ging durch die offene Wand. Phil folgte ihm verdattert.
Auf der Station kam ihnen sofort Eira entgegen. Phil meinte auch Rachel in der Ferne zu sehen, die scheinbar ganz mit der Versorgung eines kränklich wirkenden Ambiters zu tun hatte.
»Hallo ihr beiden. Ich nehme an, du hast Phil hier her gebracht, um ihm das Heilen zu zeigen, Curtis?«, begrüßte sie Eira sogleich.
»Ganz recht, Eira. In der Tat, das habe ich«, säuselte Curtis.
Phil verdrehte die Augen. Und die halten mich für nervig, dachte er.
»Im Moment ist hier nicht viel los. Rachel kümmert sich ganz hervorragend um unseren kritischeren Patienten, aber wir hätten da noch jemanden mit einer infizierten Wunde, um den könntet ihr beide euch ja kümmern«, sagte Eira, deutete auf einen der vielen Monitore, auf dem Phil auch auf die Ferne sehen konnte, dass auf einem Bett jemand, scheinbar schon ungeduldig wartend, lag.
Mit einem mulmigen Gefühl folgte er Eira und Curtis zu dem Patienten.
Die Patientin war eine etwas dicklichere Frau. Sie sah eigentlich aus wie ein Fluchloser, war wahrscheinlich aber ein Ambiter. Auf keinen Fall war sie ein Selbers – das passte schon von ihrer mächtigen Statur her nicht.
»Na wird auch mal Zeit«, brummte die Ambiterin, als Curtis und Phil auf das Bett zugingen, in dem die dicke Frau aufrecht saß. Sie schwitze und starrte sie grimmig an.
»Wir helfen doch immer gerne und nehmen uns eben auch die Zeit«, sagte Curtis ungerührt freundlich und lächelnd. »Immer gute Miene, immer freundlich«, flüsterte Curtis dann Phil zu.
Phil blickte zu der älteren Frau, die aber keinerlei Miene verzog. Er hatte die Frau noch nie gesehen, auch war sie Phil auf keiner Versammlung aufgefallen, denn diese war sicherlich eine der dicksten Ambiterinnen, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte.
»Wo haben Sie sich denn diese hässliche Wunde zugezogen?«, fragte Curtis.
»Ich hab den Fehler begangen und mich aus der Stadt heraus gewagt. Mehr sage ich dazu nicht. Und jetzt machen Sie endlich mal hinne!«, keifte die Frau.
Phil sah genau, wie Curtis sich zusammenreißen musste, um nicht seinerseits ausfallend zu werden. »Deswegen hat uns Eira die hier wohl überlassen«, flüsterte er Phil zu, ehe er sich wieder lauter der Frau zuwandte.
»Strecken Sie bitte vorsichtig ihr Bein aus und halten Sie es so ruhig wie möglich, dann können wir das Ganze von mir aus schnell hinter uns bringen. Wenn es wirklich schnell gehen soll, wird es für Sie aber unangenehmer.«
»Ist mir egal«, brummte die Frau.
»Das sagen sie alle«, murmelte Curtis und wandte sich dann wieder an Phil. »Sieh genau hin. Als erstes legst du deine Hand auf die betroffene Stelle. So sanft wie möglich, das ist schließlich eine Wunde. Du musst dann lernen zu fühlen – fühlen wie die Energie durch dich strömt und wie die Energie durch den Körper deines Patienten strömt. Finde Störungen jeglicher Art und versuche sie so sachte wie möglich zu beheben.«
»Ich hab schon mal geheilt oder so was Ähnliches«, murmelte Phil leise, dachte daran wie er Anisha einst geholfen hatte. Wenn auch unbewusst, dachte er. Weder Curtis noch die Frau beachteten seine Bemerkung.
»Schlimm genug, dass ich so lange warten musste, jetzt diene ich auch noch diesem Freak als Lehrobjekt, oder was?«, keifte die Frau, die aber schließlich ihr Bein ausstreckte und ihre mehr als hässliche Wunde präsentierte.
Curtis erzitterte förmlich, als er unbeirrt die Hand auf die Wunde der Frau legte, die schon ihr Bein zurückziehen wollte, doch dann sah Phil, wie sich die Wunde langsam zu schließen begann. Lediglich etwas gelblicher Eiter lief an dem überraschend haarigen Bein der Frau hinab. Phil verzog angewidert das Gesicht, sah dann jedoch besorgt wie Curtis schwankte. Auch wenn er wusste, dass das eben der Effekt des destruktiven Heilens war, würde er sich daran wohl nie gewöhnen.
»Überprüfe nun meine Arbeit. Leg deine Hand auf das Bein der Frau und fühle«, befahl Curtis.
»Ich habe auch einen Namen!«, entfuhr es der Frau.
»Aber sicher doch … Mrs. Pachis«, murmelte Curtis.
Mit zittrigen Fingern tastete Phil ganz vorsichtig nach dem Bein der Frau, schloss die Augen, spürte dann schließlich in sich selbst etwas kribbeln. Schwach, langsam und träge. Es schien mit etwas anderem in ihm zu kämpfen. Nur mühsam schaffte er es, sich auf die Frau zu konzentrieren, spürte deren Energiestrom, der viel reibungsloser lief als sein eigener. Irgendeine Art von Stocken konnte er jedenfalls nicht feststellen, nur eine Stelle, an der sich die Energie etwas sammelte.
»Hm. Ihre … Energie fließt viel besser als meine. Allerdings sammelt sie sich an einer Stelle etwas.«
Curtis blickte ihn erstaunt an. Er wirkte immer noch etwas schwach und hielt sich am Bettgestell des Patientenbettes fest. »Ausgezeichnet. Die Sammelstelle ist die Wunde, die noch am Heilen ist. Das dein Strom nicht so gut fließt, liegt sicher an deinem Halb-Status«, brachte er mit brüchiger Stimme hervor.
»Wie bitte? Halb-Status? Seine Energie fließt langsamer als meine?«, sagte die Frau verwirrt.
»Vergessen Sie es! Ihre Wunde wird wieder. Mir wäre es lieber, sie würden sich hier etwas ausruhen, aber wenn sie wollen, können sie jetzt gehen«, sagte Curtis.
Die dicke Frau stand etwas schwerfällig auf und begab sich Richtung Ausgang. In dem Moment kamen Rachel und Eira zu ihnen.
»Na Phil? Hat dir deine erste Demonstration gefallen? Ich meine das Wort ›Freak‹ gehört zu haben«, sagte Rachel belustigt.
»Haha. Sehr witzig. Gefallen würde ich jetzt nicht sagen. Es war … lehrreich«, sagte Phil.
»Das sollte es auch sein«, sagte Curtis.
Rachel lachte nur.
»Warum hast du mir eigentlich nie erzählt, dass du einfach so diese Wände an der Schleuse zur Krankenstation öffnen kannst«, fragte Phil, um ihr hämisches Gelächter zu unterbrechen.
»Hm. Ich habe gedacht, die öffnen sich eben für Selbers. Ich habe es auch erst spät herausgefunden, mir aber einfach nichts besonderes dabei gedacht. Nicht jeder ist so neugierig wie du, Phil. Ist eben eine verfluchte Welt«, murmelte Rachel nur.
»Wie hat er sich geschlagen Curtis? Die Ambiterin ist ja offensichtlich wieder fit genug, um zu gehen?«, sagte Eira, blickte noch Richtung Ausgang, zu dem die Ambiterin gerade heraus ging.
»Er hat sich besser geschlagen, als ich gedacht habe«, sagte Curtis nur.
»Nun gut. Rachel und ich haben noch etwas zu besprechen. Ihr seid hier fertig nehme ich an?«
»Ja. Wir gehen wieder, nun Richtung Trainingscenter und Erholungsquartiere«, beschloss Curtis und zog Phil ungeduldig am Arm.
»Schon gut. Ich komme. Ich hab ja auch nicht vor, hier zu bleiben«, brummte Phil.
Rachel blickte grinsend Phil hinterher, wandte sich dann aber schnell wieder Eira zu.
»Und was gibt es so dringendes?«, fragte sie.
»Ich habe gute Nachrichten für dich«, begann Eira und lächelte sie strahlend an.
Gute Nachrichten? Ganz was neues, dachte Rachel, beäugte aber den Gegenstand, den Eira soeben irgendwo hervorzauberte.
»Deine Ausbildung zur Heilerin ist offiziell abgeschlossen. Mit Stolz kann ich sagen, dass du sie schneller als jeder andere Selbers zuvor beendet hast. Und noch dazu kennst du dich wohl besser mit allen fluchlosen Heilmethoden aus, als ich selbst.«
Rachel wandte etwas stolz und beschämt der Komplimente ihren Blick ab. Sie hatte in den letzten Tagen noch einmal besonders versucht, alles aufzuschnappen, was es beim Heilen noch zu wissen gab. Die Kundschafterin Mimi hatte ihr sogar ein medizinisches Lehrbuch aus der fluchlosen Welt besorgt. Und nun hatte sich all die harte Arbeit und das Lernen wohl ausgezahlt.
»Ich werde kaum auf dich verzichten können, aber da nur einer hier ständig anwesend sein muss, werde ich das übernehmen und du kannst vorerst tun und lassen was du willst. Kundschafterin Mimi hat mir noch etwas aus der fluchlosen Welt für dich mitgebracht. Ein kleines Funkgerät, das die in der fluchlosen Welt anscheinend benützen, um jemanden schnell im Notfall eine Nachricht übermitteln zu können. Ich glaube die Fluchlosen nennen das Pager. Ich habe hier in der Station ein passendes Gegenstück.«
Rachel griff nach dem Gerät, von dem sie zwar schon gehört, es aber bisher höchstens früher einmal in irgendeiner Fernsehserie gesehen hatte.
»Ich kann also tun und lassen was ich will, ja? Und verstehe ich das richtig, dass ich diesen Pager mit mir herumtragen soll und sie mich … anfunken, wenn sie mich benötigen?«
»Ganz genau«, sagte Eira vergnügt, strahlte sie weiterhin an. So froh hatte sie Eira lange nicht mehr gesehen.
Aber natürlich blieb diese Freude nicht von Dauer. Es wäre auch zu schön gewesen, dachte Rachel, als Hailey zu ihnen stieß und sie sofort erkannte, dass mal wieder irgendetwas nicht so Schönes vorgefallen sein musste. Die sonst so immer fröhliche, fast schon heiter hüpfende Hailey, schlürfte nun mehr mit leicht gesenktem Kopf zu ihnen.
»Hallo Eira. Hallo Rachel. Ich … muss euch dringend etwas mitteilen«, sagte Hailey, nach Luft schnappend. Sie war anscheinend mal wieder ein großes Stück Weg bis zur Station gerannt.
»Hm. Gut, dass du kommst, Hailey. Ich habe gerade Rachel hier mitteilen dürfen, dass sie ihre Ausbildung abgeschlossen hat und ihr ein Gerät aus der fluchlosen Welt überreicht, mit der ich sie bei Bedarf anfunken kann. Da du deine Ausbildung vor einiger Zeit abgeschlossen hast, frage ich mich, ob du auch so eins haben möchtest.«
»Nein danke, Eira. Ich fühle immer schon alleine, wenn jemand meine Hilfe braucht. Jedenfalls … muss ich euch mitteilen … dass … Mr. Parent verstorben ist«, brachte Hailey hervor.
Rachel sog scharf die Luft ein, während Eira ein entsetztes »Was?«, ausstieß.
»Er ist … tot«, wiederholte Hailey und begann nun zu schluchzen.
Mr. Parent muss ihr wohl sehr viel bedeutet haben, dachte Rachel, erinnerte sich an ihre einzige wirkliche Unterhaltung mit ihm zurück. Eigenlicht kannte sie ihn gar nicht richtig. Sie wusste nur, dass er etwas seltsam war, aber das waren hier einige andere auch. Selbst den Ambiter-Chef Damian Nels, kannte sie besser als Mr. Parent.
»Ganz ruhig, Hailey. Setz dich doch erst einmal hin und erzähle uns in aller Ruhe, was passiert ist«, sagte Eira, die den Schock dieser Nachricht überraschend schnell verdaut zu haben schien.
Hailey setzte sich auf das vorderste freie Bett auf der Station, wischte sich langsam die Tränen weg und sagte dann mit dünner, leiser Stimme:
»Es ist das passiert, was mit uns Selbern allen wohl am Ende passieren wird. Seine Energie war verbraucht und konnte nicht mehr regeneriert werden. Seine Kraft, sein Körper ist ... verbraucht.«
»Es war also ein natürlicher Tod, oder was?«, fragte nun Rachel.
»Ja, Rachel. Er war alt. Für Selbers zumindest. Wir werden in der Regel nicht über 40 Jahre alt. Auch die Ambiter werden meist nur so 50. Und Mr. Parent … war glaube ich bereits jenseits der 60.«
»Hm. Dann werdet ihr wohl bald einen neuen Selbers-Chef bestimmen müssen«, murmelte Eira nachdenklich.
»Und wie?«, fragte Rachel.
»Ich habe keine Ahnung, wie das von Statten gehen soll. Seit ich denken kann ist Mr. Parent Chef der Selbers und ich bin schließlich keine Selbers, sondern eine Ambiterin. Nur der einzige Aller ist wohl alt genug, um darüber Bescheid zu wissen, wie nun verfahren werden soll«, sagte Eira.
Hailey schaute sie nun mit vor Tränen rötlich schimmernden Augen an und sagte dann wieder etwas gefasster: »Er weiß schon Bescheid. Wir Selbers sollen uns alle zu den Erholungsquartieren begeben.«
»Hm. Dann geh mal, Rachel. Wir sind hier ja sowieso vorerst fertig. Und wenn du Phil siehst, sagst du ihm am besten auch Bescheid. Oder du Hailey. Er zählt nun auch zu den Selbers, auch wenn er nur zu Hälfte einer sein mag. Ich denke, er sollte auch dabei sein«, sagte Eira.
Hailey nickte nur, stand dann auf. »Dann mal los«, sagte sie leise und ging trägen Schrittes Richtung Ausgang. Rachel folgte ihr stumm.
Müde dringt Pflanze durch Erde gen Licht,
schläfrig zeigt Blüte des Pflanzen Gesicht,
doch Nacht bricht ein, zeigt Mondenschein,
erwacht ist das Wasser, rauscht sanft an Land,
tobt plötzlich laut, verschlingt allen Sand,
Sonne will steigen, als Nacht schon entschwindet,
doch Wolken zu dicht, kein Licht mehr sie findet.
Die Fabrik in der fluchlosen Stadt, die sich Ratston nannte, war noch trostloser als sonst. Deacon betrachtete traurig den feinen Staubfilm auf den Gefäßen in jenem Raum, der noch vor nicht allzu langer Zeit von Tanita als Labor genutzt worden war. Von all dem Glanz waren nur noch Schatten zu sehen. Andererseits mochte Deacon Schatten. Schließlich hatten sie ihm nicht umsonst einst diesen Spitznamen verpasst. Ohne großen Kraftaufwand wurde er eins mit den Schatten im Labor, auch wenn ihn hier sowieso keiner suchen oder entdecken würde.
Gleich nach Tanitas Tod hatte er nicht inne gehalten, sondern sofort gehandelt. Hierfür hatte er einen Zauber angewandt, den er erst kürzlich entdeckt hatte und endlich ausprobieren konnte: »Angony ato amiko ny angovo«.
Und er verwandte ihn seither jeden Tag. Die Energie, die durch Tanitas Tod freigesetzt worden war, war mit diesem Zauber in ihn gedrungen, hatte ihn gestärkt und seine Wut etwas besänftigt. Eine Eiseskälte hatte ihn ergriffen, die er sehr genossen hatte. Sie war so voller Finsternis und Bosheit. Das würde er sich zu Nutze machen. Er würde noch mehr Energie abziehen. Freie Energie, die da in der Stadt Angovonn herumfloss – einfach so. Nach dem Tod von Tanita – und auch von Conley - war er der einzige verbliebene Entrainer-Meister. Vielleicht war das auch der Grund, warum er nun mit diesem Zauber beinahe so etwas wie Ambiter-Kräfte entwickelt hatte. Jedenfalls brauchte er aufgrund dieses Zaubers keinen menschlichen Wirt mehr, sondern konnte quasi einfach
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0743-0
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