Unter Rissen sticht hervor,
glatter, zarter Glanz,
bröckelt ab vom finstren Tor,
schwacher Lichtertanz.
Altes bleibt doch Neues kommt,
alter, neuer Glanz,
Schlüssel sich im Finstern sonnt,
starker, heller Kranz.
Anisha taumelte, als ein großer Brocken Gestein von einem der stachelartigen Auswüchse der Hausfassaden abbröckelte.
»Jetzt nimm endlich einen Energiestein, Anisha. Du musst dich nicht immer beweisen!«, fuhr Daya sie an.
»Naja, irgendwie ist das doch alles meine Schuld gewesen. Hätten sie es nicht auf mich abgesehen gehabt, hätten sie die Stadt nicht so … zugerichtet«, murmelte Anisha leise. Vor ihrem geistigen Auge zeigten sich in vorbeiziehenden Bildern, wie die ihr nach wie vor so fremde Stadt Angovonn einst ausgesehen hatte. Die Schäden in der Stadt waren beträchtlich gewesen, sodass sie nun immer noch dabei waren, diese zu beseitigen.
Unbeirrt tastete Anisha eine weitere verbrannte Stelle an der Hausfassade ab, spürte das altbekannte Brennen in ihren Handflächen, das immer einsetzte, wenn sie ihre neu entdeckten Kräfte benutzte. Sie spürte das Kribbeln, das die Energie verursachte, die durch sie und das Gestein des Hauses floss, schaffte es so, eine der am Boden bereit liegenden Bausteine zu formen und die verbrannte Stelle des Hauses zu reparieren – ganz ohne Energiestein.
Seit der verheerenden Schlacht vor einigen Tagen, hatte sie vor allem die normale Kraft der Ambiter – das Verformen – besser in den Griff bekommen. Es passierte ihr nun immer seltener, dass sie hierbei ihre Spezialkräfte - das Teleportieren - aus Versehen verwendete.
Ein feiner Riss tat sich plötzlich unweit der von ihr eben reparierten Stelle auf.
Daya schnaubte neben ihr. Sie ging zu Anisha, schnappte ihre Hand und presste ihr den Energiestein förmlich hinein.
»Denke an die Grundlagen, denk immer daran, was es heißt, eine Ambiterin zu sein. Die Energie für den Einsatz deiner Kräfte beziehst du überwiegend aus der Umgebung und nicht aus deinem Inneren. Du bist keine Selbers, Anisha. Also benütze jetzt verdammt noch mal einen Energiestein! Es nützt ja nichts, wenn du die Fassade reparierst und dabei eine andere Stelle zerstörst. Mal ganz davon abgesehen, dass du dich ohne Energiestein leicht überanstrengen könntest. Ich hab kein Bock dich schon wieder halblebig vom Boden aufzulesen oder hinter dir aufräumen zu müssen!«
Anisha seufzte. Seit dem Tod von Dayas Mutter war es mit Daya noch viel anstrengender geworden. Seit neustem belehrte Daya sie häufig.
»Ich mag nun mal diese Energiesteine nicht. Deren Energie fühlt sich so … unkontrolliert und unnatürlich an. Außerdem: Was ist, wenn die Steine mal ausgehen sollten? Wir brauchen ja zur Zeit ganz schön viele davon, um die ganzen Schäden zu reparieren.«
»Die gehen schon nicht aus. Und falls doch benützen wir halt was anderes. Einen anderen Stein, ein Stück Holz oder so. Das wäre zwar nicht so effektiv, aber würde den Schaden der Umgebung auch aufhalten. Jetzt konzentriere dich lieber auf deine Aufgabe und halte dich nicht mit so schwachsinnigen Fragen auf. Und verdammt noch mal quäle dich nicht dauernd mit diesen dämlichen Schuldgefühlen herum! Du hast dir das Ganze ja nicht ausgesucht. Nein, du bist nicht Schuld! Schuld sind nur diese verfluchten Entrainer. Ich werde alle vernichten, auch wenn es das letzte ist, was ich tue. Das schulde ich meiner Mutter. Dabei kannst du mir dann gerne helfen. Aber jetzt mach endlich weiter. Wir wollen hier heute noch fertig werden!«, kam es aus Daya raus, deren Augen wütend funkelten. Da ist ja ihr altes Feuer wieder, dachte Anisha. Erneut drückte Daya nun Anishas Hand mit dem Energiestein, sodass Anisha gar nichts anderes übrig blieb, als die Energie des Steines zu nutzen.
Anisha spürte, wie die Wärme sich ihren Händen ausbreitete. Als wäre es ein natürlicher Reflex lenkte sie einen Teil der Energie - die nun ganz ihre Hand erfüllte - in einen weiteren Brocken, mit dem sie schließlich auch noch die letzte verbrannte Stelle reparierte.
Rachel unterbrach ihr Training. Sie fand, sie hatte genug Elektrizität abgegeben, beherrschte ihre Sonderfähigkeit, die sie von all den anderen Selbers unterschied, gut genug. Meistens reichte ihre Energie sowieso nur für einen kräftigen Blitz, oder für mehrere kleine Funken – mit denen sie dann aber höchstens im Nahkampf punkten würde. Sie starrte auf die Klangschalen, die überall in dem Trainingsraum der Selbers standen. Eigentlich ging es im Training auch nie so wirklich um die Fähigkeit an sich, sondern darum die richtige Menge an Energie einzusetzen ohne sich zu verausgaben – wie es den Selbers leider viel zu oft erging. Dennoch, Rachel hatte einen Entschluss gefasst und den würde sie jetzt ihrer Mentorin Megan mitteilen, was auch immer diese davon halten würde.
»Was soll das denn alles noch? Ich hab das alles im Griff. Ich übernehme mich nicht mehr – mal ganz davon abgesehen, dass ich auch schon Jahre bevor ihr mich nach Angovonn verschleppt habt, Zeit hatte zu trainieren.«
Megan blickte sie erstaunt an, verlor aber auch jetzt nicht ihr nervtötendes Dauergrinsen.
»Nun gut. Aber soweit ich weiß, hast du deine Sonderfähigkeit nicht besonders oft benutzt, sonst hätten wir dich viel früher gefunden. Womit du allerdings Recht hast, ist, dass du hier bereits große Fortschritte gemacht hast, insbesondere was die Kontrolle deines Energiehaushalts angeht.« Megan hielt kurz inne, seufzte und setzte dann wieder sofort ihr Lächeln auf. »Also gut. Wir beenden dein Training – zumindest was deine Sonderfähigkeit anbelangt. Ist mir auch recht. Dann können wir uns gänzlich dem widmen, was eine Selbers eigentlich ausmacht: dem Heilen«
»Dem destruktiven Heilen«, korrigierte Rachel sie, denn nur Eira, die Heilerin der Ambiter, konnte heilen, ohne sich selbst zu verausgaben.
»Kein Heilen ist wirklich destruktiv, Rachel. Das weißt du genau. Wir erholen uns schließlich auch wieder davon. Alles eine Frage der Balance – auch wenn diese beim Heilen zugegebenermaßen noch schwerer zu halten ist, als bei deiner Sonderfähigkeit.«
»Das weiß ich doch. Schließlich bin ich selbst fast drauf gegangen, als ich Anisha geheilt und ihr Kraft gegeben habe. Es war schließlich nicht sie alleine, die die Stadt gerettet hat. Und du warst doch auch dabei. Da haben wir bestens gesehen: Es bringt nicht so viel alleine auf die destruktive Weise zu heilen. Ich würde viel lieber lernen, richtig zu heilen. Du weißt schon … auf fluchlose Weise. Ich will wirklich helfen können, falls Anisha oder den anderen etwas passiert und nicht immer gleich kraftlos zusammenbrechen.«
Megans Lächeln wurde noch breiter – falls das überhaupt möglich war.
»Verstehe ich das richtig? Du willst also zu einer vollwertigen Heilerin ausgebildet werden?«
Rachel runzelte die Stirn. »Wenn vollwertige Heilerin bedeutet, nicht nur meine Selbers-Fähigkeiten zum Heilen zu benutzen, sondern auch Medikamente zu verabreichen und Wunden zu versorgen, dann ja. Ich will. Ich will nie wieder Anisha so schreien hören, ohne selbst eingreifen zu dürfen«, sagte sie entschlossen, dachte mit Schaudern an jenen Tag, als sie auf der Krankenstation lag und Anishas Schmerzensschreie mitanhören hatte müssen.
»Sehr schön. Darauf habe ich die ganze Zeit gewartet. Endlich folgst du dem eigentlichen Weg, den die meisten Selbers gehen, wenn sie ihre Fähigkeiten einigermaßen beherrschen. Ich weiß nicht, ob du es schon bemerkt hast: In Angovonn gibt es nicht mehr sehr viele Selbers und die Ausbilderin aller Heiler ist die einzige Ambiter-Heilerin Eira. Nicht nur, dass sie eben anders ist als wir Selbers, sie ist auch sonst ein bisschen eigen. Sie willigt nur ein, diejenigen zu lehren, die freiwillig zu ihr gehen. Wenn sie merkt, dass nur eine Mentorin wie ich oder etwa Mr. Parent, einen Selbers zu ihr schickt, weil Selbers eben für derartige Tätigkeiten bestimmt sind, dann schaltet Eira sofort auf stur.«
Das wiederum konnte Rachel sich sehr gut vorstellen, denn auch wenn Eira immer so freundlich und mitfühlend wirkte und optisch eher den Selbers ähnelte, hatte Rachel selbst schon miterlebt, wie bestimmend sie auch sein konnte. Dennoch: Rachel war entschlossen sich bei Eira ausbilden zu lassen.
»Ich werde schon mit ihr klar kommen«, brummte Rachel.
Während die anderen schon seit einer gefühlten Ewigkeit entlassen worden waren, die Stadt wieder aufbauten und ihrem Training nachgingen, lag Phil immer noch auf der Krankenstation. Eira wollte ihn einfach nicht entlassen. Er sei nach wie vor zu schwach, sagte sie immer, dabei lag er hier bestimmt schon seit Wochen. Immerhin hatte er ab und an aufstehen und ein paar Schritte gehen dürfen. Aber ja, zu Phils Ärger war das jedes Mal so anstrengend, als würde er einen Marathon laufen und so langsam verlor er die Hoffnung, dass dies je besser werden würde.
Er wusste nicht, wie lange er schon in dieser ihm immer noch fremden, verfluchten Welt von Angovonn war. Sein Zeitgefühl hatte er längst verloren. Nun sah es so aus, als würde diese Welt ihm – dem Fluchlosen – zum Verhängnis werden. Ja, als Fluchlosen bezeichneten sie ihn, weil alle anderen hier in Angovonn, die über diese seltsamen Fähigkeiten verfügten, angeblich »verflucht« waren. Es hieß Verfluchte, ihre Verwandte und alle die sie lieben, starben früher. Ebenso schadete der Einsatz ihrer Kräfte immer irgendwem – sei es auch nur der Umgebung. Aber die Verfluchten erholten sich schließlich wieder und die Umgebung lässt sich ja wieder reparieren. Doch bei ihm – dem Fluchlosen – sah alles wohl anders aus. Wer ist denn hier wirklich verflucht?, dachte Phil nicht zum ersten Mal.
Dann kamen sie. Neben Eira besuchte ihn auch Leeroy, der in Begleitung eines älteren Herren mit asiatischen Gesichtszügen war.
Der Mann strahlte irgendetwas aus, das Phil beunruhigte. Er verkniff angestrengt das Gesicht und dann wusste er, was von dem Mann ausging: Macht. Er hatte diese Aura von Macht und Kraft. Der Mann blickte auf Phil herab, seine Augen schimmerten dabei seltsam silbern wie eine alte Münze.
»Ha … hallo? Wer sind sie?«, brachte Phil hervor, merkte, dass seine Stimme immer noch nicht so kräftig klang wie früher.
Leeroy, der sich im Hintergrund gehalten hatte, trat nun ebenfalls näher an Phils Bett heran. »Das ist der Besitzer der Stadt, der einzige Aller«, zischte er.
Der einzige Aller lächelte mild. »Hallo. Kanda, mein Name. Freut mich dich endlich persönlich kennenzulernen, Phil. Ich habe lange keine Fluchlosen mehr zu Gesicht bekommen.«
»Was? Sie sind … der Besitzer der Stadt? Und wie komme ich zu der Ehre?«, fragte Phil.
Jetzt trat Eira zu ihnen. »Hm. Ich muss gestehen, ich habe das, was ihr Fluchlosen ärztliche Schweigepflicht nennt, gebrochen und Mr. Kanda von deinem Fall erzählt.«
»Keine Sorge Eira, du bekommst keinen Ärger deswegen. Nein, ich bin dir sogar dankbar, dass du es getan hast, denn ich denke, ich kann dir vielleicht helfen, Phil. Eira und auch Leeroy haben mir erzählt, dass du wohl mehrere … Energietransfers an Entrainer überlebt hast. Allein das habe ich doch als außergewöhnlich empfunden. Die meisten Fluchlosen überleben meiner Kenntnis nach nicht einmal einen dieser Energietransfers. Wenn du gestattest, würde ich dich daher gerne einmal persönlich untersuchen.«
»Äh … klar. Warum nicht?«, brachte Phil etwas perplex hervor. Er begriff noch nicht ganz so recht, was da soeben geschah.
Ein seltsames Ziehen und Kribbeln riss Phil aus seinen Gedanken. Er zitterte beinahe, als Mr. Kandas Hände wie fleischgewordene Scanner über seinen Körper glitten. Auch sonst war ihm das Ganze mehr als unangenehm und auch viel schlimmer als die inzwischen fast schon angenehmen Untersuchungen durch Eira.
»Euer Rufen nach mir war richtig, Eira, Leeroy. Phil hier ist mehr als außergewöhnlich«, sagte Mr. Kanda schließlich und ließ von ihm ab. »Du solltest eine Selbers rufen, Eira. So viele Legenden haben nur einen wahren Kern, aber diese eine scheint nun gänzlich Realität geworden zu sein.«
Eira fragte erst gar nicht weiter nach, was Mr. Kanda meinte und rief sofort nach Hailey - einer Selbers, die Phil schon öfter auf der Krankenstation gesehen hatte, weil sie Eira öfter zur Hand ging.
Leeroy war schneller als Phil selbst und hakte wegen Mr. Kandas mysteriöser Aussage als erster nach. »Was genau haben Sie denn nun entdeckt, Mr. Kanda?«
»Nun, Leeroy. Phil hier«, Mr. Kanda blickte Phil nun genau in die Augen, »ist nicht vollkommen fluchlos.«
»Was?«, stieß Phil aus. Auch Leeroy starrte ihn nun an.
Die Sonne geht, der Mond kommt,
die Erde bebt, der Himmel sonnt
sich nicht halb und nicht ganz.
Der Weg weicht, die Kraft flieht,
der Strom findet, das Wasser schiebt
langsam nicht halb und nicht ganz.
Es dauerte nicht lange, da tauchte Hailey, wie immer fröhlich und unbekümmert, auch schon an Phils Bett auf. Jene junge Selbers – die kaum älter als er selbst sein konnte und die er - neben Eira - in den letzten Tagen am häufigsten gesehen hatte. Die wenigen anderen Selbers waren nämlich, nachdem die meisten Verwundeten der Schlacht versorgt worden waren, wieder abgezogen.
»Was gibt es denn?«, quietschte Hailey erst, hielt dann jedoch abrupt inne und vergaß zu Phils Erstaunen beinahe ihr Dauergrinsen aufzubehalten.
Hailey, die optisch typische Selbers mit ihrem hellen Haar und der dürren Statur, starrte an Phil mit ihren himmelblauen Augen vorbei, schaute den seltsamen Mann, diesen einzigen Aller, an.
»Wie kommen wir zu der Ehre den einzigen Aller auf der Krankenstation begrüßen zu dürfen?«
»Hallo Hailey. Schön dich auch einmal wieder zu sehen. Ist lange her, nicht? Nun, ich bin wegen dem jungen Fluchlosen hier, wegen Phil. Ich habe mir euren Patienten einmal genauer angeschaut und musste feststellen: er ist nicht komplett fluchlos.«
Phil, dem es überhaupt nicht gefiel, dass alle so redeten, als wäre er nicht anwesend, wollte schon etwas sagen, da sah er wie Hailey auf einmal noch bleicher wurde, als sie es ohnehin schon war. Ihr Lächeln und ihre immer fröhliche Art war von jetzt auf gleich verschwunden – etwas, das selbst nicht einmal die schlimmen Verletzungen der Schlacht geschafft hatten, hatte dieser einzige Aller nun mit jener simplen Feststellung geschafft.
»Aber … aber das ist doch nicht möglich«, stammelte Hailey.
»Selbst wenn, ist das etwa so schlimm? Wäre das nicht nur zu meinem Vorteil? Könnte ich etwa auch Kräfte haben? Was bedeutet das nun?«, schaffte Phil schließlich sich doch noch zu Wort zu melden.
»Nun, Phil, das wissen wir nicht genau. Aber ich würde dich bitten, Hailey, ihm doch etwas Kraft zu geben. Jetzt, da du weißt, dass er nicht komplett fluchlos ist, nützt das vielleicht ja doch noch etwas.«
»Ich habe das ja schon einmal versucht, aber gleich wieder aufgegeben, weil ich Widerstand gespürt habe und gedacht habe, er ist eben fluchlos, da funktioniert das eben nicht«, murmelte Hailey, scheinbar immer noch geschockt. »Na gut. Ich versuche es erneut.«
Mit zitternden Händen trat sie auf Phil zu. Als wäre ich irgendwie etwas Gefährliches oder Abstoßendes, dachte Phil. Gestern hatte sie doch auch keine Probleme damit, mich zu untersuchen.
Doch als Hailey schließlich ihre zarten Hände auf seinen nach wie vor etwas schwachen Körper legte und versuchte dabei wieder ein Lächeln aufzusetzen, geschah es. Phil spürte es. Da floss Energie. Energie, die in ihn drang. Mühsam. Langsam. Es kribbelte. Es brannte. Es schmerzte! Phil schrie auf.
Sofort ließ Hailey von ihm ab. Sie taumelte etwas und hielt sich an der Kante seines Bettes fest.
Phil hob sein nun schmerzendes Bein hoch. Es fiel ihm deutlich leichter. Das spürte er sofort. Auch seine übrigen Glieder ließen sich deutlich leichter bewegen, waren lang nicht mehr so … steif.
»Es hat funktioniert, oder?«, sagte er begeistert, auch seine Stimme hörte sich schon besser an.
Hailey setzte sich mit Schweißperlen auf der Stirn auf sein Bett und blickte zu Boden. »Scheint so«, murmelte sie. »Ich fasse es nicht: Du könntest wirklich zum Teil Selbers sein.«
»Und nun? Was haben sie jetzt mit ihm vor?«, meldete sich nun Leeroy zu Wort, der sich zunächst ,wie so oft, zurück gehalten hatte.
»Erst einmal nichts weiter. Phil bleibt noch ein paar Tage hier auf der Station. Ich will, dass du, Eira, ihn ausführlich untersuchst und weiter betreust. Du auch, Hailey. Passt gut auf ihn auf. Sagt mir Bescheid, wenn er entlassen werden kann, dann sehen wir weiter. Bis dahin will ich, dass die ganze Sache möglichst unter uns bleibt.«
»Aber sicher doch, Mr. Kanda«, sagte Eira entschlossen.
»Ich werde öfter nach ihm sehen, versprochen. Ich werde mich noch mehr anstrengen, ihn wieder auf die Beine zu bekommen«, sagte Hailey schnaufend.
»Aber was ist mit Rachel und Anisha? Ich muss es ihnen erzählen!«, protestierte Phil.
»Wenn es sein muss und wenn die Zeit da ist, in Ordnung, Phil. Und du Hailey gehst am Besten auf ein Erholungsquartier der Selbers«, befahl Mr. Kanda, wandte sich dann an Leeroy und machte ihm ein Zeichen. Dieser begriff offenbar.
»Komm Hailey, ich begleite dich zu den Selbers, während Eira sich weiter um Phil kümmert«, sagte Leeroy.
»In Ordnung«, brachte die immer noch erschöpfte Hailey zustande. Sie lächelte nun wieder.
Auch Mr. Kanda ging, sodass Phil erst einmal mit Eira alleine war.
Schon am nächsten Tag machte sich Rachel auf den Weg ins Rehabilitationscenter, wo sie ihre Ausbildung auf der Krankenstation beginnen wollte. Ihre Mentorin Megan folgte ihr stumm. Kaum da sie Megan durch die Schleuse des Rehabilitationscenters geleitet hatte, hielt sie vor der Krankenstation an und ließ Rachel, zu ihrer Freude, diese alleine betreten.
Dort begrüßte sie eine gestresst wirkende und skeptisch drein schauende Eira. Die vielen Betten waren durch die seltsam schimmernden Trennwände eher mäßig von Blicken geschützt, aber sie dienten wohl auch vorrangig dazu, dass die Patienten sich nicht gegenseitig sahen. Nur allzu ungern erinnerte sich Rachel daran, wie schrecklich es gewesen war, als sie selbst in einem dieser Betten gelegen und verzweifelt versucht hatte, Anisha zu finden. Die Betten wirkten nun, zumindest auf die Ferne und auf dem ersten Blick gesehen, größtenteils unbelegt.
Rachel versuchte nicht weiter an die Dinge zu denken, die sie auch persönlich hier, auf dieser Station, bereits hatte mitansehen müssen. Sie lehnte sich an das, was die Zentrale der Krankenstation darstellte. Durch die vielen Kameras, die überall an der Betondecke befestigt waren, konnte sie zusätzlich die zahlreichen Betten immer gut beobachten, denn die Monitore an der Zentrale wechselten häufig das Bild. Daher tauchten alle Betten irgendwann einmal auf einem der Monitore auf und wirklich: fast keines der Betten war belegt. Rachel wandte erst wieder ihren Blick von den Monitoren ab, als Eira sich schließlich an sie wandte:
»So. Hallo Rachel. Ich war doch etwas überrascht, als Megan mir von deinen Vorhaben erzählt hat. Dass ausgerechnet du den vorbestimmten Weg der Selbers gehen willst, erscheint mir doch etwas merkwürdig. Darf ich fragen, was ausgerechnet dich zu diesem Schritt veranlasst?«
Rachel musste sich beherrschen nicht wütend zu werden. Nun, Megan hat dieses Mal wohl nicht übertrieben, dachte sie.
»Wieso bitte ist denn das so undenkbar? Weil ich nicht immer so scheiß freundlich bin, wie die anderen Selbers? Weil ich noch eine andere Fähigkeit habe als nur das Heilen? Weil ich Kampferfahrung habe?«
»Ja zum Beispiel«, sagte Eira trocken.
»Nun. Eben weil ich mit im Kampf war, will ich lernen richtig zu heilen. Nicht nur wie die anderen Selbers. Ich will das nächste mal besser vorbereitet sein, falls sich Anisha oder jemand anderes wieder so schwer verletzt. Außerdem beherrsche ich meine Fähigkeiten inzwischen recht gut, fragen sie doch Megan. Sie wartet gleich hier vor der Türe.«
Eira wirkte immer noch etwas skeptisch, lächelte aber.
»Hm. Du wirkst entschlossen. Und ja, ich kann wirklich jede Hilfe gebrauchen. Aber kommt dies wirklich auch von dir und nicht nur von Megan?«
Jetzt konnte Rachel ihre Wut nicht länger verbergen. »Natürlich kommt das von mir«, zischte sie. »Als würde ich immer brav alle Anweisungen befolgen«
»Eben. Aber das müsstest du hier doch auch«, sagte Eira, grinste.
»Das ist etwas anderes«, murmelte Rachel.
»Inwiefern?«
»Insofern, dass ich das hier wirklich will. Wenn ich nur daran denke, wie Anisha hier lag, wie ich ihre Schreie habe mitanhören müssen, ohne selbst eingreifen zu dürfen ...«
Rachel blickte zu Boden, verfluchte sich, dass ihr das raus gerutscht war andererseits würde das Eira vielleicht endlich von ihrer Absicht überzeugen.
»Aha. Daher weht also der Wind. Nun, in diesem Fall ... In Ordnung. Ich werde dich ausbilden. Aber sei dir gewiss, dass du nicht nur Anisha helfen wirst, sondern auch anderen, ja?
Hm. Außer dir habe ich derzeit sowieso nur zwei weitere Selbers, die mir hier regelmäßig helfen. Weißt du, es gibt nicht mehr so viele Selbers. Seit der katastrophalen Ereignisse, die hinter uns liegen, erklären sich zudem auch immer weniger bereit, in der Not einzuspringen. Es ist alles so schwierig geworden, dass ich es mir eigentlich sowieso nicht erlauben könnte, dich abzulehnen, Rachel.«
Jetzt grinste Eira noch breiter. Lachte dann. Laut, hell. »Entschuldigung, dass ich dir so auf den Zahn gefühlt habe. Ich freue mich schon, mit dir zusammen zu arbeiten«
So ein Biest, dachte Rachel, sagte dann: »Schön. Und wer sind die anderen beiden Selbers, die hier helfen?«
»Hailey ist die eine, die kennst du ja wahrscheinlich schon. Sie hat ihre Ausbildung aber bereits so gut wie abgeschlossen. Der andere sollte bald schon eintreffen«, sagte Eira nur und tatsächlich kam wenige Augenblicke später ein junger Mann, der höchstens ein paar Jahre älter war als sie selbst, auf sie zu.
Rachel betrachtete ihn skeptisch. Er war eine Bohnenstange – sehr groß und dünn - und wirkte auf Rachel sofort wie ein richtig komischer Kauz. Sein Haar war zerzaust und stand in alle Richtungen ab und er ging irgendwie abgehakt und steif. Na toll. Der also und Miss Happy Hailey, dachte sie.
»Der junge Mann hier ist Curtis«, stellte Eira ihn vor.
»Hallo. Ich bin einer der wenigen noch lebenden männlichen Selbers und freue mich, endlich deine Bekanntschaft zu machen«, warf Curtis auch sogleich mit säuseliger Stimme ein.
»Tag auch«, brummte Rachel, blickte sofort wieder zu Eira.
»Rachel hier wird heute ihre Ausbildung zur vollwertigen Heilerin beginnen.«
»Hm. Du wirkst eher wie Eira, optisch eine Selbers, von der Art her eine Ambiterin«, sagte Curtis und musterte sie unter seinen langen Haaren mit kritischem Blick.
»Nun, ich habe zwar noch andere Fähigkeiten als heilen, aber leider wirkt meine Energie auf Selbers-Weise. Glaub mir, ich wünschte es wäre anders. Das würde so vieles einfacher machen. Ich will auch nicht unbedingt nur meine Kräfte zum Heilen einsetzen, sondern zu dem werden, was man in meiner alten Welt, der fluchlosen Welt, eine Krankenschwester oder noch besser eine Ärztin nennt.«
Rachel versuchte dabei möglichst abfällig zu klingen. Diesen Curtis konnte sie jetzt schon nicht leiden. Sie atmete einmal tief aus und wandte sich dann wieder an Eira. »Können wir dann anfangen?«
»Sicher. Es trifft sich gut, dass du heute hier bist. Wir haben gleich einen gemeinsamen Patienten, der dir wohl gut bekannt sein wird. Es haben sich bezüglich einer möglichen Behandlung entscheidende Änderungen ergeben. Kommt mit«, sagte Eira, lächelte wie fast immer, doch ihr Lächeln wirkte stets noch aufgesetzter als das der Selbers. Sie gingen ein gutes Stück, bis an eines der hintersten Betten auf der Krankenstation.
»Phil?«, stieß Rachel erstaunt aus. Das Bild der Kamera, das Phils Bett gezeigt hatte, hatte sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, da Eira zu ihr gesprochen hatte. Daher war sie nun umso erstaunter, ihn zu sehen. »Du liegst immer noch hier? Ich dachte, du wärst schon längst entlassen worden«
»Freut mich auch dich zu sehen, Rachel. Hast es ja bisher nicht für nötig gehalten, nach mir zu sehen. Wenn ich wirklich entlassen worden wäre, wären wir uns bestimmt schon zuhause begegnet, oder? Also: Was führt dich ausgerechnet jetzt hier her. Lass mich raten: Du hast also auch schon davon gehört.«
»Wovon denn? Eira? Kläre mich doch bitte mal auf«, brummte Rachel.
»Aber gerne doch«, sagte Eira vergnügt. Sie schien nun ganz in ihrem Element zu sein. »Nun, der einzige Aller war bei Phil und hat festgestellt, dass dieser wohl … nicht vollkommen fluchlos ist. Eventuell gehört er zu uns.«
»Aber … Soll das heißen ... Bist du etwa ein Selbers Phil?« Rachel musterte den eigentlich auch recht fit wirkenden Phil verblüfft.
»Nicht genau. Wenn dann schon nur zu einem kleinen Teil«, sagte Phil.
»Eben das werden wir jetzt gemeinsam herausfinden. So wie ich es verstanden habe, sollen wir Phil genauer untersuchen und vor allem seinen Status ein für alle mal klären«, erklärte Eira.
»Interessant. Wirklich interessant«, kommentierte Curtis nur. Rachel sah wie Phil nun an ihr vorbei zu Curtis blickte.
»Wer ist denn der Kerl? Ist der etwa auch ein Selbers? Ich habe noch nie einen männlichen Selbers gesehen«, sagte Phil.
»Nun wir Selbers sind auch nicht aus der Erde gewachsen«, sagte Curtis und kicherte wie ein Verrückter.
Na Großartig. Der ist ja noch nerviger als Phil, dachte Rachel.
»Während ich einen Energiestein hole, um einen weiteren Heilversuch zu starten, könntet ihr beiden Phil schon mal etwas befragen. Wenn er wirklich zum Teil Selbers sein sollte, müssten ja in seiner Verwandtschaft entsprechende Fähigkeiten zumindest einmal aufgetreten sein. Wobei auch ich noch nie von einer Verbindung eines Fluchlosen mit einem Verfluchten gehört habe. Das ist eigentlich strengstens untersagt, wisst ihr? Erstens weil die Fluchlosen nichts von uns wissen sollen und zweitens hatte man auch immer Angst, was bei einer solchen Verbindung rauskommen könnte.«
»Zu Recht«, sagte Rachel trocken, blickte zu Phil.
»Pass auf, das Rachel Phil wirklich nur befragt, Curtis. Ich hole den Stein, werde kurz mit Rachels Mentorin Megan reden und dann komme ich wieder, ja?«, sagte Eira und verließ zügigen Schrittes die Station.
Geister wirbeln mit Wind Staub auf,
setzen Spitzen auf Flächen drauf,
Wasser verdrängt doch nur zu Wellen,
Zeit überschreitet jegliche Schwellen,
Nacht dringt in Gegenwarts Lichts,
lacht, denn vergangen ist nichts.
Phil starrte Rachel an.
»Dann lass uns gleich zur Sache kommen, Phil«, sagte sie.
Erst schaut sie tagelang nicht nach mir, sucht immer nur nach Anisha. Und jetzt interessiert sie sich plötzlich für mich?, dachte er.
»Na schön. Was wollt ihr denn wissen? Ich glaube kaum, dass es etwas gibt, dass das Ganze erklären könnte«, sagte er schließlich.
»Hm. Erzähl uns doch einfach mal von deinen Eltern. Bisher habe ich dich immer nur von dir selbst erzählen hören«, sagte Rachel.
»Es ist kein leichtes Thema für mich. Zudem hat keiner von euch je danach gefragt, oder?«
»Hm«, brummte Rachel nur.
»Also? Was ist jetzt mit deinen Eltern?«, mischte sich nun Curtis ein, dieser männliche Selbers, der Rachel und Eira begleitet hatte.
»Nun. Meine Mutter ist immer gestresst und auf Arbeit. Sie hatte meistens keine Zeit für mich. Aber wenn sie dann mal da ist, haben wir uns ganz normal unterhalten. Ich habe nie auch nur irgendetwas Besonderes an ihr feststellen können, wenn es das ist, nach dem ihr sucht. Sie sieht auch ganz anders aus als jeder Selbers, den ich hier bisher gesehen habe. Glaubt mir, ich wüsste, wenn sie so wäre … wie ihr beiden.«
»Ich sehe ja wohl auch nicht ganz so aus wie die anderen Selbers hier!«,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9277-2
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