Cover

»Verschwunden«

Wasser versickert im Boden,

trockener Staub wirbelt auf,

Spuren des Nichts sind am Toben,

vergessener Nebel im Lauf.

Steine verschwinden in Tiefen,

Herzen verstummen im Dunst,

trübe und eiskalte Schiefen -

verschwunden in unklarer Kunst.

 

 

Anisha spürte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Erneut griff sie zu ihrem Smartphone und versuchte erst ihre Mutter, dann ihren Vater zu erreichen. Wieder meldete sich nur die Mailbox. Sie wartete auf den Mailbox-Ton und hinterließ ihren Eltern eine weitere Nachricht:

»Ruft mal an. Ich mach mir langsam Sorgen. Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Erst gestern kam nämlich die Nachricht, dass sie an der hiesigen Universität angenommen wurde. Zu gern hätte sie es ihnen gesagt, zu gern hätte sie den verdutzten Blick ihrer Eltern gesehen, die ja nie daran geglaubt hatten, dass sie es noch zu etwas bringen würde. Endlich hätte sie mal etwas zu sagen gehabt, endlich hätte sie mal von ihrem Erfolg berichten können und nicht umgekehrt.

Erst hatte sie sich nichts dabei gedacht, als sie nichts mehr von ihren Eltern gehört hatte, schließlich hatte sie sowieso vorgehabt, auszuziehen, sich nach einer Wohnung umzusehen, die näher an der Universität lag. Inzwischen war nun aber schon über eine Woche vergangen und normalerweise meldet sich zumindest ihre Mutter einmal am Tag, selbst wenn sie wie so oft mit ihrem Vater zusammen geschäftlich unterwegs war.

Das Klingeln an der Wohnungstür riss sie aus ihren Gedanken. Sie hastete den langen Flur entlang zur Tür.

 

 

Zu ihrer Enttäuschung standen vor der Haustüre allerdings nicht etwa ihre Eltern. Nein, ein Mann und eine Frau in Polizeiuniform blickten ihr entgegen. Entsetzt schnappte sie nach Luft, als ihr die Tragweite dessen, was nun passieren könnte, bewusst wurde. Sie war schon immer gut darin, sich das Schlimmste auszumalen.

»Miss Whittemore?«, sagte die große Frau mit sanfter Stimme. Ihre bleiche Haut funkelte seltsam im matten Sonnenlicht.

»Ja...«, brachte Anisha hervor.

»Ich bin Officer Claire und das ist mein Partner Officer Lookpas.« Die große Frau hielt ihr einen Ausweis entgegen, der Mann neben ihr – ein dunkelhäutiger Lockenkopf – tat es ihr gleich. »Dürfen wir reinkommen?«

Anisha nickte verdattert und lies die beiden in die Wohnung.

Sie setzten sich auf das große, schwarze Ledersofa im noch größeren Wohnzimmer. Anisha ließ sich langsam und zögerlich im bequemen Sessel gegenüber nieder und starrte an den beiden Gestalten vorbei, vermied es sie anzublicken. Sie nahm nur wieder diese Leere wahr, denn ohne ihre Eltern war dieses gigantische Haus immer so leer – so leer wie sie sich selbst nun auch fühlte. Sie wandte ihren Blick nun doch wieder den beiden Polizisten zu, die hier nun saßen und sie mit einer ernsten Miene anstarrten. Das konnte einfach nichts Gutes bedeuten.

»Miss Whittemore, ich fürchte wir haben keine guten Nachrichten für Sie«, schoss Officer Lookpas auch schon los.

»Geht es um meine Eltern?«, wisperte Anisha.

»Ja«, sagte nun Officer Claire und beugte sich vor, näher zu ihr heran, setzte eine mitleidige Miene auf und sagte dann: »Wir müssen ihnen mitteilen, dass Ihre Eltern tödlich verunglückt sind.«

»Aber … wie … woher?«, stammelte Anisha, fühlte einen gewaltigen, einsetzenden Schrecken, der ihr beinahe das Herz stehen ließ, spürte wie die Leere in ihr weiter zunahm.

»Offenbar waren sie auf Wanderschaft. Zeugen haben berichtet, wie sie eine Schlucht hinunter gestürzt sind. Wir haben alles abgesucht, aber wir konnten ihre … sterblichen Überreste nicht finden«, sagte Officer Lookpas, wirkte dabei verkrampft. Es schien ihm sichtlich unangenehm, Anisha dies mitzuteilen.

»Es tut uns wirklich sehr leid, aber die Zeugenaussagen waren sehr glaubwürdig und wir haben absolut keinen Zweifel daran, dass ihre Eltern dort verunglückt sind. Wir haben uns bereits um alles gekümmert, was sonst nun auf sie zugekommen wäre«, sagte Officer Claire, blickte sie mit traurigen Augen an, doch alles was sie tat wirkte so … unecht.

»Wie meinen Sie das? Ich versteh nicht ...«, brachte Anisha hervor, spürte wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Das wirst du schon bald«, sagte Officer Lookpas nur, wollte sich schon auf den Weg zur Türe machen.

»Aber ...«, stammelte Anisha, blickte die Polizisten nun verwirrt an.

»Wir haben die nötigen Papiere bereits ausgefüllt, ein Notar wird sich bezüglich ihres Erbes bald melden. Alles weitere wird sich schon bald ergeben. Machen Sie sich keine Sorgen. Lassen Sie das Ganze erst einmal sacken. Sie können sich jederzeit bei mir melden. Unser herzlichstes Beileid«, sagte Officer Claire, reichte ihr eine Visitenkarte und ging dem anderen Polizisten hinterher.

Als die beiden seltsamen Polizisten schließlich ihr Haus wieder verlassen hatten, kämpfte Anisha mit Verwirrung und Verzweiflung. Was zur Hölle war das gerade? Sind sie … sind sie wirklich tot?, dachte sie, spürte dann wie Tränen ihre Wangen hinabliefen. Nein, nein, dass kann nicht sein. Das war doch alles absurd … Da stimmte doch etwas nicht. Diese Polizisten, dieser angebliche Unfall … und warum hatten sie sich denn dann nicht noch einmal gemeldet, bevor sie zu dieser ... »Wanderung« aufgebrochen waren?

Sie wollte es nicht glauben, konnte es einfach nicht glauben, saß eine Weile einfach so da. Doch dann klingelte es schon wieder an der Türe.

Wie in Trance ging Anisha erneut zur Türe, wischte sich ihre Tränen beiseite und öffnete.

Es war nur der Briefträger. Aber eigentlich hab ich doch gar nichts bestellt, dachte Anisha.

»Ein Einschreiben für Anisha Whittemore«, sagte der Postbote mit fester Stimme.

»Ja. Das bin ich«, sagte sie tonlos, zeigte dem Postboten seufzend ihren Ausweis, nahm den Stift, den er ihr reichte, entgegen, unterschrieb, ging in ihre Wohnung und öffnete den Brief sofort. Er enthielt eine Einladung zu einem Termin bei einem Notar und bestätigte die Aussagen der Polizisten, dass ihre Eltern verstorben seien.

So schnell? Die haben mir das doch eben erst gesagt und jetzt kommt schon dieser Brief? Ich soll gleich morgen dort hin und entscheiden, ob ich mein Erbe antrete. Was wird hier nur gespielt?, dachte sie.

Die Nacht kam wie im Rausch. Sie versuchte noch ein paar Mal ihre Eltern anzurufen, weil sie das alles immer noch für einen schlechten Scherz hielt, weil sie das alles noch nicht recht glauben konnte. Doch inzwischen ging nicht mal mehr die Mailbox ran, stattdessen kam nur: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«

Auch der Anschluss war also anscheinend schon gekündigt worden. Mehr und mehr kam es Anisha so vor, als wäre das Ganze inszeniert, als hätte das irgendwer von langer Hand so geplant. Sie lag beinahe die ganze Nacht wach da und grübelte.

Sie sind gar nicht tot. Sie täuschen ihren Tod nur vor. Ja, so muss es sein, dachte sie, dann jedoch fiel ihr ein noch schlimmeres Szenario ein: Jemand hat sie getötet und tut nun alles, um diesen Mord als Unfall darzustellen und ihn zu vertuschen. Jemand, der meine Eltern kannte, ihre Anschrift kannte, den Mobilfunkvertrag meiner Eltern kündigen konnte und mir sofort diesen Termin beim Notar organisiert hatte. Aber wer stand ihnen denn so nahe und konnte etwas Derartiges hinbekommen haben?

 

 

Sie konnte immer noch nicht begreifen, was am vorherigen Tag passiert war, als sie sich nun auf den Weg Richtung Innenstadt machte, in Richtung des Büros, in dem sich angeblich dieser Notar befand.

Das Büro befand sich in einem modernen mehrstöckigen Gebäude, in dem sich noch dutzende andere Büros von Rechtsanwälten, Steuerberatern und sonstigen entsprechenden Dienstleistern befanden.

Nachdem sie nach langem Suchen endlich das entsprechende Büro gefunden hatte, öffnete die Türe sich auch schon, noch bevor sie dort klopfen konnte.

»Sie müssen Miss Whittemore sein.«

»Ja«, sagte Anisha, blickte erst zu Boden, dann zu dem Notar. Es handelte sich um einen etwas zerstreut wirkenden Glatzkopf, der sie bat, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

Kaum hatte sie sich gesetzt, begann der Notar auch schon mit tiefer Stimme, recht langsam, aber deutlich zu sprechen

»Erst einmal mein herzliches Beileid, Miss Whittemore«, sagte er, blickte sie mit großen Augen an. Sie regte sich nicht, wandte ihren Blick wieder ab, versuchte nicht in Tränen auszubrechen, denn alles Surreale wurde mehr und mehr Realität.

»Sicherlich sind Sie so überrascht wie ich, über diesen schnellen Termin und die Art und Weise, wie das Ganze hier ablaufen wird, aber ihre Eltern haben in ihrem Testament diesbezüglich klare Anweisungen hinterlassen. So wie es aussieht, sind sie Alleinerbe und erben von ihren Eltern all deren Besitztümer und ihr ganzes Vermögen. Ihre Eltern haben selbst im Testament um einen schnellen und reibungslosen Ablauf des Ganzen gebeten und haben sich schon im Vorhinein um alles Erdenkliche gekümmert, falls es zum Todesfall kommen sollte. Ich habe daher bereits alle notwendigen Papiere und Formulare vorliegen und benötige lediglich noch ein paar Unterschriften, wenn sie das Erbe denn annehmen«, sagte der Notar, atmete einmal tief und langsam durch, wühlte dann auf seinem Schreibtisch, auf dem ein Chaos herrschte, umher und schob ihr etliche Zettel entgegen.

Als hätten sie gewusst, dass sie bald sterben würden, dachte Anisha und unterschrieb wie mechanisch alles stumm und ohne es sich großartig durchzulesen.

 

 

Auf dem Weg nach Hause konnte sie dann nicht mehr an sich halten und begann bitterlich zu weinen. So langsam begriff sie das Ausmaß dessen, was soeben passiert war. Ihre Eltern waren wirklich tot und das Haus, das ganze Geld, all der Reichtum, den ihre Eltern aus ihren erfolgreichen Immobiliengeschäften abgewickelt hatten und von dem Anisha stets so gut wie nichts abbekommen hatte – all das gehörte nun ihr. Sie hatten ihr ... einfach alles vermacht. Nur freuen konnte sie sich dennoch nicht darüber, schon allein, wenn sie daran dachte, wie alleine sie von nun an sein würde. Noch einsamer als zuvor. Das darf nicht sein, das kann nicht sein, das muss sich ändern, dachte sie.
Völlig mit den Nerven am Ende bemerkte sie schließlich, dass der Schnürsenkel einer ihrer Turnschuhe aufgegangen war.

Als sie zitternd nach dem Bändel griff, um ihn zu binden, geschah etwas noch viel Seltsameres und Angsteinflößendes als all das, was sie seit gestern erlebt hatte. Ihre Hand pulsierte seltsam, brannte, pochte. Ihr Kopf fühlte sich auf einmal so matt an und dann knackte es um sie herum. Ein lautes Knallen.

Ungläubig starrte sie auf ihren Fuß, der nun ohne Schuh auf der Straße stand; der Straße, dessen Asphalt auf einmal ein großer Riss zierte, bei dem sie sich hundertprozentig sicher war, das dieser zuvor noch nicht dagewesen war.

Verwirrt schaute sie sich um, suchte nach ihrem Schuh, welcher so plötzlich verschwunden war.

Nur mit einem Schuh humpelte sie die Straße entlang und entdeckte den anderen Schuh tatsächlich ein paar Meter weiter in einem Gebüsch etwas abseits der Straße.

Ich werde noch irre. Das kann doch einfach nicht sein, dachte sie, schnappte sich den Schuh, zog ihn wieder an und schüttelte nur den Kopf.

Es war nicht das Einzige, das sie beunruhigte. Irgendwie fühlte sie sich so … beobachtet. Sie blickte sich immer wieder um. Doch da blieb nur diese dunkle Ahnung, dass diese seltsamen Vorkommnisse erst der Anfang gewesen waren.

 

»Schnelle Entscheidungen«

Spalt spaltet Entscheidung,

hinüber oder bleiben,

heller Riss, dunkler Asphalt,

schnell muss entscheiden,

kleiner Stein, große Begleitung,

her mit Wärme, sonst zu kalt.

 

 

Sie hielt es zuhause nicht mehr aus. Für immer ganz alleine in diesem riesigen Haus, das konnte sie sich einfach gar nicht vorstellen. So viele Erinnerungen verfolgten sie bei jedem Schritt, den sie fortan dort tat.

Erinnerungen an ihre Mutter, der sie so ähnlich sah, sah man mal von Mutters trüben, traurigen Augen ab. »Du schaffst das schon. Du musst das schaffen. Enttäusche mich nicht. Ich glaube fest daran, dass du das kannst«, hörte Anisha die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf, teils klang sie wie die ihres Vaters - so fordernd - teils versuchte sie zu beruhigen und Mut zu zusprechen.

Mutter war trotz ihrer zierlichen Erscheinung immer auffällig gewesen, Anisha selbst versuchte jedoch immer das Gegenteil zu erreichen. Niemand sollte merken, wie es ihr ging, was in ihr vorging. Sie wollte einfach nicht auffallen und dementsprechend unauffällig sah sie auch aus, mit ihren dünnen, dunkelbraunen Haaren und ihren total durchschnittlichem Kleidungsstil, dessen war sie sich genau bewusst. Ihre Mutter und ihr Vater waren schon genug aufgefallen. Nein, nicht hier in der Stadt, dazu waren sie immer zu oft unterwegs gewesen. Aber überall, wo sie hingegen, hinterließen sie diesen Eindruck der Macht und Eleganz, des Erfolges. Sie würde wohl immer in ihrem Schatten stehen.

Um all die auf sie zuströmenden Erinnerungen und Gedanken endlich loszuwerden, wusste Anisha nur einen Ausweg: möglichst schnell von hier zu verschwinden. Sie musste es akzeptieren, wie es eben war, musste akzeptieren, dass ihre Eltern nie wieder hier her zurück kommen würden. Zumindest für diesen Moment.

So beschloss sie sich sofort nach einer neuen Wohnung umzusehen.

»Ganz langsam, junge Dame. Ich hoffe, du hast dir das genau überlegt. Vermassel das bloß nicht«, hörte sie nun die Stimme ihres Vaters.

Anisha setzte sich auf das große Sofa, holte ihren Laptop hervor und begann zu recherchieren. Auf die Preise der Wohnungen, die sie fand, achtete sie nicht. Darauf musste sie wohl dank des Erbes nie wieder achten. Doch sie wollte dennoch studieren, wollte nicht nur von ihrem Erbe leben. Deshalb schaute sie hauptsächlich auf die Lage. Sie fand schließlich eine der wenigen freien Wohnungen in der Nähe der Universität. Diese war recht groß und sehr teuer, aber das war ihr egal. Denn für sie stand schon fest: Sie würde dort nicht alleine einziehen.

Wie im Rausch fühlte sie sich dazu gedrängt eines nach dem anderen zu erledigen. Sie vereinbarte einen Termin mit dem zuständigen Makler, schrieb einen Zettel, den sie ans schwarze Brett der Universität hängen wollte, um Mitbewohner zu suchen. Zudem rief sie ein Umzugsunternehmen an und ließ alles einfach geschehen.

Nur um zu vergessen, zu verdrängen, was passiert war – der so merkwürdige Tod ihrer Eltern, die ganzen Umstände drum herum und vor allem der so beängstigende Vorfall mit ihrem Schuh, der einfach verschwunden war, nur um ein paar Meter weiter wieder aufzutauchen. Einfach alles. Es funktionierte scheinbar. Zumindest für diesen Augenblick. Jetzt wird alles anders, dachte sie. Auch wenn da diese Angst war, so große Angst, die schon immer ein ständiger Begleiter von ihr war. Das Verdrängen gelang ihr meist gut doch jetzt, wo alles so durcheinander geraten war, kannte sie nur ein Mittel um zu verdrängen und zu vergessen: Schnelle Entscheidungen. Und genau die traf sie.

 

 

Anisha wusste nicht wie viel Zeit verging, spürte nicht ob Tag oder Nacht war, spürte gar nichts mehr, nur diese Leere, bis es endlich so weit war.

Anisha ging schließlich fort, zog in die neue Wohnung, die sie sich einfach so gekauft hatte und wollte alles nur noch hinter sich lassen. Doch bereits auf dem Weg dorthin, spürte sie es wieder: dieses Gefühl beobachtet zu werden. Als würde sich in jedem Baum, in jeder Wand ein paar Augen befinden. Einmal dachte sie sogar, sie hätte tatsächlich menschliche Augen in einem großem Baum, in einem der stattlichen Gärten gesehen.

Die Wohnung hatte sie schnell eingerichtet und zwei der Zimmer bereits für ihre Mitbewohner vorgesehen. Sie hatte sogar schon ihren Wohnungsschlüssel dreimal nachmachen lassen (einmal als Ersatzschlüssel für sich, die anderen beiden für ihre Mitbewohner). Nie wieder wollte sie sich so leer und so alleine fühlen, wie zu der Zeit, zu der ihre Eltern noch gelebt hatten und vor allem nicht, wie in den Stunden nach der Nachricht ihres … Todes.

Anisha hatte auf dem Aushang, den sie ans schwarze Brett der Universität aufgehängt hatte, deutlich geschrieben: »Suche zwei Mitbewohner. Verlange keine Miete, nur Beteiligung an den Nebenkosten. Möglichst um schnelle Rückmeldung gebeten.«

Darunter hatte sie dann ihre Nummer und ihre neue Adresse angegeben.

Sie hatte sich hierfür Extra ein Wegwerf-Handy gekauft, da sie ahnte, wie viel Anrufe auf dieser Nummer schon bald womöglich reinkommen würden. Wenn es heißt: »Verlange keine Miete« bei einer Wohnung in dieser Lage …

Es ging dann noch schneller, als sie zu hoffen gewagt hatte. Kaum eine Stunde, nachdem sie den Aushang ans schwarze Brett der Universität gepinnt hatte, klingelte schon das Telefon:

»Hallo. Hier ist Phil Collar. Ich rufe wegen dem Aushang an. Wegen der Wohnung. Ist da noch ein Platz frei?«

Die Stimme klang zu ihrer Freude noch recht jung. Anisha lächelte, antwortet dann so ruhig, wie es ihre eigene Nervosität zuließ:

»Ja. Komm sofort vorbei, dann bist du einer meiner zwei neuen Mitbewohner.«

»Im Ernst? Und du willst wirklich keine Miete?«

Anisha seufzte. Es war ja klar, dass da Nachfragen kommen würden, dachte sie.
»Ja. Im Ernst. Und nein, es gibt an der Sache kein Haken. Die Wohnung ist völlig in Ordnung. Komm nur möglichst schnell vorbei, sonst vergebe ich den Platz an jemand anderen.«

Sie hörte, wie der Anrufer schon zu einer weiteren Frage ansetzen wollte, also legte sie schnell auf. Wenn ihn das nun verstörte, sollte er eben nicht kommen. Das ganze Unterfangen bereitete ihr auch so schon genug Unbehagen. Vor allem wenn sie daran dachte, dass sie mit den Menschen, die sich da meldeten, zusammenwohnen würde und dass diese Fragen stellen könnten. Aber vor allem, dass etwas Derartiges, wie diese Sache mit ihrem Schuh, noch einmal passieren könnte – sie wollte erst gar nicht daran denken.

Aber alleine wollte sie einfach nicht mehr sein. Nie wieder. Das konnte sie nicht, sonst würde sie nicht mit der ganzen Situation fertig werden, da war sie sich sicher.

Schon ging der zweite Anruf ein. Wieder meldete sich – zu ihrer Freude – eine noch recht jung klingende Stimme.

»Hey. Ich heiße Rachel Bolton. Bietest du wirklich ein Zimmer in deiner Wohnung an, ohne Miete? Wenn ja, würde ich gerne einziehen.«

Diese Rachel klang irgendwie seltsam, aber auch das störte Anisha nicht. Sie wollte nicht lange überlegen und aussuchen. Wenn sie zu ihr kommen würde, und sie sie sehen würde, würde sie sich letztendlich entscheiden.

»Ja. Wenn du dich beeilst und möglichst schnell vorbei kommst, kannst du einziehen.«

»Echt jetzt? Ok. Ich komme sofort.«

Anisha lächelte, als Rachel sofort auflegte. Sie stellte anscheinend nicht viele Fragen. Das würde ihr entgegen kommen.

 

 

Anisha beschloss schon einmal die Tür zu ihrer Wohnung zu öffnen, sodass sie das Treppenhaus und die Eingangstüre im Blick hatte. Ihre neue Wohnung lag im ersten Stock, außer ihr wohnte allerdings zum Glück bisher nur der Hausmeister in dem frisch renovierten Gebäude. Dieser bezog die Erdgeschosswohnung. Die Dachgeschosswohnung stand noch leer, sodass sie nicht allzu viele Fragen oder Begegnungen mit neugierigen Nachbarn haben musste. Da sie die Wohnung gekauft und nicht nur gemietet hatte, konnte sie auch hier einziehen lassen, wen sie wollte, da hatte sie sich zuvor auch nochmal extra beim Hauseigentümer diesbezüglich abgesichert.

Anisha stand eine Weile in der offenen Wohnungstür und wippte nervös hin- und her. Bisher hatte niemand mehr angerufen. Doch noch war auch keiner der beiden Anrufer aufgetaucht.

Sie wollte sich gerade enttäuscht in ihre Wohnung zurückziehen, um sich dort auf eine noch längere Wartezeit einzustellen, da hörte sie schon die Klingel. Sie betätigte den Öffner der Haustüre und sah wie ein großer, schlanker junger Mann mit grellen bunten Haaren das Haus betrat und ihr sofort überschwänglich entgegen kam und im Eiltempo die Treppen zu ihrer Wohnungstür emporstieg.

Oh je, dachte sie. Vielleicht sollte ich doch jemand anderen nehmen.

»Hallo. Ich bin hier wegen der Wohnung. Ich bin hier doch richtig, oder?«, schoss er auch schon los, kaum da er sie erreicht hatte.

»Ja. Ich bin Anisha. Bist du Phil?«, fragte sie leise.

»Ja«

»Gut, dann komm rein.«

Das musste sie ihn wohl nicht zweimal sagen, denn sofort schoss er an ihr vorbei und betrat ihre Wohnung.

Was tu ich hier nur?, dachte sie. »Nein. Denk nicht so viel drüber nach«, sagte eine andere Stimme in ihr. Es war definitiv nicht die Stimme ihrer Eltern.

»Wow!«, stieß Phil aus. »Und das gehört alles wirklich dir?«

»Ja. Das gehört wirklich mir. Ich zahle also keine Miete und du musst es auch nicht.« Sie versuchte zu lächeln, war sich aber sicher, dass es ihr nicht so richtig gelang.

Scheinbar bemerkte Phil nun doch, dass sie es nicht so gerne hatte, wenn er groß nachfragte. Sie sah, wie er sie musterte und dann schwieg. Zumindest vorerst.

»Das hier wäre dann dein Zimmer. Aber du kannst gerne alles andere mitbenützen«, sagte Anisha und wies dem immer noch ungläubigen und überdrehten Phil schließlich den Weg.

»Und ...«, setzte er an, da hörte Anisha erleichtert ein Klingeln, das ihn davon abhielt wohl schon wieder irgendetwas zu fragen.

»Ah. Ich hoffe, das ist die andere«, sagte sie leise, blickte kurz zu Phil, der nun deutlich weniger zuversichtlich schien. Sie ließ ihn einfach stehen und ging zur Türe.

Wieder betätigte sie den Öffner der Haustüre und nahm dieses Mal eine doch sehr junge Frau in Empfang. Sie musste wohl wie sie selbst gerade erst volljährig geworden sein. Die junge Frau blickte recht mürrisch drein und kam dann eher zögerlich die Treppen hinauf. Unpassend zu ihrem mürrischen Blick strahlte ihr Haar fast schon in einem güldenen Ton und ihre Augen waren so hell, dass Anisha kaum noch eine Blaufärbung ausmachen konnte.

Immerhin besser als Phil, dieser Punk. Die beiden und ich. Ob das was werden kann?, dachte sie. »Das wird schon«, hörte sie wieder diese andere Stimme in sich. »Sie sind beide etwa in deinem Alter und beide anscheinend auch etwas seltsam. Passt doch.«

»Bist du etwa die, die Mitbewohner sucht?«, brummte die junge Frau.

»Ja. Ich bin Anisha. Du musst Rachel sein, oder?«

Die junge Frau musterte sie misstrauisch.

»Genau. Hm. Hätte gedacht, du wärst älter.«

Als sie gemeinsam die Wohnung betraten - und sich Phil und Rachel das erste Mal trafen - kamen in Anisha weitere Zweifel auf.

Rachel schwieg erst einmal, als sie Phil und vor allem seine bunten Haare musterte. Sie wirkte mehr als skeptisch. Phil hingegen verzog nicht eine Miene und lächelte nur freundlich. Schnell wandte Anisha ihren Blick wieder ab.

»Zieht er auch hier ein?«, fragte Rachel schließlich, sichtlich bemüht nicht unfreundlich zu klingen. Anisha atmete tief durch, versuchte weiterhin, die wieder in ihr aufkommende Panik zu verdrängen und sagte:

»Wieso? Ist das ein Problem? Wenn ja, sag es gleich. Ich mag keinen Streit. Ich kann mir auch jemand anderen suchen. Da wird sich sicher wer finden.«

»Also von mir aus ist es kein Problem. Die Wohnung ist echt klasse, das Zimmer auch und du verlangst ja nicht mal Miete«, sagte Phil, der dabei etwas abwesend wirkte. Anisha spürte, wie er sie anstarrte. Es war ihr mehr als unangenehm, zumal Phil auch so gar nicht ihr Typ war. Sie versuchte daher wegzuschauen, seinen Blick zu ignorieren.

»Das Ganze ist also wirklich echt? Das alles gehört dir? Und du willst keine Miete? Dann bin ich auf alle Fälle dabei, ganz egal wer sonst noch einzieht. Zeig mir mein Zimmer«, sagte Rachel.

»Ok. Dann komm«, sagte sie und führte Rachel zu dem Zimmer neben Phils Zimmer. Diese beiden Zimmer waren quasi identisch, sodass Anisha nicht mit Beschwerden rechnete.

»Ah. Gut. Und darf ich die Küche auch mal benützen?«, sagte Rachel dann auch nur.

»Sicher. Genauso wie das Bad und das Wohnzimmer«, antwortete Anisha.

Rachel blickte sie erstaunt über all das an, stellte aber keine weiteren Fragen, worüber Anisha sehr dankbar war. Das brauchte sie aber auch deshalb nicht, weil Phil das wohl für beide mehr als genug übernahm.

»Entschuldige, dass ich frage, aber warum? Warum lässt du zwei Wildfremde einfach bei dir einziehen? In eine solche Wohnung, die – wenn ich dich richtig verstanden habe – dir ganz alleine gehört?«

»Ich bin Studentin. Ich bin allein in dieser riesigen Wohnung. Ich will Gesellschaft und ich weiß, wie schwierig es für manch anderen ist, eine Wohnung zu finden. Frag bitte nicht weiter, ja?«, sagte sie und vermied es weiterhin Phil anzusehen, schaute stattdessen nun auf den Boden.

»Verstehe.«

»Also. Willkommen ihr beide. Ich hoffe wir verstehen uns und ich hoffe ich brauche das hier nicht mehr«, sagte Anisha schließlich, zog das Wegwerf-Handy hervor und machte genau das, was der Name wohl schon sagte: Sie warf es demonstrativ in den Papierkorb, sehr zum Erstaunen oder Entsetzen ihrer beiden künftigen Mitbewohner, die sie erneut fragend anschauten. Oder so als wäre sie verrückt.

Sollen sie doch denken, was sie wollen, dachte sie. Sollen sie alle denken was sie wollen. Für einen weiteren Moment schaffte sie es damit, all ihre Sorgen und Ängste zu verdrängen, auch wenn tief in ihr etwas förmlich schrie, dass nichts in Ordnung kommen würde.

 

»Beobachtet und erwischt«

Umrisse im dunklen Licht,

sanfte Strahlen suchen,

decken auf die kleinste Schicht,

stumme Lippen fluchen.

Kreise ziehen schnelle Füße,

achten auf des Lampes Schein,

bitter kommt die harte Süße,

des drohend, finstren Pein.

 

 

Phil konnte sein Glück kaum fassen. Schon seit Wochen war er auf der Suche nach einer Wohnung gewesen, hatte das Internet durchforstet, etliche Leute angerufen, überall nachgefragt, doch einfach nichts für ihn Bezahlbares gefunden. Sicherlich, er hatte auch schon daran gedacht, neben dem Studium einen Job anzunehmen, doch auch diesbezüglich hatte er sich schwer getan - oder viel eher hatte ihm einfach nichts zugesagt.

Bis zu jenem schicksalshaften Tag, als er den Aushang am schwarzen Brett der Universität gesehen hatte. Er hatte es erst nicht glauben wollen, doch es war kein Scherz gewesen und es war gekommen, wie es eben gekommen war.

Nun saßen sie im Wohnzimmer. Abwechselnd starrte er seine künftigen Mitbewohnerinnen an. Die zwei waren wirklich hübsch, wenn auch jede auf ihre eigene Art und Weise. Sie waren beide, wie er selbst, noch recht jung. Passt doch alles, fand er.

Selbst beim Umzug wollte Anisha, so hieß die Besitzerin der Wohnung, helfen. Ja, die Besitzerin! Wer konnte in diesem Alter sich schon einfach mal so eine Wohnung kaufen, noch dazu eine so große und sicherlich teure? Vor allem, wer tat dies dann auch tatsächlich und ließ dann auch noch wildfremde einfach bei sich einziehen? So viele Fragen lagen ihm auf den Lippen. Doch Anisha schien nicht gerne Fragen zu beantworten.

Dennoch: Sie hatte irgendetwas an sich, was ihm sehr gefiel, ganz im Gegensatz zu Rachel, die ein bisschen zickig zu sein schien, doch auch mit ihr würde er sich abfinden. Wenn er schon in so einer Wohnung wohnen durfte und nicht einmal Miete dafür zahlen musste, würde er schon irgendwie mit ihr klarkommen. Zumindest, dachte er, kann man mit Rachel wahrscheinlich die besseren Partys feiern. Bei Anisha war er sich da nicht so sicher. Sie wirkte so … ängstlich.
Schließlich konnte er einfach nicht mehr anders und musste das Schweigen brechen:
»Verzeih mir, dass ich frage, aber wie bist du eigentlich zu dieser Wohnung gekommen?«

Anisha sah zu Boden, Rachel starrte ihn hingegen beinahe schon vorwurfsvoll an. »Was denkst du denn?«, fragte sie.

Anisha blickte auf. »Lass nur, Rachel. Meine Eltern … sind gestorben. Ich habe das ganze durch mein Erbe finanziert, o.k.?«

 

 

Jetzt war es also raus. Phil hatte sie dazu gebracht es auszusprechen. Anisha spürte, wie ihr die Tränen kamen und wandte sich von ihren beiden neuen Mitbewohnern ab. Alles was sie durch ihren Schnellschuss mit der neuen Wohnung und der sofortigen Annahme ihrer Mitbewohner verdrängen wollte, war wieder präsent. All die ungeklärten Fragen, auf die sie womöglich nie eine zufriedenstellende Antwort hören würde, all die Erinnerungen an ihre Mutter und ihren Vater, die sich wieder aufdrängten. Einfach zu viel. Sie sank in sich zusammen, verbarg den Kopf zwischen ihren Beinen und weinte.

»Na toll«, hörte sie Rachel murmeln.

»Hey sorry, tut mir leid. Wirklich. Mein Beileid«, sagte Phil schnell, Anisha meinte zu hören und zu spüren, wie Phil dann unruhig auf und ab ging.

Sie nahm das Ganze nur noch wie entfernt war, richtete sich wieder auf, wischte sich schnell die Tränen beiseite und starrte auf den ausgeschalteten Flachbildfernseher, der an einem der Wohnzimmerwände auf einem der neuen Möbel stand, die sie sich ebenfalls zugelegt hatte.

Als Rachel jedoch, die eher kühl und distanziert auf sie gewirkt hatte, zu ihr rückte und vorsichtig einen Arm um sie legte, blickte Anisha Rachel an und versuchte zu lächeln.

»Schon gut. Ich kann verstehen, warum er gefragt hat«, wisperte Anisha und fügte noch leiser hinzu. »Aber ich will nicht darüber reden.«

»Verstehe«, sagte Rachel nur.

Eine Weile saßen sie einfach so da.

 

 

Phil wusste nicht, was er nun tun sollte. Toll gemacht. Ganz klasse. Rachel, diese blonde Tusse, hat vollkommen recht. Warum hab ich nur mal wieder meine Klappe nicht halten können? Und nun ist es ausgerechnet auch noch Rachel, die sie tröstet, dachte er, ging immer noch unruhig auf und ab. Er hasste diese Marotte, doch in ihm staute sich immer so viel Energie auf und wenn er nachdenken musste, konnte er einfach nicht anders als zu laufen. Ich sollte vorsichtshalber mal hier raus und die beiden alleine lassen, dachte er.

»Ich würde dann schon mal ein paar von meinen Sachen holen, wenn ich immer noch hier einziehen darf, ja?«, sagte er so ruhig und gelassen wie er konnte.

Er sah wie Anisha aufblickte, ihre schmalen, braunen Augen wirkten so traurig, doch sie lächelte. Wenn auch nur kurz. Ihre langen braunen Haare fielen dürr, aber sanft über ihr Gesicht und bedeckten es etwas. Phil erkannte genau, wie sie sich scheinbar so versuchte von der Welt zu verstecken. Viele hätten Anisha wohl als gewöhnlich oder langweilig angesehen, doch er hatte sofort erkannt, wie schön sie eigentlich war. Noch sehr viel hübscher als Rachel.

»Aber sicher Phil«, sagte Anisha, die seinen Blick wohl bemerkt hatte und etwas beschämt wirkte. Schnell schaute er weg und beeilte sich die Wohnung zu verlassen. Da rief ihm Anisha hinterher. »Warte kurz. Ich hab hier noch was für dich.«

Ruckartig blieb er stehen und drehte sich um. Sie hielt einen Schlüssel in der Hand.

»Komm möglichst bald zurück, ja. Das ist jetzt deiner. Der passt auch unten an der Haustür.«

Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch und lächelte. »Hey, danke«, sagte er und dachte: Puh. Das ist ja nochmal gut gegangen. Dann verließ er die Wohnung, die nun auch seine sein sollte. Er konnte es immer noch nicht so recht glauben.

 

 

»Ph. Dieser Phil«, hörte sie Rachel vom Sofa verächtlich.

»Wie wäre es, wenn ich dir auch deinen Schlüssel gebe und du auch schon mal ein paar deiner Sachen holst? Ich würde jetzt gerne ein bisschen allein sein«, sagte Anisha leise und holte einen weiteren Wohnungsschlüssel, den sie nun Rachel überreichte.

Diese lachte kurz überrascht auf, zuckte dann mit den Schultern. »O.k., wie du meinst. Dann … danke. Ich beeil mich«, sagte sie knapp und ging.

Kaum da Anisha wieder allein in ihrer Wohnung saß, spürte sie wieder diese Angst. Dieses Unbehagen. Sie hatte sowieso vorgehabt, einen kleinen Spaziergang einzulegen, ehe die beiden wieder kommen würden. Sie musste einfach mal wieder raus.

Doch das Unbehagen blieb auch noch, als sie die Wohnung verließ und die Straße entlang ging. In ihr stieg wieder das Bild von ihrem Schuh auf, der so plötzlich verschwunden und wieder aufgetaucht war. Das seltsame Gefühl, das sie dabei in ihren Händen verspürt hatte und vor allem die Angst. Die Angst, dass sie jemand dabei gesehen hatte oder noch schlimmer: dass sie langsam verrückt wurde und sich das Ganze einfach nur eingebildet hatte.

Sie bog in eine kleiner Seitenstraße ab, in Richtung Stadtpark. Eine Weile dachte sie, sie hätte Ruhe. Eine Weile dachte sie, alles wäre wirklich Einbildung, Paranoia, was auch immer.

Sie musste schon einige Zeit unterwegs sein und wollte gerade umkehren, da meinte sie bei einem alten Baum am Rande des Stadtparks wieder diese Augen zu sehen. Augen, die sich scheinbar funkelnd inmitten des Baum befanden.

Sie sah sich um, doch seltsamerweise war niemand sonst in der Nähe. Bis sie dann auch noch einen Schatten um die Ecke huschen sah. Erschrocken war sie stehen geblieben und sah mit Entsetzen wie aus jenem Baum, in dem sie meinte Augen gesehen zu haben, auf einmal ein weiterer Schatten hervortrat. Ja, eine Gestalt. Es sah aus, als würde sie sich einfach aus der zugegebenermaßen morschen Rinde herauslösen. Als wäre er einfach ein Teil jener Rinde gewesen, die sich nun zu einem Menschen formte.

Anisha entwich ein entsetzter Schrei, sie drehte sich um und rannte, rannte zurück in Richtung ihrer Wohnung.

 

 

Rachel hatte schon die ganze Zeit geahnt, dass mit dieser Wohnung und dieser Anisha etwas nicht stimmte. Die ganze Sache wäre auch zu schön gewesen, hätte sie wirklich gar keinen Haken.

Das erste, was sie gestört hatte, war dieser Phil. So überdreht, so nervtötend, fast wie ein Teenager und nicht wie ein Mann, dabei war er bestimmt älter als sie. So sah er zumindest aus. Aber sie hätte sich wohl irgendwie mit ihm arrangieren können, immer hin konnte sie wirklich bei Anisha wohnen, ohne Miete zu zahlen.

Die Geschichte mit dem Tod der Eltern und dem Erbe mochte sogar stimmen, doch Rachel spürte sofort, dass auch da mehr dahinter steckte. Sie kannte die Vorgehensweise der Personen, von denen sie sich unlängst distanziert und versteckt hatte. Sie fühlte es einfach tief in sich: dahinter steckten die Verfluchten, zu denen sie leider auch gehörte, irgendwie zumindest.

So lange hatte sie es geschafft sich zu verstecken, doch als sie den Arm um Anisha gelegt hatte, um diese zu trösten, hatte sich ihr Verdacht bestätigt. Sie hatte die Energie in dem Mädchen gespürt, das auf keinen Fall älter als sie selbst sein konnte. Sie sah ja nicht einmal richtig volljährig aus, obwohl sie das ja wohl war, sonst hätte sie diese Wohnung nicht kaufen können. Rachel hatte erkennen müssen: Auch Anisha war eine von Ihnen, von den Verfluchten. Wahrscheinlich wusste sie es noch nicht einmal.

Umso schlimmer, dachte Rachel. Doch es gab jetzt kein zurück mehr. Sie hatte den Wohnungsschlüssel bereits angenommen, hatte die Wohnung akzeptiert und sie kennengelernt. Sie war so nett zu ihr gewesen. Und auch wenn Anisha versuchte ihre Schönheit zu verbergen, Rachel sah ihr Potential und ihr gefiel, was sie sah. Anisha gefiel ihr sogar besser, als sie zeigen durfte.

Ich muss ihr vom Fluch erzählen. Ich muss es ihr sagen, das bin ich ihr schuldig. Ich muss zurück und ich muss mich beeilen, sonst finden sie mich auch. Falls es nicht schon zu spät ist, dachte sie.

Sie wollte gerade zum Uni-Parkplatz gehen, auf dem ihr altes, klappriges Auto stand, da sah sie ihn. Aus einem dürren Baum, der wohl einem der Parkplätze Schatten spenden sollte, löste sich ein Schatten, der schnell zu einer Gestalt wurde: eine große Frau mit kurzen Haaren und funkelnder, heller Haut. Rachel erkannte sie sofort. Es war eine Kundschafterin. Eine der Personen, die schon seit Jahren nach ihr suchten.

Wusste ich es doch. Ganz große Klasse, dachte Rachel, fluchte innerlich. Der Weg zu ihrem Auto war ihr somit verbaut. Hastig drehte sie sich um und begann zu rennen, flehte, dass sie es schaffte, die Kundschafterin irgendwie abzuhängen und die Wohnung noch rechtzeitig zu erreichen. Dann musste sie Anisha noch irgendwie versuchen zu überzeugen, mit ihr zu gehen. Weg. Weit weg von hier. Und das auch noch möglichst schnell. Mir bleibt wohl nichts anders übrig, als sie zu entführen, ehe es noch diese Kundschafterin tut, dachte sie.

 

 

Keuchend erreichte Anisha das Haus, schloss zuerst die Haustüre auf - die zum Glück über eine zentrale Schließanlage verfügte - und rannte dann die Treppen hinauf zu ihrer Wohnung. Zu ihrer Überraschung schien dort Phil vor der Wohnungstüre auf sie zu warten.

»Ich hab dir doch einen Schlüssel gegeben«, keuchte sie.

Phil blickte sie verwirrt an. »Ja schon, ich habe auch meine Sachen bereits in die Wohnung gestellt, aber als du nicht da warst und nicht aufgetaucht bist, da ich hab mir irgendwie Sorgen gemacht. Ich weiß, klingt verrückt, ich kenne dich ja nicht. Hättest ja auch einfach einkaufen oder so sein können, musst mir ja nicht erklären wann du wohin gehst. Aber irgendwie hatte ich bei deiner Abwesenheit ein schlechtes Gefühl. Ich wollte gerade raus und ...«

Er hielt kurz inne und unterbrach seinen Redefluss, musterte sie erneut eindringlich, nun sichtlich besorgt.

»Anscheinend lag ich mit meinem Gefühl ja nicht so ganz falsch, oder? Du bist ja ganz außer Atem. Und ich glaube kaum, dass du in den Klamotten Sport gemacht hast, also was ist passiert? Was ist los? Ich weiß, wir kennen uns kaum, aber du kannst mir vertrauen. Ich will dir helfen, wirklich. Du warst so großzügig ...«
Anisha stöhnte. Dieser Phil nervte wirklich etwas, zudem schaute er sie ständig so an… Als würde er auf mich stehen, dachte sie. Nein. Das ist doch lächerlich. Und auch wenn er ganz nett schien … er war und ist definitiv nicht ihr Typ.

»Ach. Es ist nichts. Ich … dreh nur langsam durch«, flüsterte sie leise, bemühte sich zu lächeln.

Ehe Phil antworten konnte, ging schon wieder der Schlüssel im Schloss der Haustüre. Erschrocken drehte Anisha sich um. Rachel kam zur Tür hereingestürmt, rannte die Treppe hinauf auf sie zu.

»Wir müssen sofort von hier verschwinden!«, schrie sie.

»Warum?«, stieß Anisha aus.

Doch Rachel packt sie zu ihrem Entsetzen nur grob am Arm und zog an ihr. »Tut mir Leid. Aber du musst jetzt wirklich mitkommen«

»Lass sie los!«, schrie Phil, wollte dazwischen gehen, da spürte Anisha wie Rachels Griff um ihren Arm sich noch verstärkte und von Druck in einen stechenden Schmerz umwandelte. Entsetzt schrie Anisha auf, wollte sich irgendwie lösen, doch sie schien die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren, merkte nur noch, wie sie zu zucken begann, dann wurde alles finster um sie.

Sie konnte nicht lange ohnmächtig gewesen sein, denn als sie mühevoll die Augen öffnete, erkannte sie sofort, dass sie sich noch in der Straße befanden, in der sie wohnte.

Sie spürte, wie jemand sie schwer schnaufend auf dem Gehweg entlang schleifte. Dann hörte sie wütende Stimmen. Sie erkannte schließlich Phil und Rachel.

»Was zur Hölle war das denn?«, schrie Phil. »Bist du wahnsinnig? Was hast du mit ihr gemacht? Was hast du mit ihr vor?«

»Hey! Ich hab doch gesagt, lauf mir nicht nach! Und versuch ja nicht nochmal jemanden anzurufen! Willst du, dass sie noch mehr leidet?«, schrie Rachel. Keuchte.

»Warum Rachel? Ich hab dir doch nichts getan … Was ist nur los mir dir? Was geschieht hier nur?«, murmelte Anisha benommen, versuchte sich nicht länger schleifen zu lassen, wollte sich stattdessen anständig hinstellen. Es gelang ihr so halbwegs. Sie blickte nun Rachel genau in ihre so hellen, blauen Augen.

»Ich hab dir doch gesagt, wir müssen weg hier. Sie wollen dich. Dich und mich. Ich kenne hier in der Nähe einen Platz, wo wir uns kurz verstecken und ausruhen können«, sagte sie, klang sehr erschöpft, stöhnte bei jedem Schritt auf, drängte sie aber weiter zu gehen. Rachel hielt sie immer noch am Arm fest. Ihr Griff wirkte zwar längst nicht mehr so stark, dafür schmerzte die Stelle, an der Rachel sie hielt, gewaltig. Was hat sie mit mir nur gemacht?, dachte Anisha.

Anisha fiel wieder ein, wie sie selbst scheinbar ihren Schuh … weggebeamt hatte. Irgendetwas in ihr, sagte ihr, dass das alles damit zusammenhing. Sie konnte allerdings beim besten Willen nicht begreifen wie.

Sie bewegte langsam ihren Kopf, versuchte nicht mehr, sich aus Rachels Griff zu befreien. Sie sah zu Phil. Dieser war inzwischen endlich stehen geblieben.

Dann schrie Rachel plötzlich entsetzt auf und ließ sie urplötzlich los, sodass Anisha beinahe auf die Straße fiel.

Alles geschah so schnell, dass Anisha es erst gar

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7456-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /