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Vorwort

Alle Ereignisse, Charaktere und Orte sind fiktiv.

Falls Verbindungen zu realen Personen bestehen sollten, so sind diese nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Das System

Draht um Draht,

gewunden um alles,

Grad um Grad,

verschmolzen zu allem,

Naht um Naht,

verbunden zu allem

und jedem – dem Ganzen.

 

Der Chip in ihrem Handrücken begann seltsam zu kribbeln und zu brennen. Nakoma strengte sich nur noch mehr an, spürte das Pochen in ihrem Kopf einsetzen. Einerseits musste sie aufpassen, dass sie sich nicht übernahm, aber andererseits musste sie präzise vorgehen. Sie nahm daher ihre andere Hand zur Hilfe, presste sie auf die Stelle mit dem Chip und ließ ihre seltsame Kraft so gezielter fließen. Dieses Mal musste sie die Werte, die das Teil ausspuckte, so verändern, dass diese nicht zu sehr dem idealen Durchschnitt entsprachen, denn auch das würde mit der Zeit auffallen. Und wenn es etwas gab, dass man in dieser Stadt nicht durfte, war es aufzufallen.

So oft hatte sie davon geträumt, von hier zu verschwinden. Weglaufen. Laufen, nur laufen. Doch immer schwang auch dieser Gedanke mit: Was wenn es überall so ist wie hier?

»Nakoma! Was treibst du denn so lange? Du kommst noch zu spät! Der Tag heute war schon schlimm genug«, rief ihr Vater, als er bemerkte, dass sie sich immer noch nicht auf den Weg gemacht hatte.

»Ich geh ja schon«, brummte sie, ignorierte das Hämmern in ihrem Kopf, warf sich hastig ihre braune Lederjacke über und lief, wie sie immer lief: schnell und gleichmäßig. Wenn es nach ihrem Vater ging, würde sie Sportlerin werden, Kämpferin oder Läuferin. Ihre Mutter hielt hingegen gar nichts davon und wollte, dass sie etwas Anständiges machte. Nakoma wollte jedoch nichts davon tun, weder bei ihrer Mutter auf der Rohstoff-Farm arbeiten, noch ihres Vaters wegen an irgendwelchen Wettbewerben teilnehmen.

Sie wollte am liebsten ihre besondere Gabe nutzen, von der bis jetzt nur ihre Freundin etwas wusste und dabei musste es bleiben.

Die geraden Straßen und eckigen, kalten Häuser der Stadt zogen schnell an ihr vorbei. Alles war hier vernetzt zu einem einzigen gewaltigen System, ja selbst die Straßen, die bei jedem Schritt und jeder Bewegung Strom erzeugten, wenn auch nur in winziger Menge. Eigentlich stände ihr ein Anteil zu, soviel wie sie auf diesen Straßen schon gelaufen war und damit für das Energiewerk Strom erzeugt hatte. In jenem gigantischen Energiewerk wurde nicht nur Energie erzeugt, sondern auch aus anderen Orten erzeugte Energie gespeichert und verteilt.

Es dauerte nicht lange, da hatte sie die Mitte der Stadt erreicht, die Zentrale, das Zentrum des Grauens. Ein riesiges Gebäude, in dem wirklich fast alles lag und das besser gesichert war als die größte Bank, selbst besser als das hiesige Energiewerk.

Sie musste mehrere Schalter mit Wachen passieren und die schienen sich beim Auslesen ihres Chips immer besonders viel Zeit zu lassen. Sie sah genau das Misstrauen in den Augen der Wachen. Die ahnten sicher etwas und das war einfach nicht gut.

Sie hoffte, dass es funktioniert hatte und ihre Werte etwas anders sein würden als sonst. Nicht so normal. So durchschnittlich. Daher hatte sie bei ihrer Manipulation versucht den Bereich, der ihre Fitnesswerte zeigte, dieses Mal in Ruhe zu lassen.

»Du bist spät dran«, brummte die Frau, die an der letzten Kontrollschranke saß - die wohl einzige weibliche Wache der Zentrale. Die Frau packte Nakoma am Handgelenk und schob ihre Hand gewaltsam unter den Scanner. Wieder piepste es einmal kurz und grünes Licht leuchtete auf, als der Scanner den Chip unter ihrer Haut erfasst hatte.

»Hey! Ich bin immer noch pünktlich. Kein Grund gleich grob zu werden«, murmelte Nakoma, sah den strengen missfallenden Blick der Wächterin, die sie schließlich passieren ließ.

Nakoma atmete noch einmal tief durch, ehe sie auf die gigantische Tür des mächtigen Betonklotzes vor ihr zutrat.

 

Innen herrschte wie immer ein einziges Gewusel. Obwohl sie – wie alle – schon häufig hier gewesen war, musste sie sich immer noch hier und da am Schilderwald orientieren, der einzige Weg in diesem verwinkelten Irrgarten aus Gängen sich zurecht zu finden. Das kam eben davon, wenn man meinte, man müsste alle wichtigen Organe des Systems dieser Stadt – mit Ausnahme vom hiesigen Energiewerk - in einem zentralen Gebäude versammeln. Nur in der Tür konnte man sich nicht irren, denn eine Tür, durch die man nicht gehen sollte, würde verschlossen bleiben.

Auch dieses Mal wäre Nakoma beinahe auf die falsche Tür zugelaufen.

Doch ein seltsamer, riesiger Mann, der soeben heraustrat, zeigte deutlich auf eine andere Tür ein paar Meter weiter, gerade so als wüsste auch er genau darüber Bescheid, warum sie hier war. Bei all den Kameras und der Überwachung würde es sie nicht verwundern.

So kam sie gerade noch rechtzeitig zu ihrem Termin mit dem Ausleser - oder eher der Ausleserin – denn normalerweise bediente die teuflische Maschine eine Frau.

Als Nakoma den Ausleseraum betrat – ein kühler, metallischer Raum mit einer seltsamen elastischen Liege und eben jener teuflischen Maschine – blaffte die Ausleserin sie schon an: »Das war knapp. Nächstes Mal kommst du eine Minute früher sonst gibt es Ärger!«

»Wenn Sie meinen«, brummte Nakoma, während sie sich auf die Liege legte und sofort das vertraute unheilvolle Kribbeln ihres Körpers fühlte, noch bevor die Ausleserin das Teufelsgerät zu ihrem Arm führte.

»Na, ist heute wieder zufällig alles so wie es sein sollte? Alles dem idealen Durchschnitt entsprechend? Ich komme schon noch hinter dein Geheimnis. Irgendwann. Wirst schon sehen.«

»Ich verberge nichts«, sagte Nakoma, schaute der Ausleserin in die eiskalten blauen Augen. Diese verzog keine Mine, auch wenn Nakoma meinte ein kurzes Grinsen aufblitzen zu sehen, als die Ausleserin ihren Arm packte und in die Metallschiene presste, die an dem Teufelsgerät hing.

Das Kribbeln ihres Körpers nahm zu, wie auch der Druck in ihrem Arm. Alles begann zu vibrieren.

Der ganze Vorgang kam Nakoma wie immer viel länger vor, als er vermutlich war. Doch auch die Ausleserin war ungeduldig wie eh und je, klopfte mit ihren Fingern gegen den großen Bildschirm des Teufelsgerätes.

Dann tauchten auch schon die Werte auf. Angespannt starrte Nakoma auf dem Bildschirm.

»Hm. Die Benimmwerte – normal. Die Leistungswerte im Bereich Schule – normal...«, begann die Ausleserin ihren üblichen Vortrag aller relevanten Werte herunterzubeten. Doch dann hielt sie kurz inne und starrte Nakoma wieder eindringlich an, als wolle sie ihre Gedanken lesen. »Nanu? Eine Veränderung? Doch nicht wie immer alles Durchschnitt? Erstaunlich. Diese Fitnesswerte...«

»Wieso? Ich hab in letzter Zeit sehr gut trainiert.«

»Hm. Ich schätze, das muss ich wohl so hinnehmen. Ich werde dem Admin dennoch die Veränderung übermitteln. Vermutlich wirst du noch einmal davon kommen, junge Dame. Aber sei dir nicht zu sicher. Ich weiß, dass mit dir irgendetwas nicht stimmt. Ich hab ein Gefühl dafür. Ich werde es schon noch beweisen.«

»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Nakoma, starrte der Ausleserin erneut in die Augen, die so voller Misstrauen waren, zog ihren Arm aus der Metallschiene, rieb ihn sich kurz, stand auf und verließ den Raum.

Mit gemischten Gefühlen verließ sie schließlich auch die Zentrale und machte sich auf den Heimweg. Es hatte zwar alles so funktioniert, wie sie sich das vorgestellt hatte, aber

diese Veränderung in ihren Werten würde nun doch auch Aufsehen erregen, ob mehr oder weniger als wenn sie alles so wie sonst auch gemacht hätte, war die Frage.

Es blieb ihr nichts anderes als abzuwarten. Sie seufzte, hob ihren Arm an den Türscanner und die Türe ihres Zuhauses öffnete sich nach kurzem Piepen.

 

Anstrengung

Das Rad hakt, nicht rund,

das Seil spannt sich wund,

der Kopf sagt: »Ok«,

der Körper: »oh weh«,

das Bein sagt: »ich geh«,

der Arm sagt: »ach nee«,

der Strom fließt, ist leer,

und alles ist … zu sehr.

 

Mit mulmigen Gefühl schlurfte Nakoma an den Küchentisch. »Ihr Abendessen ist fertig zubereitet«, ertönte die blecherne Stimme des Serviceroboters, der beinahe in jedem Haus herum eierte und quasi den ganzen Haushalt schmiss, sofern man ihn richtig einstellte und daran dachte, ihn hin und wieder zu überprüfen, denn auch er konnte mal ausfallen oder kaputt gehen oder seine Arbeit nicht so tun, wie man es sich vorstellte.

Nakoma war das Ding unheimlich, aber eigentlich egal, denn sie durfte sich sowieso nur am Wochenende hier im Haus aufhalten. Die restlichen Tage musste sie, wie die meisten anderen unter 18, in dem hiesigen Internat verbringen. Ihre Eltern hielten sich auch kaum im Haus auf. Eigentlich gehörte so das Haus mehr dem Roboter als Ihnen.

Umso mehr war sie überrascht, als die typischen Töne für das Öffnen der Tür ertönten, die Tür aufflog und ihr Vater hereingestürmt kam. So wie er aussah, hatte er bestimmt schon von ihren Ergebnissen gehört, erfuhr er doch immer als einer der ersten, wenn es irgendetwas für ihn interessantes gab. Er bezog diese Informationen angeblich von einem Bekannten – dessen Namen er ihnen nie gesagt hatte – der als Organisator für das System arbeitete.

»Gut, dass ich es noch rechtzeitig geschafft habe. Ich hatte soeben einen Anruf von Mr. Donald. Er hat mir von den tollen Ergebnissen deines Auslesens berichtet, da ist er sogar meinen Bekannten noch zuvorgekommen. Deine Mutter kommt auch gleich. Heute essen wir endlich mal wieder alle zusammen, ja?«, schoss er los und lächelte. So fröhlich hatte Nakoma ihn noch nie erlebt.

Sie selbst hingegen freute sich kein bisschen darüber. Das war ja noch schlimmer, als sie gedacht hatte: Wenn Mr. Donald, der Internatsleiter, Bescheid wusste, wusste es bestimmt schon das ganze Internat. Andererseits: Wären all ihre Werte wie immer gewesen, hätte sie die sowieso schon misstrauische Ausleserin erst Recht in Alarmbereitschaft versetzt und das wäre wahrscheinlich das schlimmere Szenario gewesen.

Wie aufs Kommando kam auch schon ihre Mutter. Auch sie schien es eilig zu haben.

»Ich verstehe nicht, warum ihr so einen Wirbel macht«, brummte Nakoma, schaute ihre Eltern erst gar nicht mehr an, setzte sich an den Tisch und aß, was der Roboter ihr aufgetischt hatte. Es schmeckte leider wie so oft: irgendwie etwas lieblos. Aber keiner wollte sich die Mühe machen selbst zu kochen, auch sie selbst nicht.

»Verstehst du denn nicht, was das für eine Chance für dich ist? Jetzt, wo du so gute Werte hast, wird dich das Sportteam des Internats förmlich anflehen, bei ihnen mitzumachen. Und dann steht schon sicher bald einer Karriere nichts mehr im Weg, denn deine anderen Werte sind ja zumindest auch im Rahmen. Du hast nur noch ein Jahr Zeit, ehe du dich für etwas entscheiden musst, denk daran. Das ist deine Chance!«

Nakoma zuckte nur mit den Schultern, aß stumm weiter.

»Hallo Nakoma, übrigens. Freut mich auch, dich mal wieder zu sehen«, sagte ihre Mutter. Nakoma reagierte weiterhin nicht. Wie so oft. Sie wollte einfach weg von hier. Nicht hier sein. Auch nicht im Internat. Irgendwo anders hin. Raus aus dieser verfluchten Stadt. Das war ihr Traum, aber von dem wollte und durfte ja keiner wissen.

»Weißt du, dein Vater hat womöglich doch recht. Vielleicht liegt wirklich deine Zukunft im Sportbereich. In anderen Bereichen ist sicher mehr zu verdienen, aber die Jobs sind rar, wie du weißt. Und wenn du in einem Bereich so gut bist, wie anscheinend im Sport, musst du zuschlagen, sonst endest du wie dein Onkel.«

Jetzt schaute Nakoma auf. Bemerkte wie ihr Vater ihre Mutter finster anstarrte. Ja, ihr Onkel, dessen bloße Erwähnung schon verboten war. Er hatte bei einem der vielen Proteste gegen die Technisierung teilgenommen, die es schon bei Bekanntgabe der Pläne, in und um die Stadt herum gegeben hatte . Er hatte dadurch, wie viele andere auch, seinen Job verloren, war bei den Aussätzigen – den Verstoßenen außerhalb der Stadt - gelandet und kam letztendlich um.

»Weißt du, er lag vielleicht gar nicht so falsch. Wenigstens war er frei«, murmelte Nakoma.

»WAS? Sag das nicht noch einmal. Denk das nicht noch einmal, junge Dame!«, brüllte ihre Mutter. Ihr kamen sogar die Tränen.

Vater schüttelte nur den Kopf, sichtlich enttäuscht. »Was ist bloß los mit dir? Warum bist du nicht ein bisschen dankbarer für das, was du hast: für die Sicherheit, das Dach über dem Kopf und die gute Bildung, die dir zuteil wird? Warum wehrst du dich so gegen das Talent, das dir gegeben ist? Was ist so schlimm an einer Sportlerkarriere? Ich hab dich doch laufen sehen. Du läufst doch gerne.«

Nakoma seufzte. Jetzt brach es aus ihr heraus. »Ja. Das tue ich. Aber doch nicht für Geld. Doch nicht unter Druck und mit jemandem, der mich permanent anschreit und drängt mein Bestes zu geben, wie in diesem Trainingscenter, in dem ich auch schon diese Kampfstunden hatte. Sicher hat mir das auch Spaß gemacht und ja, ich war auch beim Kämpfen eine der besten. Aber das Ganze drum herum … Du weißt ja nicht, was man sich über die Sportteams im Internat erzählt, Vater, oder? Dieser Leistungsdrill, das Updaten, wie sie es nennen. Die noch heftigere Überwachung mit sämtlichen Fitnesstreckern rund um die Uhr und täglichen Terminen bei irgendwelchen Sport-Ärzten, nein Danke!«

»Ach du bist doch einfach nur faul. Faul und undankbar«, mischte sich ihre Mutter ein.

»Deine Mutter hat Recht, weißt du? Ich bin echt enttäuscht von dir. Ich hoffe, du bedenkst die ganze Sache noch einmal und kommst zur Vernunft«, brummte Vater.

Ohne weiter auf ihre Eltern zu reagieren, schnappte Nakoma sich ihre Jacke und ihre Fransen-Tasche und verließ das Haus.

Es wurde höchste Zeit zum Internat zurück zu gehen. Doch auch dort, so hatte sie das Gefühl, würde sie etwas Schlimmeres als sonst erwarten.

 

Sie sollte Recht behalten. Kaum dass sie den von Architekten völlig verunstalteten Gebäudekomplex betrat, schaffte sie es gar nicht erst auf ihr Zimmer, ehe sie schon Brown, diesem Trottel und seinem jämmerlichen Gefolge über den Weg lief. Dieser aufgeblasene Muskelprotz war Captain des Footballteams und hatte außer seinen Muskeln nichts Brauchbares. Breitbeinig stellte er sich ihr in den Weg.

»Sieh an. Unsere Indianerin ist von der Jagd zurück gekehrt.«

Von seinem Gefolge erntete er zustimmendes Gelächter.

Sie starrte ihn nur böse an. Nicht provozieren lassen, dachte sie, merkte aber gleich, wie es ihr nicht gelang sich zusammenzureißen. Die Wut in ihr auf ihn war zu groß. Wütend starrte sie ihn an, darauf bedacht ihn mit ihren Gedanken gegen die Wand zu pfeffern. Ein weiterer Teil ihrer seltsamen Gabe: Telekinese. Gegenstände und Personen mit ihren Gedanken bewegen.

Als sie ihren Arm hob, schaffte sie es gerade noch so zu tun, als würde sie den Muskelprotz wegschucken, was sie normalerweise wahrscheinlich nicht geschafft hätte, trotz ihrer Kampferfahrung. Da spürte sie schon, wie ihre Wut sich entlud, wie ihr Körper zu kribbeln begann und ihr Kopf innerlich bebte, wie all ihre Kraft durch sie floss und ihren Arm verließ. So viel Kraft. Zu viel Kraft.

Brown flog auch prompt im hohen Bogen mit einem gewaltigen Rums gegen die Wand. Sein Gefolge eilte zu ihm und blickte Nakoma wütend an. Sie rannte hastig weiter. Rannte gegen einen heftigen Schwindel und die Kopfschmerzen an, wusste sofort, dass sie sich übernommen hatte. Jeder Einsatz kostete Energie, hatte Konsequenzen und dieses Mal würden sie besonders gravierend sein, das wurde ihr sogleich bewusst.

»Das kann doch nicht sein … Mit der stimmt doch was nicht.«

»Achtung sonst schießt sie noch einen Pfeil auf dich!«, hörte sie noch das Gefolge hinter sich rufen, wie im Nebel. Es sollte wohl witzig sein. Eine weitere erbärmliche Anspielung auf ihre äußerliche Erscheinung, doch jetzt klangen sie einfach nur unsicher.

Als sie keuchend ihr Zimmer betrat, fluchte sie innerlich. Sie taumelte. Ihr Kopf dröhnte. Schwäche machte sich breit. Zudem wurde ihr erst jetzt bewusst, was sie noch alles damit riskiert hatte : Die Flure wurden überwacht, wie fast alles überwacht wurde. Auch wenn es so aussah, als würde sie den Trottel gestoßen haben, würde sie bestimmt mächtig Ärger bekommen. Erst recht wenn Brown und sein Gefolge sie zusätzlich belasteten. Sie konnte nur hoffen, dass wenigstens ihre Gabe verborgen bleiben würde, sonst würde die Hölle über sie einbrechen.

 

Auf ihrem Zimmer wartete schon ihre einzige Freundin an diesem verfluchten Ort, die zufällig auch ihre Mitbewohnerin war und so ziemlich als einzige über sie Bescheid wusste. Ihr konnte sie trauen, da war sich Nakoma sicher, verbarg ihre Freundin doch auch etwas. Taumelnd hielt Nakoma sich am Türrahmen fest.

Tamira starrte sie schon beinahe wissend an. Musterte sie neugierig. »Hey. Hm, du siehst aus, als hättest du Ärger gehabt. Geht's dir gut?«

Nakoma sah die Wände schon näher kommen, alles begann sich zu drehen, ihre Beine zitterten. »Allerdings. Gewaltigen Ärger«, brachte sie hervor.

»Was hast du angestellt?«

»Ich hab mich mit Brown angelegt. Auf dem Flur. Vom gestrigen Auslesen ganz zu Schweigen.«

»Oh«, hörte sie Tamira noch sagen, dann knickten Nakoma schon die Beine weg, der Boden näherte sich bedrohlich schnell, denn Aufschlag spürte sie schon gar nicht mehr.

 

»Nakoma? Nakoma?«, ertönte eine Stimme über ihr. Jemand schlug sanft gegen ihre Wange, jemand, der ganz in schwarz gehüllt schien.

»Tamira, bist du das?«

»Ja..., warte… ich hol sofort Hilfe!«

»Nein. Nein!«, schrie Nakoma, war sofort wieder hellwach, setzte sich auf, ignorierte den Schwindel und zog sich Richtung Bett. »Ich hab mich nur etwas … übernommen. Sie würden Fragen stellen. Untersuchungen anstellen. Nein, das geht nicht. Das weißt du doch«.

»Hm. Hexenschwester. Ich weiß.«

Nakoma grinste. »Nenn mich nicht so. Du bist hier die einzige Hexe, klar?«

Sie war bisher auch die einzige, die Nakoma kannte, die wie sie selbst scheinbar übernatürlich begabt war. Lange hatte Nakoma es nicht glauben, nicht wahrhaben wollen, dass es etwas derartiges gab. Erst recht nicht in dieser Stadt, die so voller Technik und Wissenschaft steckte.

Tamira half ihr sich ins Bett zu legen. Nakoma blockte immer wieder ihren Arm ab.

»Es geht schon. Das schaff ich schon noch allein«, murmelte sie.

»Hm. Na klar. Pass auf!«, kicherte Tamira, murmelte dann etwas, starrte sie an. Ihre so dunklen, leeren Augen begannen seltsam zu schimmern.

»Du wirst doch nicht... Wage es ja nicht!«, stieß Nakoma hervor, alles tat ihr weh, so schwach. Doch alles wich - wich bleierner Müdigkeit. Tamira trat neben sie, berührte sie sanft auf der Stirn. Nakoma spürte genau wie eine gewisse Energie ihren Kopf erreichte. Tamiras lange, rabenschwarze Haare vermischten sich mit ihren eigenen zu einer einzigen dunklen Wolke, kitzelten ihr - wie die seltsame Energie - über die Haut, nach und nach wurde alles um sie unklar. Sie war so schrecklich müde.

»Das ist der einzige Fluch, den ich kenne, der mir nicht viel abverlangt und der relativ unbedenklich ist. Du brauchst definitiv erst einmal Ruhe.«

Dann senkte Tamira erneut ihre Stimme, verfiel wieder in Gemurmel, doch dieses Mal hörte Nakoma sie genau:

»Du wirst schlafen, schlafen, bis du dich erholt hast und deine Kraft zurückkehrt. Schlafen, schlafen, schlafen. Somnum-moe, potentia tergum – toe malosi«

 

Nakoma blinzelte. In ihrem Zimmer war es hell. So hell. Stöhnend hielt sie sich die Hand vor die Augen. Was ist passiert? Wie spät ist es?, dachte sie, fuhr ruckartig hoch. So wie die Sonne durchs Fenster schien … Nein, nein. Ich darf nicht zu spät kommen. Nicht noch weiter auffallen. Verzweifelt versuchte sie sich daran zu erinnern, was passiert war. Denn irgendetwas war passiert, das spürte sie sofort.

»Tamira?«, murmelte sie. Doch Tamira schien nicht da zu sein.

Eilig zog sie sich an, rückte ihren lockeren, breiten Gürtel zurecht und hastete aus ihrem Zimmer. Als sie auf den Flur trat, war dieser wie ausgestorben. Der Unterricht muss längst angefangen haben. Na toll, dachte sie.

Seufzend und mit mulmigen Gefühl machte sie sich auf den Weg zur Internatszentrale, wo sich das Sekretariat und das Büro des Leiters befand. Sie musste wohl beichten, dass sie verschlafen hatte. Mit viel Glück kam sie dann mit einem negativen Eintrag in ihrer digitalen Akte und ein, zwei Stunden Nachsitzen davon, auch ihre Benimm-Werte würden absacken, was alles zusätzlich verkomplizieren würde.

Als sie sich der Zentrale näherte, kam plötzlich ein Erinnerungsfetzen wieder, es brannte sich schmerzhaft in ihren Kopf ein, in ihr plötzlich so löchriges Gedächtnis: Ja, sie hatte ihre Fähigkeiten eingesetzt. Gegen irgendjemanden. Hier auf dem Flur. Und das bei all den Kameras. Doch mehr war da nicht an Erinnerung. Weder fiel ihr ein, gegen wen und vor allem warum zum Teufel sie etwas derartiges getan hatte, noch was danach passiert war.

Bei ihr musste mal wieder die Wut durchgegangen sein und anscheinend hatte sie sich nicht im Griff gehabt. Hatte sich überanstrengt. Ja, so musste es sein. Aber wie war sie ins Bett gekommen? Und warum hatte Tamira sie nicht geweckt?

Erneut stieg Wut in ihr auf. Verdrängte die Verwirrung. Wut auf Tamira. Wenn ich die erwische. Lässt mich einfach verschlafen. Wo sie doch genau weiß, was für einen Ärger ich mir dadurch einhandeln könnte.

Ein künstliches elektronisches Klingeln riss sie aus ihren Gedanken, aus ihrer Wut. Sämtliche Türen glitten auf. Anscheinend schellte es zur Pause.

Daher beschloss Nakoma wieder kehrt zu machen und zuerst nach Tamira zu suchen. Sofern diese in den Unterricht gegangen war, würde sie sie jetzt zur Rede stellen.

Sie musste nicht lange suchen.

»Tamira! Was zur Hölle ist gestern passiert? Warum hast du mich nicht geweckt?«, fuhr Nakoma Tamira sogleich an, die Blicke der anderen Schüler ignorierend.

»Nakoma! Nicht hier. Komm«, wisperte Tamira, zog sie zur Seite, weg vom Flur, nach draußen auf den großen Hof, bis zu ihrer Ecke, an der Grenze des Schulgeländes. Diese befand sich nahe an dem hohen, elektrischen Zaun, hinter dem sich ein kleines Wäldchen verbarg, indem sich sämtliche Hundebesitzer trafen. Man hörte sie von hier schon aufgeregt bellen.

»Wie es aussieht sind bei dir die zur erwartenden Nebenwirkungen aufgetreten. Es ist und bleibt ein Fluch«, murmelte Tamira, traute sich gar nicht in ihre Augen zu schauen.

»Du hast mich … verflucht?«, schrie Nakoma.

»Ruhig! Bist du verrückt? Nachher hört uns doch noch wer. Ja, ich hab dich verflucht. Ein harmloser Fluch, der dich in Schlaf versetzt hat. Wie fühlst du dich? Geht es dir nicht besser?«

»Besser? Warum zum Teufel hast du das getan?«

Jetzt schien auch Tamira erregt. Blickte sie mit ihren unheimlichen Augen genau an.

»Du bist vor mir einfach umgekippt, verdammt nochmal! Du wolltest ja nicht, dass ich Hilfe hole, dass ich dich zur Schulkrankenschwester schicke. Und als du wieder zu dir gekommen bist... Du sahst gar nicht gut aus. Was hätte ich denn tun sollen? Mir fiel sonst nichts ein. Weißt du eigentlich, wie viel Ärger du an der Backe hast? Du hast deine Kraft gegen Brown eingesetzt! Und das auch noch mitten auf dem Flur!«

»Brown also. Aber … trotzdem … ein Fluch Tamira?«

Nakoma beruhigte sich allmählich wieder. Vielleicht hatte Tamira ja recht. Vielleicht war es wirklich besser so, denn ja, sie fühlte sich eigentlich ganz gut. Doch da blieb die Tatsache, dass der gestrige Abend fast vollständig aus ihrem Gedächtnis verschwunden schien. Und wer weiß was dieser Fluch sonst noch für Folgen hatte.

»Hm. Ich hab mir Sorgen gemacht, weißt du? Ich wollte nur … helfen. Ich weiß nicht, ob deine Erinnerung an die letzten Stunden wiederkehren wird, aber

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3764-3

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